MikrokrediteAlle sind Unternehmer

Mikrokredite sollen Auswege aus dem Elend ermöglichen. Oder wird damit auf Kosten der Ärmsten Profit gemacht? Die „Philosophie" macht den Unterschied, wie Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus zeigt.

Die Idee, mit kleinsten Krediten Armen den Start in eine bessere Zukunft zu ermöglichen, hat weltweit große Beachtung und viele Nachahmer gefunden - auch hierzulande. Mikrokredite, die der Friedensnobelpreisträger und Wirtschaftsprofessor Muhammad Yunus erstmals in den siebziger Jahren und ab 1983 mit seiner Grameen-Bank in Bangladesch vergab, gelten vielen als der Schlüssel zur Bekämpfung von Armut und Unterentwicklung. Anstelle herkömmlicher zwischenstaatlicher Entwicklungshilfe, die häufig in korrupten Strukturen versickert oder die Armen in Abhängigkeitsverhältnisse zwingt, würden so die Bedürftigen direkt erreicht und in ihrer Würde ernst genommen. Das Vertrauen in ihre unternehmerischen Fähigkeiten und der Glaube daran, dass sie ihr Startkapital mit Zinsen zurückbezahlen, erlösen sie vom Schicksal des mit Almosen abgespeisten, vom Tropf ständig abhängigen Bittstellers. Ganz gleich, in welchem Land des Westens er auftrat, Yunus wurde als Retter verehrt, was ihn selbst einmal dazu verleitete, die Idee der Mikrokredite als „Ende der Armut" zu preisen.

Hart muss da den heute 71-Jährigen die zuletzt vehemente Kritik an der Mikrofinanzbranche getroffen haben. Mehrere Schuldner von Mikrokreditunternehmen hatten sich selbst getötet, und es wurden Meldungen verbreitet über Börsengänge von Instituten, die Kleinstkredite vergeben. Bei vielen entstand der Eindruck, hier werde auf Kosten der Ärmsten Profit gemacht.

Auch persönlich musste Yunus eine Niederlage einstecken. Nachdem seine Absetzung als Chef der Grameen-Bank aus Altersgründen - die offizielle Pensionsgrenze liegt bei sechzig Jahren - gerichtlich bestätigt worden war, trat er im Mai zurück. Es ging jedoch weniger um Yunus' Alter, sondern um eine politische Auseinandersetzung mit der Ministerpräsidentin des Landes, Sheik Hasina, die seinen Einfluss beschränken wollte (vgl. CIG Nr. 13, S. 133).

So unerfüllbar die hochgeschossenen Erwartungen an die Idee von Yunus sind, so einseitig und ungerecht ist die massive Kritik der vergangenen Monate. Es gibt tatsächlich einen zig Milliarden großen Markt für Kleinstkredite, wie allein schon die in der „Frankfurter Allgemeinen" genannte Zahl von weltweit 2000 Mikrofinanzinstituten mit 92 Millionen Kreditnehmern beweist. Dass sich darunter auch „schwarze Schafe" befinden, die vor allem auf das schnelle Geld aus sind, dafür ist das indische Unternehmen „SKS Microfinance" ein gutes Beispiel, wie die „Süddeutsche Zeitung" schreibt. „Der Konzern begann als Nichtregierungsorganisation, ging aber 2010 an die Börse. Das sorgte für Ertragsdruck der Eigentümer. SKS teilte zu viele Kredite aus, vor allem im indischen Bundesststaat Andra Pradesh: Säumige Schuldnerinnen wurden unter Druck gesetzt." Manche töteten sich. „Es gab Berichte, dass Kreditnehmerinnen zur Prostitution gedrängt wurden. Der Begriff Mikrofinanz geriet ins Zwielicht und damit auch der Erfinder des Konzepts."

Investieren und sparen

Der wehrte sich nun bei einem Besuch in der „Frankfurt School of Finance and Management", an der es seit 2008 eine Professur für Finanzwirtschaft in Entwicklungs- und Schwellenländern gibt. „Ich bin nicht für alle Mikrofinanz-Systeme verantwortlich", sagte ein sichtlich getroffener Muhammad Yunus. Es handle sich bei den immer wieder von der Presse herangezogenen Fällen lediglich um einen Bundesstaat und keineswegs um den gesamten Markt von Kleinstkrediten in Indien. Ausländische Investoren seien mit dem Versprechen angelockt worden, hier könne man schnell viel Geld verdienen. Mittlerweile habe die indische Zentralregierung reagiert, und es seien Regeln festgelegt worden, die unter anderem den jährlichen Zinssatz auf 24 Prozent begrenzen.

Yunus wies im Gespräch mit Journalisten und in seinem Vortrag vor Vertretern aus Finanz- und Sozialwirtschaft sowie Studierenden darauf hin, dass es sich nicht schon um seine Idee handelt, wenn ein paar Dollar an arme Menschen verliehen werden. Wenn etwa in Moskau unter dem Begriff Mikrokredit den Menschen 2000 Prozent Zinsen pro Jahr abgepresst würden, wie ihm dort bei einem Besuch berichtet wurde, dann nenne er das Wucher.

Das Grundproblem ist die Stilisierung von Yunus zum „Erfinder der Mikrokredite". Kleine Kredite wurden und werden schon immer vergeben - auch an Arme. Muhammad Yunus hat jedoch ein System und eine „Philosophie" für eine Bank für Arme entwickelt, die sich selbst trägt, bezahlbare Zinssätze anbietet und eine hohe Rückzahlungsrate erreicht. Die Grameen-Bank gehört mit ihren 26 000 über ganz Bangladesch verteilten Filialen zu 97 Prozent den Kreditnehmern selbst, betont Yunus. Das Geschäft beschränkt sich keineswegs auf die Vergabe von Krediten. Die Menschen werden beispielsweise angehalten, parallel zum Kredit kleinste Cent-Beträge zu sparen. Mittlerweile seien zwei Drittel der verliehenen Kredite Spareinlagen der Armen selbst. Angesichts von acht bis zwölf Prozent Zinsen, welche die Kleinstsparer erhalten, relativiert sich auch der für hiesige Verhältnisse recht hohe Zinssatz von zwanzig Prozent für die Mikrokredite. Gesetzlich sind in Bangladesch 26 Prozent erlaubt. Für die Ausbildung ihrer Kinder zahlen die Geldleiher zudem nur fünf Prozent und für die Finanzierung ihres Hauses acht Prozent. Zinsfrei können sich Bettler Geld leihen, wenn sie an der Haustür nicht mehr nach Geld-, sondern nach Sachspenden fragen, die sie dann weiterverkaufen können. 20 000 Bettler hätten mittlerweile ihr „altes Kerngeschäft" aufgegeben und würden nur noch Sachen oder auch Dienstleistungen anbieten, berichtet Yunus.

Global denken, lokal handeln

Das Ziel sozialen Wirtschaftens darf es nicht bloß sein, Gewinne zu erzielen, sondern es geht darum, Probleme zu lösen, das Leben der Menschen zu ändern. Im Gespräch mit dem Präsidenten der „Frankfurt School", Udo Steffens, wird sehr schnell deutlich, dass sich die Zielsetzung von Yunus auch von der seiner Förderer und Bewunderer in Wirtschafts- und Finanzkreisen hierzulande deutlich unterscheidet. Yunus lehnt es zwar nicht ab, dass Investoren angesichts der Turbulenzen an den westlichen Finanzmärkten auch mit der Möglichkeit liebäugeln, ihr Geld als Mikrokredite für Arme zu vergeben. Aber die Profite müssten sich in engen Grenzen bewegen. Ein Zinssatz, mit dem sich die Kosten decken und zusätzlich zehn Prozent Gewinn machen lassen, bewege sich noch in der grünen Zone.

Yunus denkt zwar global, und der Aufbau von Filialen seiner Grameen-Bank weltweit zeigt, dass er seine Art der Vergabe von Kleinkrediten für weltweit einsetzbar hält, er handelt aber lokal. Auf das Problem von Wechselkursrisiken angesprochen fragt er zurück: „Wollen Sie das allein auf den Schultern der Kreditnehmer abladen?" Das Geld soll grundsätzlich in der heimischen Währung ausgegeben werden, damit die in ärmeren Ländern häufig hohe Inflation, also die Geldentwertung im Vergleich zu Dollar oder Euro, die Rückzahlung nicht zusätzlich verteuert. Auch Kritik an staatlich verordneten Zinsobergrenzen weist Yunus entschieden zurück. Es habe sich gezeigt, dass der Markt es keineswegs selbst regelt. Außerdem können sich die Kräfte des Marktes in dem Rahmen bis 24 oder 26 Prozent ausreichend frei entfalten.

Bank der Frauen

Yunus bietet ein Modell an, dass grundsätzlich in jedem Land funktionieren kann. Seit die Grameen-Bank zu Beginn der Finanzkrise 2008 die erste Filiale in New York mit dem Wissen aus Bangladesch gründete, erhalten auch in den USA in immer mehr Städten Arme die Möglichkeit, mit einer Geschäftsidee neu zu starten. Grundvoraussetzung dafür ist, dass sich die Geldgeber vom derzeit herrschenden, allein auf Profit ausgerichteten globalen Finanzsystem abwenden, das Yunus scharf kritisiert. Es handle sich um einen exklusiven Club für Reiche. 2,7 Milliarden Menschen sind vollständig von jeder Finanzdienstleistung ausgeschlossen. Die Finanzkrise hat aufgedeckt, dass der Mensch nur noch als „Geldverdienmaschine" gesehen wird. Der Weckruf müsse nun genutzt werden, eine neue Zivilisation zu schaffen, in der Arbeitslosigkeit und Armut Fremdwörter seien. „Das bestehende Finanzsystem geht davon aus, dass es Menschen nur ums Geld geht. Doch es geht darum, andere Menschen glücklich zu machen. Glücklich werden, indem wir andere glücklich machen", fasst Yunus seine Sicht eines Finanzsystems zusammen, das den Menschen mit all seinen sozialen und ideellen Facetten wertschätzt.

Dass Muhammad Yunus trotz seiner Systemkritik gerade bei marktwirtschaftlich orientierten Menschen so viel Anklang findet, liegt daran, dass er sich grundsätzlich ihrer Methoden bedient. Die beiden Hauptunterschiede: Er hält alle Menschen für kreditwürdig, und sein Ziel ist nicht purer Gewinn, sondern Problemlösung. Spöttisch merkt er an: „Bei jedem neuen Problem haben wir uns angeschaut, wie lösen das konventionelle Banken, und dann das Gegenteil davon gemacht." Entstanden ist eine Bank, deren Standorte meist in Dörfern und ländlichen Regionen und nicht in großen Metropolen sind, deren Mitarbeiter zu den Menschen hingehen und nicht in schicken Filialen auf sie warten und die fast nur armen Frauen und nicht wenigen reichen Männern gehört.

Verlangt haben die Mitarbeiter der Grameen-Bank, dass alle Kinder der Kreditnehmerinnen zur Schule gehen und alle, die Geld leihen, zur Gesundheitsvorsorge eine Toilette bauen. So profitieren besonders die Söhne und Töchter. Denn dank der Schulbildung erhöht sich ihre Lebensqualität enorm, insbesondere, wenn sie noch ein Studium anschließen. Die Kinder können sich entfalten, ihre Talente nutzen, was ihren Müttern nicht möglich war, weil die Armut sie gefangen hielt.

Arme sind Yunus zufolge Opfer des Systems. Ihnen fehlt der Raum zur Entfaltung. Weil aber in jedem ein Unternehmer stecke, könne er sich aus der Armut befreien, wenn er für seine unternehmerische Idee nur die nötigen finanziellen Mittel erhält. Deshalb brauche es in der zweiten oder dritten Generation auch keine Arbeitslosigkeit zu geben: „Als ein Sohn einer Kreditnehmerin klagte, er könne keinen Job finden, habe ich ihm gesagt, dann schaffe welche." Mit seinem unerschütterlichen Glauben, dass in einem gerechten System mit einem langen Atem sich die gute Idee durchsetzt, hat er eine ganze Reihe selbstständiger Unternehmen und Kooperationen mit großen Konzernen geschaffen, um die drängendsten Probleme armer Menschen in Bangladesch zu lösen. So werden nach Anfangsschwierigkeiten heute pro Tag mehr als tausend Solarmodule verkauft, um Haushalte mit Licht zu versorgen. Ein großes deutsches Chemieunternehmen fertigte zu erschwinglichen Preisen Moskitonetze, und ein Sportartikelhersteller ist dabei, den „Ein-Euro-Turnschuh" in Bangladesch zu verkaufen.

Kredite sollen dienen

So schlüssig das Konzept des Friedensnobelpreisträgers klingt, es bleiben Fragen. Haben die Mikrokredite die Armut in Bangladesch verringert? Es gibt dort tatsächlich weniger Arme. Doch welchen Anteil die Kleinkredite haben, ist ungewiss. Dem Hinweis von Kritikern, dass nicht jeder zum Unternehmer geboren sei, widerspricht Yunus, dass es eben doch so sei. Das steht allerdings im krassen Widerspruch zu seiner Praxis, so gut wie keinem Mann einen Kredit zu geben, also seinen unternehmerischen Fähigkeiten zu vertrauen. Yunus will zwar auf nationaler Ebene Gesetze, die „echte" von „falschen" Mikrokrediten unterscheiden, wendet sich jedoch gegen eine globale Regelung, weil diese von den weltweiten Finanzmärkten abhängt. Wie soll aber dann das von ihm geforderte, am Menschen orientierte Modell das kriselnde Finanzsystem ablösen?

Yunus erinnert an den ursprünglichen Sinn von Krediten und Banken. Geldgeber glauben (lateinisch: credere) an die Idee eines Unternehmers, Neues zu schaffen. Auch das Unbehagen von Politikern, der protestierenden „Occupy Wallstreet"-Bewegung und ihrer weltweiten Ableger oder auch der Kommission Justitia et Pax im Vatikan richtet sich vorwiegend dagegen, dass sich der Handel mit Krediten, Währungen, Aktien, Versicherungen oder auch Rohstoffen und Nahrungsmitteln von seinem ursprünglichen Sinn mehr und mehr gelöst hat. In dem Schreiben „Für eine Reform des internationalen Finanz- und Währungssystems im Hinblick auf eine öffentliche Autorität von universaler Kompetenz" spricht sich der päpstliche Rat für Gerechtigkeit und Frieden für eine „Logik der Nachhaltigkeit, des Friedens, der Koordination und des gemeinsamen Wohlstandes" aus.

Dass alle Menschen im Mittelpunkt des Finanzsystems stehen müssen und die Politik die Finanzwirtschaft kontrolliert, darin ähnelt dieser Vorschlag dem von Yunus. Mit der Einrichtung einer globalen Zen­tralbank, der Einführung einer Transaktionssteuer sowie einem weltweiten Krisenfonds bevorzugt der Vatikan jedoch einen anderen - globalen und nicht lokalen - Lösungsweg. Genau diese Debatte über die philosophischen Grundlagen unseres wirtschaftlichen und finanziellen Handelns müssten endlich vorurteilsfrei geführt werden. An der „Philosophie" unterscheidet sich die „echte", dem Menschen dienende Finanzwirtschaft von der „falschen".

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