Religion und SpracheDer Mensch, der Gott liest

Die Erfindung der Schrift hat das Heilige in der Menschheitsgeschichte ganz neu zur Sprache gebracht. Ist dieser Offenbarungsprozess an ein Ende gekommen?

Sprechen ist Denken. Was der Mensch nicht „sprechen“ kann, kann er auch nicht denken. Was er sagt und denkt, was er sich vorzustellen versucht, was er in Bilder projiziert oder in abstrakte mathematisch-physikalische Formeln packt, muss allerdings keineswegs zwingend in der Wirklichkeit „existieren“. Umgekehrt: Was es „gibt“, was über unsere sinnliche oder wissenschaftlich-empirische Erfahrungswelt messbar, wahrnehmbar ist, findet in der verbalen Sprache von Wörtern und Begriffen oder in der nonverbalen Symbolsprache von Formeln oder Modellen seinen Niederschlag. Darüber hinaus gibt es vieles, von dem der Mensch noch nicht weiß, dass es das gibt - wofür er auch noch keine Sprache hat. Die Rätselhaftigkeit lichtet sich mit jedem Erkenntnisfortschritt - und präsentiert zugleich neue Mysterien.

Jedes Neue schlägt sich in Sprache nieder, in Klanglauten, optischen Signalen, Buchstabenfolgen. Das verändert unaufhörlich unser Welt- und Zeitverständnis. Sprache selber wird ständig neu durch Sprechen. Dazu gehört in Schriftkulturen das geschriebene und gelesene Wort.

Was im Internet-Zeitalter nicht in irgendeiner Weise schriftlich in den großen Suchmaschinen auftaucht, hat es schwer, zur Kenntnis genommen zu werden. Was nicht auf Servern in der virtuellen Wolke des Wissens und des Nichtwissens zugleich gespeichert wurde, existiert nicht. Das gilt in gewisser Weise ebenso für die heiligsten Wörter der Religion. Jesus taucht - als Eigenname sprachenübergreifend identisch - in der Google-Suchmaschine recht häufig auf, knapp eine Milliarde Mal. Bei „Gott“ wird es schon schwieriger, weil es für „ihn“ in den unterschiedlichsten Sprachen und Schriften der Welt verschiedene Bezeichnungen beziehungsweise Schreibweisen gibt. In den Buchstaben des lateinischen Alphabets werden für das deutsche Wort „Gott“ rund 140 Millionen Treffer angezeigt. Das englische „God“ bringt es auf ungefähr 1,6 Milliarden, das spanische „Dios“ wie das italienische „Dio“ auf etwa 300 Millionen, das portugiesische, lateinische und sonstige „Deus“ erreicht gut 200 Millionen Einträge. Allah in der Umschrift des lateinischen Alphabets wird etwa 400 Millionen Mal angezeigt. Der „Heilige Geist“ in deutscher Schreibweise ist dagegen schon deutlich schwächer gegenwärtig, mit nur rund 600000 Treffern. Global unschlagbar hingegen behauptet sich das Drei-Buchstabenwort „Sex“ an der Spitze, mit etwa drei Milliarden Suchergebnissen.

Vier-Buchstaben-Reliquie?

Ist Gott in seinen vielen Bezeichnungen an Googles zweiter oder vielleicht nachfolgender Stelle dennoch das, was jeden Menschen unbedingt angeht, obwohl ihn kein Auge jemals gesehen, kein Sinneseindruck jemals erfasst hat? Gott ist jedenfalls schriftlich auf vielfache Weise fixiert, als größte Behauptung, als größte Illusion wie als größte Hoffnung der Menschheitsgeschichte, als bedeutendste Leerformel ebenso wie als berühmteste Lehrformel. Daran arbeiten sich nachdenkliche Glaubende wie aufmerksame Nichtglaubende zeitlebens ab. Wie lange noch?

Die Religionslosigkeit breitet sich rasant aus. Hinter Christentum und Islam wurde sie bereits zur drittstärksten, am dynamischsten wachsenden „Weltreligion“. Soziologen und Theologen beobachten, dass „Gott“ selbst in den nach wie vor stark religiös orientierten Gesellschaften zusehends aus der Alltagssprache verschwindet. Allenfalls noch im Gebet, im Privaten wird er bekannt und anerkannt. Doch nicht nur der Begriff diffundiert, auch das Gottfühlen, die Gottesahnung. Werden das Wort „Gott“ und sein komplexer Bedeutungsgehalt im Lauf der Evolution des menschlichen Gehirns irgendwann vollends ihre Plausibilität verlieren, die lebendige Schriftkultur verlassen, allenfalls noch als Vier-Buchstaben-Reliquie, als historischer Leserest übrigbleiben?

Dabei hat „Gott“ als Offenbarung, Erfahrung und Vorstellung einmal die Sprach-, Symbol- und Denkentwicklung der Menschheit nachhaltig geprägt und beschleunigt, nicht zuletzt beim revolutionären Sprung in die Schriftkultur mit ihrer besonderen Fähigkeit zur Abstraktion. Ohne „Gott“ wäre der Mensch auch rein säkular nicht, was er geworden ist: ein erzählendes, sich erinnerndes, ins Undenkbare denkerisch ausgreifendes, sich und sein Denken nochmals kritisch denkerisch umgreifendes, grenzüberschreitendes, schließlich schreib- und lesefähiges Wesen - das einzige, das es womöglich im gesamten Universum gibt. Der Homo sapiens sapiens, der sich mit Weisheit nochmals übertreffende weise Mensch - woher hat er das? Und wo endet das, wenn er inzwischen sogar das bewusst lesen, dechiffrieren und kopieren kann, was sein Organismus rein physiologisch seit jeher unbewusst abliest: die „Buchstabenfolge“ des Erbcodes? Denken, Sprechen, Lesen und Schreiben verändern nicht nur die zwischenmenschliche Kommunikation und das Bewusstsein, sondern die gesamte Seinswahrnehmung, nicht zuletzt die Wahrnehmung dessen, was nicht auf übliche Weise „ist“: des Ganz-Anderen, Gottes.

Was ist dieses JHWH?

Im Anfang war das Wort - bei Gott. Gott selbst war das Wort. Paradox und abstrakt hat bereits der Verfasser des Johannesevangeliums sprachlich das Unanschauliche zu konkretisieren versucht: wie der Mensch zu Gott kam und Gott zu den Menschen kam. Der Philosoph, Kulturwissenschaftler und Germanist Eckhard Nordhofen sieht insbesondere in den paradoxen Offenbarungserzählungen der Bibel, die durch die Erfindung der Schrift schließlich zur heiligen Schrift wurde, diese unvergleichliche Andersheit Gottes formuliert. In einer gewissen Entsprechung zum physikalischen Begriff der Singularität, womit die unanschauliche, auch mathematisch nicht zu beschreibende, „vor“ Raum und Zeit „bestehende“ Nullsituation „vor“ dem „Urknall“ gemeint ist, spricht Nordhofen von der Singularität Gottes. Diese mündet ebenfalls in einen „Urknall“, etwa bei der Offenbarung an Mose im brennenden Dornbusch, der paradoxerweise nicht verbrennt. In einem Beitrag über die Bedeutung der Schrift für die Herausbildung des Ein-Gott-Glauben (im Buch „Poesie der Theologie“, herausgegeben unter anderem von Gregor Maria Hoff, Tyrolia, 2012) verweist Nordhofen darauf, dass „eine grundlegend andersartige Wirklichkeit ausgerufen werden“ soll. „Der, der von sich sagt: ‚Ich bin der Ich bin da‘ ist kein Ding in der Welt. Er ist vielmehr ihr Schöpfer. Der ‚ganz Andere‘ ist, bevor er in die dem Menschen bekannte Wirklichkeit eintritt, ihr großes Gegenüber.“

Die Grenzen der Sprache, der Begrifflichkeit angesichts des Göttlichen werden sofort sichtbar. Jedes Wort, das man da zu sagen versucht, ist uneigentlich, nicht treffend, weder formal umfassend noch inhaltlich erfassend. Das mit der Mose-Offenbarung verbundene, mysteriöse hebräische Vier-Konsonanten-Wort JHWH ist im Lauf der Geschichte auf unterschiedlichste Weise in Sprechversuche übersetzt worden, ohne dass sein Sinngehalt richtig übersetzt, gültig erfasst werden könnte. Wer, was ist dieser, dieses JHWH wirklich? Je nach Auffassung und Vorlieben wurde er/es unter anderem seinsphilosophisch gedeutet als „Ich bin das Sein“ oder „Ich bin der Seiende“. Oder im Sinne einer negativen, antimagischen Theologie eher abwehrend als „Ich bin, der ich bin“ (mit dem Nebenklang: „Das geht dich gar nichts an“). Oder existenzialistisch „Ich bin für dich da“. Oder futuristisch, befreiungstheologisch, politisch: „Ich bin für dich da als der, der ich für dich da sein werde…“

Ortlos verortet

Die absolute Besonderheit „zeigt“ sich bereits in den dürren, abstrakten Buchstaben, die fern jeder Bildhaftigkeit und Anschaulichkeit als bloße Linien ausgeführt sind, gezeichnet in Sand, geritzt auf Stein, geschrieben auf Pergament oder Papier. So dringt die Vorstellungskraft von Gott ins Denken ein, beflügelt es. Die Menschen können über die wenigen Buchstaben miteinander über Gott kommunizieren, bloß durch abstrakte Schrift, ohne Bild, ohne Gott „gesehen“ zu haben - und darüber hinaus völlig ohne persönliche religiöse Erzähler und Vermittler. Es reicht das Wort, das alles sagt und doch nicht alles preisgibt. Nordhofen: „Das geniale Tetragramm JHWH ist eine sprachlogische Singularität und entspricht dadurch exakt dem, was es bezeichnet.“ Dieser Gott hat nicht einen Namen, er wird zum „Namen, der über allen Namen ist“. Es handelt sich um ein einmaliges Wort, um eine „steile Singularität“ außerhalb alles Erfahrungsgemäßen, um einen „ontologischen Sonderfall“, eine seinsmäßige „Wirklichkeit vor aller Wirklichkeit“, die in den Vorstellungen unserer logischen Anschaulichkeit nicht aufgeht.

Dennoch erwarb sich der Mensch im Lauf seiner Evolution, der physiologischen Weiterentwicklung seines Gehirns hin zu immer komplexerem Abstraktionsvermögen, die Fähigkeit, diese Einzigartigkeit und Andersheit Gottes denken, fühlen, ahnen, sie sogar schriftlich in dürre Buchstaben einbetten zu können - und sich darüber mit anderen zu verständigen. Im Verschriftlichungsprozess der Gottesvorstellung ließ sich Gott jenseits mythologischer wie magischer Verdinglichung transzendent „verorten“, zusehends in einer abstrakten Ortlosigkeit. Während in sehr einfachen, „primitiven“ Gottesvorstellungen das Göttliche noch irgendwie auf Erden diesseitig - wenn auch weit entfernt, nicht greifbar - gegenwärtig ist, zum Beispiel unzugänglich wandelnd im paradiesischen Wald, ruhend jenseits des Meeres oder versteckt in den Tiefen von Seen, thronend auf heiligen Bergen (Sinai), lebensspendend oberhalb von Gletschern oder schließlich noch weiter entfernt herrschend im Himmel, kommt es im Tempelweihegebet des Salomo zu einem erstaunlichen Überschlag in eine nochmals abstraktere Abstraktion. Alles allzu menschlich-irdische Denken vom Ort Gottes wird radikal relativiert durch kritisch-paradoxe Formulierungen, die auf die Spitze getrieben sind: „Wohnt denn Gott wirklich auf der Erde? Siehe, selbst der Himmel und die Himmel der Himmel fassen dich nicht, wie viel weniger dieses Haus, das ich gebaut habe.“

Abwesend anwesend

Die abstrakten Buchstaben-Linien JHWH markieren den entscheidenden Umbruch im Monotheismus und zum Monotheismus: Gott wandert vom Bild zum Text, von der Ikone zur Schrift. Dadurch wird Gott unabhängig von mündlichen Erzählern, von einem lehrenden und belehrenden unmittelbaren personalen Gegenüber. Über Buchstaben tritt „Gott“ abstrakt und konkret zugleich dem einzelnen Schriftkundigen vor das Angesicht: frei zur freien (selbst-)kritischen Aneignung und Deutung, offen für ein sich stets evolutiv formendes, weiterentwickelndes individuelles Glaubensverständnis im gemeinschaftlichen Lese-Diskurs mit anderem Glaubensverständnis. Die Singularität Gottes verbindet sich über den Text mit der Singularität eines jeden Menschen.

Das bringt Nordhofen zur Frage, „ob nicht Gott selbst ein Schriftsteller sei“. Genauer: „Schreibt Gott?“ Womöglich noch mehr: Liest Gott auch? Ist er ein Lesender ebenfalls des unaufhörlichen materiellen wie geistigen Werdeprozesses der Schöpfung, die viel mehr noch Zukunft als Vergangenheit ist und die eine unaufhörliche Evolution des Glaubensverständnisses einschließt? Auch das Gottesbild wandelt sich ja mit dem Schriftbild, mit der aufklärerischen, entmythologisierenden Dynamik des Geschriebenen, das eine unausschöpfliche Inhaltsfülle inmitten des Leerraums von Buchstaben potenziell bereithält.

Eckhard Nordhofen sieht in dieser Fähigkeit die echte Sonderstellung des Menschen im Kosmos begründet. Auch Tiere haben ihre Sprache. Aber einzig der Homo sapiens sapiens, der weise weise Mensch, kann „mithilfe seiner Wörter über etwas sprechen, was weder hier noch jetzt präsent ist… Mehr noch, er kann nur durch Sprechen diese Simultaneität von Abwesend-Anwesendem auch in den Köpfen seiner Mitmenschen erzeugen.“ Dieses Lebewesen, „das mit Zeichen umgeht“, kann darüber hinaus „die Arbeit an der Darstellung auch einmal von der Zunge auf die Hand überspringen lassen… Inzwischen ist es also möglich, Sprache eins zu eins durch Buchstaben festzubannen, sie der Zeit zu entziehen und sie gleichsam auf Dauer zu stellen.“ Ohne die Verschriftlichung hätte es, wie Nordhofen vermutet, nicht zum „monotheistischen Qualitätssprung in der Religionsgeschichte“ kommen können. Die Wende zum Schriftlichen, der „scriptural turn“, gab den Ausschlag. Das Medium Schrift war in der Lage, „Abwesendes auf neuartige Weise präsent zu machen“, kritisch, aufklärerisch, bildend. Die Schrift war „wie geschaffen“ für die Andersartigkeit des abwesend-anwesenden Gottes.

Mit der Verschriftlichung steigerte sich die biblische Aufklärung. Sie entlarvte die Vielheit der Götterbilder nun als Götzenbilder. Die Schrift wurde zum korrigierenden Begleiter des vermeintlich eindeutigen, magischer Manipulation ausgesetzten Bildes. Sie wurde zum neuen Gottesmedium, gegen die Versuchung, Gott zum menschlichen Ebenbild nach eigenen Bedürfnissen zu machen. „Der Medienwechsel vom Kultbild zur Schrift verhindert die Verwechslung des Mediums mit dem, wofür es steht. Die aufklärerische Einsicht, dass ein selbstgemachter Gott so wenig ein wirkliches Gegenüber sein kann wie ein Placebo ein wirkstoffhaltiges Medikament, besiegelt das Ende des anthropomorphen Polytheismus“, also einer Vielgötterei, die für jedes Bedürfnis eine eigene Gottheit schafft. „Der Text wird zum Ort Gottes, er wird heilig.“

Die Macht des Digitalen

Was aber wird aus dem Text und aus Gott in einer Zeit, die als „iconic turn“, als Hinwendung zum Bild gekennzeichnet ist? Was bedeutet es, dass wir kulturübergreifend in beschleunigten Bildwelten leben? Das über Internet, Facebook und weitere elektronische Netzwerke eingespeiste Bild eines von Ordnungskräften im Gesicht schwer verletzten Mannes, der gegen das Stuttgarter Bahnhofsprojekt protestiert hatte, konnte in Sekunden einen emotionalen Aufstand der Solidarisierung ohnegleichen mobilisieren. Dauernd strömen unaufgeklärte Bildmengen inflationär auf uns ein von Kriegen, Unfällen, Katastrophen, Sensationen, Absonderlichkeiten oder letzten Weisheiten. „Bürgerreporter“ ersetzen seriösen Journalismus. Was sich da als „Wahrheit“ im digitalen Takt optisch über die ganze Welt ausbreitet, hat erhebliche propagandistische, manipulative Macht. Vom weitaus langsameren rational analysierenden, schriftlichen Wort kann sie kaum noch begleitet, geschweige denn korrigiert werden. Stolpern die modernen Gesellschaften von Facebook, Google und Co. in voraufklärerische Aberglaubenswelten zurück, säkular wie pseudoreligiös?

Der mediale Prozess der Menschwerdung ist nicht abgeschlossen. Genauso unabgeschlossen ist der medial inspirierte Prozess der religiösen Frage, der Offenbarung, letztlich der „Gottwerdung“ Gottes selbst. Seine Singularität bleibt ebenso mysteriös wie die Singularität jedes Menschen, ja des Universums. Woher und warum das alles - und warum und wozu Gott? Das Medium Sprache, organisiert und unaufhörlich weiterentwickelt über das Medium des sich stets verändernden Gehirns, schickt die Menschheit weiter auf einen zukunftsoffenen Weg - hoffentlich mit Gott.

Anzeige: In der Tiefe der Wüste. Perspektiven für Gottes Volk heute. Von Michael Gerber

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