Naher OstenWie wird Friede in Nahost?

Bürgerkriege und Gewaltexzesse mehren sich infolge der Arabellion, obwohl sie doch Demokratie bringen sollte. Der internationalen Diplomatie gelang es bisher nicht, die Konflikte zu besänftigen. Was könnte helfen?

Am Austausch meiner Hochschule mit der Universität Bethlehem nahm ein israelisch-palästinensischer Student namens Rafik teil. Er wurde in Haifa geboren, besitzt einen israelischen Pass und wohnt in Ostjerusalem. Rafik studiert in Bethlehem, und er will nach dem Examen in Österreich ein arabisches Speiselokal eröffnen. Auf meine Frage, ob er sich als Israeli, als Palästinenser oder bald als Österreicher verstehe, antwortete er lapidar: „I hate politics“ („Ich hasse politische Ansichten“). Politik, im Sinne des Handelns von Gemeinschaften, die sich über allgemeine kulturelle, ethnische, nationale, politische oder sonstige „Identitäten“ aufbauen, genießt bei arabischen Jugendlichen keinen hohen Stellenwert. Zu offenkundig ist die Ohnmacht der Politiker gegenüber ihrem Hauptproblem: Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, faktische gesellschaftliche Ausgrenzung.

Rafik ist Christ. Ein anderer unserer früheren Studenten, Abdallah, ist Muslim. Als Palästinenser arbeitet er in Jerusalem beim „Nahöstlichen Institut für Bildung und Technologie“ („Middle Eastern Institute for Education and Technology“), das für hochbegabte Schüler sowohl des Westjordanlands als auch Israels Informatikkurse anbietet. Über Politik und Religion wird, wie bei einem Besuch festzustellen war, grundsätzlich nicht geredet. Die Schüler hätten Wichtigeres zu tun, als sich in hoffnungslose Konflikte zu verstricken.

„Ich“ statt „Wir“

Der revolutionäre Gestus dieser Generation besteht darin, „Ich“ zu sagen in einer Welt, die vor allem mehrere verfeindete „Wir“ kennt. Sie haben keine politische Tagesordnung, sondern wollen einzig das Recht wahrnehmen, ein individuelles Leben zu führen. Arabische Jugendliche mögen die säkularisierte Kultur des Westens noch so verachten: Um so mehr schätzen sie die westliche Zivilisation im materiellen und oft auch im strukturellen Sinn. Das bedeutet allerdings keine Spaltung im Bewusstsein des Einzelnen, sondern stimmt überein mit den vielfältigen Lebensformen, Lebensinhalten und Querverbindungen der Moderne. Man muss unsere Kultur und Politik nicht mögen, um westliche Wissenschaft und Technik zu schätzen. Der Westen ist aus der Sicht der jungen Leute kein in sich abgeschlossenes System, sondern besteht aus einer breit gefächerten Fülle vieler Kulturen.

Die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen wird im Nahen Osten und in Nordafrika bis 2020 auf hundert Millionen anwachsen. Von den achtzig Millionen Ägyptern ist heute bereits jeder Zweite jünger als 25 Jahre. Für jeden Arbeitsplatz gibt es dort fünf Bewerber. Der Bedarf der arbeitslosen jungen Araber an kollektiven „Visionen“, seien sie politischer oder religiöser Art, ist gedeckt. Sie fordern stattdessen das Recht auf eine eigene Zukunft. Sie wollen sich die Welt selbst zu eigen machen können. Dieser Individualismus unterscheidet sich von den alten säkularen Kräften des arabischen Sozialismus oder Nationalismus.

Die Zeit der politischen Teilnahmslosigkeit der meisten Jugendlichen geht ihrem Ende entgegen, indem sie soziale Netzwerke über Internet und Mobiltelefone nutzen. Noch bildet diese junge Generation nicht die Mehrheit, aber bald, wie die Bevölkerungsentwicklung belegt.

Demokratierhetorik

Der Entwicklung hin zu einer Zivilisierung der nahöstlichen, arabischen, nordafrikanischen Kulturen stehen schwere Hindernisse entgegen: zunächst der Islamismus, der die Entfaltungsmöglichkeit von Religion und Politik - und damit eine moderne Gesellschaft - schon im Ansatz unterbindet; außerdem eine westliche Demokratisierungsrhetorik, die bei aller Begeisterung für freie Wahlen übersieht, dass der Islamismus mit individuellen Freiheitsrechten nicht vereinbar ist. Es gehört zur Tragik zahlreicher Versuche westlicher Einflussnahmen auf die Regierungen in Nahost und im arabischen Raum, dass gerade bei freien Wahlen regelmäßig radikale Muslime an die Macht kamen. Damit entstanden allenfalls „engherzige“ Demokratien, in denen die Mehrheit die Minderheiten bedrängt, unterdrückt, entmündigt, ja terrorisiert, wie es in Ägypten zum Beispiel die Muslimbrüder und Salafisten mit den Kopten machen.

Zuletzt zeichnete sich eine gewisse Zurückhaltung des Westens ab. Allerdings nur begrenzt. So marschierten amerikanische und europäische Truppen zwar nicht in Syrien ein, wie es in Afghanistan und im Irak der Fall war, aber die demokratischen Staaten unterstützen mit Geld und Waffenlieferungen indirekt die fanatischen Muslime, und niemand weiß bei Redaktionsschluss, welche Allianzen auf andere Art Assad militärisch die Grenzen aufzeigen werden. Amerika und die Europäische Union eilten den demokratisch gewählten Muslimbrüdern und Salafisten in Ägypten nicht nur verbal zu Hilfe. Dabei verhedderte man sich allerdings zwischen westlichen Demokratie-Ansprüchen und dem Kampf gegen den fanatischen Islam. So geriet der Westen in Gefahr, politisch im Nahen Osten nicht mehr ernst genommen zu werden.

In westlich-liberalen Demokratien sind Mehrheitsherrschaft und Minderheitenschutz zwei Seiten einer Medaille. Dagegen haben die vielen Anfangsversuche von Demokratie in Nahost und Nordafrika Regime und Systeme ohne Minderheitenschutz, ohne Religions- und Meinungsfreiheit hervorgebracht, vielmehr Mehrheitsherrschaften, die eine neue Form von Unterdrückung darstellen. Sie sind illiberal, lehnen individuelle Freiheiten weitgehend ab oder misstrauen ihnen. Der Sinn der Demokratie aber liegt in der Freiheit. Wenn freie Wahlen die Freiheit des Einzelnen einschränken, hat der Westen keinen Grund, den jeweiligen daraus hervorgegangenen Machthabern beizuspringen.

Säkulare Kräfte Ägyptens, darunter protestierende Jugendliche vom Tahrir-Platz, koptische und andere Christen sowie das mächtige Militär, haben die Muslimbrüder aus der Regierung gejagt, weil diese sowohl eine gewaltenteilige Verfassung als auch freiheitliche Lebensformen verhindern wollten. Diese große Koalition ist allein vom Willen zusammengehalten, nicht Opfer des Kulturalismus zu werden, also der kollektiven Vorherrschaft einzig des Islam, der alle Nichtmuslime oder Nichtglaubende zu „Ungläubigen“, „Schutzbefohlenen“ und damit gesellschaftlichen Außenseitern macht ohne Recht auf gleichberechtigte soziale, politische, ökonomische Teilhabe.

Angesichts der momentan zu beobachtenden bürgerkriegsträchtigen Gleichzeitigkeit von Islamisierung und Säkularisierung in Ägypten und arabischen Nachbarstaaten braucht der Westen eine Doppelstrategie. Um einer Überdehnung seiner Kräfte und einer ausweglosen Verstrickung in die innerarabischen Konflikte zu entgehen, sollte er sich politisch und kulturell zurücknehmen. Dies würde ergänzt durch umso engere Zusammenarbeit in Wissenschaft, Technik und Wirtschaft. Das westliche Engagement wirkt dadurch auf Muslime weniger imperialistisch provozierend, bevormundend und ist gleichzeitig nachhaltiger. Es besteht die Hoffnung, dass diese andere Art der - materiellen - Unterstützung durch Kooperation auch allmählich die geistigen Bereiche, die Lebenswirklichkeiten positiv beeinflusst und verändert.

Lieber Arbeitsplatz als Staat

Da der lang anhaltende Konflikt zwischen Israel und Palästina bisher weder politisch noch kulturell lösbar war, sollte er auf eine weltliche Stufe gehoben werden - ohne Berücksichtigung der religiösen Verhältnisse und kulturellen Dissonanzen. Auch die oft geforderte „Zweistaatenlösung“ ist unrealistisch. Im Grunde wünschen sich auch viele Palästinenser diese nicht. Wegen der Todfeindschaft zwischen der säkularen Partei der von Yassir Arafat gegründeten Fatah und der radikalislamischen Hamas im Gaza-Streifen, die in Europa als „Terrororganisation“ eingestuft wird, wäre theoretisch eine „Dreistaatenlösung“ erforderlich. Völlig absurd! Viele gebildete säkulare Palästinenser wissen, dass sie unter einer israelischen Hoheit über die Region besser fahren als mit einer Hamas-Regierung und einem drohenden inneren Bürgerkrieg sowie der ewigen Korruption der palästinensischen Regime. Nicht wenige Araber, die in Israel leben und arbeiten, wissen zu schätzen, was sie dort als zumindest bescheidenen „Wohlstand“ und Sicherheit haben. An ideologischen Kollektivträumen der alten Männer von gestern haben diese aufgeklärten gebildeten Araber keinerlei Interesse mehr.

Angesichts der zerfallenden Staatenwelt im Nahen und Mittleren Osten bringt der aufgeheizte alte Nationalismus der Palästinenser auch nichts mehr. Die durch korrupte, teils islamistische Regime gelenkten, in jedem Fall ethnisch und konfessionell zerrissenen Staaten sind selbst zum Problem geworden. Die arbeitslosen palästinensischen Jugendlichen brauchen weniger einen eigenen Staat als einen eigenen Arbeitsplatz. Dies setzt aber eine geordnete Zivilgesellschaft voraus. Der Nationalstaat darf kein Selbstzweck sein, er kann allenfalls als Hilfsmittel dienen.

Den Palästinensern in den „autonomen“ Gebieten wird nichts anderes übrig bleiben, als zu versuchen, wie die mehr als 1,2 Millionen israelischen Palästinenser von den zivilisatorischen Stärken Israels zu profitieren. Ihre - noch zu - billige Arbeitskraft wird derzeit einzig in Israel gebraucht, in keinem arabischen Staat. Das ist bitter, aber es ist die Realität. Andererseits brauchen die Israelis auch wegen der wachsenden Zahl von arbeitsunwilligen ultraorthodoxen Juden dringend die palästinensischen Arbeitskräfte.

Die politische Vernunft ist stets eine schwache Kraft, um Reformen - also Frieden, etwas Wohlstand, Sicherheit und mehr Gerechtigkeit - auf den Weg zu bringen. Eine starke Kraft sind dagegen technische und wissenschaftliche Neuerungen, die allerdings allen Seiten zugutekommen müssen. Die Wasserknappheit im Nahen Osten wird nicht vom Jordan-Rinnsal behoben, egal, wem es gehört. Die Lösung des Wasserproblems über die nationalen und kulturellen Grenzen hinaus liegt im Zugang zum Wissen, wie man Meerwasser entsalzt, ganz gleich, wem dieses Wasser „gehört“.

Auch weltweit werden die politischen Karten durch neue Technologien neu gemischt, etwa dann, wenn sich die USA durch das ökologisch umstrittene „Fracking“ zum Gewinnen von Gas- und Ölvorräten von Importen aus dem Nahen und Mittleren Osten unabhängig machen. Zugleich müssen die westlichen Truppen aus der islamischen Welt abziehen. Das könnte Prozesse zur Zivilisierung durchaus begünstigen.

Eine Ordnung ganz ohne religiöse Bezüge ist im Orient weder möglich noch wünschenswert, übrigens auch im Okzident nicht. Die notwendige friedliche, kooperative strukturelle Ergänzung von Religion und Politik kann allerdings nur ein säkularer Staat gewährleisten. Er führt die beiden Welten getrennt und doch vermischt zusammen. Das christlich-aufklärerische Modell des Westens könnte dafür durchaus auch im arabisch-islamischen Raum auf längere Sicht anregend wirken, wenn kein Anlass mehr für Vorbehalte gegen einen westlichen „Imperialismus“ gegeben wird. Die säkular gesonnenen Christen des Orients demonstrieren den anderen Religionen bereits, wie man mit weltlichen Mächten in Frieden zusammenlebt, indem man gemeinsame Ziele teilt und den jeweils anderen nicht von vornherein ausschließt.

Papst Benedikt XVI. sprach sich bei seiner Libanonreise 2012 gegen die negative Form der radikalen Trennung von Staat und Religion aus. Eine „gesunde Laizität“ dagegen bedeutet, den Glauben von der Last der Politik zu befreien und die Politik durch die Beiträge des Glaubens zu bereichern. Dabei sind Abstand, klare Unterscheidung und die unentbehrliche Zusammenarbeit fürs Gemeinwohl zu wahren. Schwierig ist auch die Aufteilung der Macht nach religiösen Zugehörigkeiten, wie etwa im Libanon. Dieses Beispiel zeigt, dass solche Machtaufteilung allzu leicht in Bürgerkriege umschlagen kann. Deshalb gibt es zu säkularen Strukturen keine Alternative.

Der religiös motivierte Kulturkampf zwischen Muslimen und Juden im Heiligen Land lässt sich nicht durch interreligiöse Diskurse, sondern einzig durch eine weltliche politische Besinnung überwinden. Möglicherweise kann der christlich inspirierte Geist des sozialen Universalismus, dass alle Menschen gleiche Würde haben, da doch auf säkular-humanistische Weise belebt und fruchtbar gemacht werden.

Die Christen des Nahen Ostens verfügen über zahlreiche soziale Institutionen und hervorragende Bildungsstätten, von den Berufsschulen der Don Bosco-Salesianer bis zur Katholischen Universität Bethlehem, an der mehr als zwei Drittel Muslime studieren. Obwohl die Christen durch die Islamisierung unter Druck geraten sind, könnten sie im arabischen Raum als Vorbilder wirken.

Die Kulturen des Ein-Gott-Glaubens haben nicht nur die Aufgabe, ihre Eigenwertigkeit zu bewahren. Sie sollten die Menschen auch befähigen und motivieren, zur Zivilisierung der Welt beizutragen. Die heutige Zeit verlangt Pluralität, nicht Uniformität, Individualität, nicht Kollektivität. Wenn kollektive ethnische oder religiöse „Identitäten“ im Vordergrund stehen, bedeutet dies endlose Gewalt. Wenn hingegen Wissenschaft, Technik und individuelle Entwicklungschancen begünstigt werden, erwachsen daraus Chancen, dass sich auch zwischen den verschiedenen Kulturen und Nationen heilsame Kräfte entwickeln können.

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