"Vorhof der Völker"Auf der Bühne des großen Vielleicht

Kirche hält sich derzeit als Dauer-Unterhaltungsthema unter Christen wie in den Medien. Weitaus spannender jedoch ist, wie es mit dem Glauben weitergeht. Ein Besuch im "Vorhof der Völker", diesmal in Berlin.

Nur für drei Minuten traf Beate Zschäpe vor Gericht auf ihre Mutter. Diese sollte über ihre Tochter, eine mutmaßliche rechtsextremistische Terroristin und Mörderin des „Nationalsozialistischen Untergrunds“, aussagen, schwieg jedoch. Was treibt eine junge Frau in derart abgrundtiefen Hass und Gewalt? Die Richter suchen Aufschluss - und mit ihnen die Journalisten. Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb: „Beate Zschäpe war eines dieser Kinder. Die Mutter aus der Bahn geworfen in der Wende, alkoholkrank, unfähig aufzustehen und für sich und die Tochter zu sorgen … Bei ihrer Mutter fand Beate Zschäpe keinen Halt. Sie spielte … nur eine ‚nebensächliche Rolle‘ … Die Mutter hatte ein unstetes Leben, schlug verschiedene Berufswege ein, wechselte die Männer und den Familiennnamen …“

Seelische Verwahrlosung, emotionale Vernachlässigung, fehlende Sinnstiftung - das ist die brisante Mischung, die junge Leute in schlimmste zerstörerische wie selbstzerstörerische Aggressionen treiben kann, wenn nicht innere Widerstandskraft von woanders her zuwächst. „Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt“, vermutete Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Die grausamen Weltgeschichten, insbesondere die atheistischen Groß-Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, geben ihm allzu oft recht. Dennoch ist der Berliner Philosoph Herbert Schnädelbach davon überzeugt, dass es sich bei der Aussage des russischen Dichters um einen der dümmsten und absurdesten Sprüche handle, die es überhaupt gibt. Bei einem Forum des Vatikans, der Katholischen Akademie und der Bischofskonferenz zum Dialog zwischen Christen, Agnostikern, Atheisten und Humanisten in Berlin wischte Schnädelbach Dostojewskis Beobachtung fast lakonisch beiseite: „Selbst wenn es Gott nicht geben sollte, darf ich nicht bei Rot über die Ampel gehen, Steuern hinterziehen oder meine Frau schlagen.“ Die Behauptung des Schriftstellers sei „intellektuelle Panikmache“. Denn auch Nichtglaubende handelten sehr wohl moralisch. Weder Gott noch sonstige Letztbegründungen brauche man dafür, dass der Mensch anständig sein und sich vernünftig verhalten muss. Es gebe Sollansprüche, die in rationalen Diskursen ­ermittelt wurden. Das sollte ausreichen. Grundgesetz, Artikel 1 genügt. „Was könnte ein transzendenter Gott hier noch hinzufügen?“ - so Schnädelbach.

Auf dem Podium im „Roten Rathaus“ wagte niemand, ihm zu widersprechen, vielleicht, weil die Erfahrungen mit so mancher Koalition aus Religion und Gewalt so naheliegen - und das nicht erst jetzt, ausgehend vom islamischen Kulturkreis. Vielleicht auch, weil der Respekt vor dem „frommen Atheisten“, wie Schnädelbach sich selber bezeichnet, groß ist. Denn der Gelehrte der Humboldt-Universität ist kein Leichtgewicht wie mancher Salonatheist der modischen Art. Schnädelbachs Wahrheit ist durchwandert, erlitten, durchkämpft, wie er schon an anderer Stelle erläutert hat. Seine existen­ziellen, „religiösen“ Erfahrungen habe er schlichtweg nicht mit dem Gott der Bibel in Verbindung bringen können.

Warum ist gut gut?

Das achtsame, andächtige Zuhören und wirkliche Hören, um verstehen zu können, gehören zur Grundhaltung des „Vorhofs der Völker“. Diesen hatte Benedikt XVI. in Anspielung auf den „Vorhof der Heiden“, einen „multireligiösen“ Begegnungsort im einstigen Jerusalemer Tempel, ins Leben gerufen, um einen aufrechten Austausch zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden, zwischen Nachdenklichen jeglicher Couleur zu fördern. Nach Veranstaltungen in verschiedenen überwiegend europäischen Metropolen machte diese bedeutende, von den Medien hierzulande jedoch kaum beachtete Initiative Station in der bundesdeutschen Hauptstadt.

„Intellektuelle aller Länder vereinigt euch!“ Das scheint eher das Gebot der Stunde und der Vernunft zu sein, statt einen Kulturkampf im Stil von Richard Dawkins’ „Gotteswahn“-Polemik oder der Anti­pro­pa­ganda fundamentalistischer „Gottesfürchtiger“ zu führen. Vor dem Bismarck-Bild im Berliner Rathaus wurde ein Kontrastprogramm fürs 21. Jahrhundert vorgelegt. Der Soziologe Hans Joas stimmte Schnädelbach zu, dass man Gott für die Werte nicht brauche. Vielmehr sei eine Allianz der „Gutwilligen“, genauer: der „Universalisten“ gegen die „Partikularisten“ zu suchen, um zum Beispiel den Menschenrechten Geltung über Kulturgrenzen hinweg zu verschaffen. Dass etwas gut oder böse sei, muss man laut Joas nicht eigens begründen. Starke Evidenzerfahrungen, unmittelbar einsichtige Wahrnehmungen in der Tiefe der Seele und des Bewusstseins lassen auch ohne Jenseitsbindung den Einzelnen erkennen, was richtig und was falsch ist. Dennoch möchte Joas die Bedeutung des Religiösen für den historischen Prozess der Universalisierung des Ethischen nicht zu gering veranschlagen. Dass Menschen motiviert sind, sich moralisch zu verhalten, selbst wenn es ihnen nicht nützt, könne sehr wohl durch intensive Glaubenserfahrungen mitbewegt, mitinspiriert sein. Einen solchen Schub sieht Joas kulturgeschichtlich in der „Achsenzeit“ gegeben, eine Dynamisierung der jüdischen wie dann der christlichen Religion in der Antike, insbesondere durch den Ein-Gott-Glauben. Dass die Vorstellungen vom Guten im Lauf der Menschheitsentwicklung über das eigene Volk und die eigene (Stammes-)Religion hinaus geweitet wurden, könnte doch gewissen Glaubens-, ja Gottesvorstellungen mitzuverdanken sein.

Lasst uns den Menschen machen

Glauben aber ist nicht identisch mit Moral. Niemand glaubt bloß deshalb an Gott, weil es nützlich, sozial günstig, umweltschonend oder gar gesundheitsfördernd ist. Wie kann Gott selber plausibel sein, einsichtig werden? Das liegt auf einer völlig anderen Ebene als die Moral rechtschaffenen Verhaltens. Und selbst für die Moral von heute ­reichen die klassischen naturrechtlichen Argumente der Christentumsgeschich­te nicht mehr aus, wenn es zum Beispiel um Gesundheit und Krankheit, um neue biomedizinische Errungenschaften zur Linderung von Leid und Schmerz geht, schließlich auch um Veränderungen am Menschen und des Menschen.

Die Überzeugungsmacht des Lehramts insbesondere der katholischen Kirche ist da längst in Sackgassen geraten, wie ein Disput im Charité-Klinikum veranschaulichte. „Die Frage, ob die Natur des Menschen an der biologischen Natur festzumachen sei, ist strittig“, erläuterte die Münsteraner Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert und führte gleich noch einen Flanken-Angriff auf allzu große kirchliche Selbstherrlichkeit und Besserwisserei: „Das säkulare Europa hat weniger Gewaltverbrechen zu verzeichnen als das religiös aufgeladene Amerika.“ Woraufhin der Aachener Theologe und Biologe Ulrich Lüke immerhin zu parieren wusste: „Die großen Kriege des letzten Jahrhunderts wurden nicht von Kirchenvätern angezettelt, sondern von Leuten, die es mit der Religion nicht ernst nahmen.“

Geist ist Freiheit

Wo Therapie aufhört und Manipulation, womöglich Menschenzüchtung, beginnt, ist immer schwerer zu beurteilen. Die Grenzen verschwimmen zusehends, je mehr Genetik und Gentechnologie zu leisten imstande sind, bis hin zur pharmakologischen Optimierung des Gehirns und biotechnischen Reparatur neurologischer Prozesse durch IT-Prothesen und implantierte Chips. Wenn Menschen im Alter gewisse Fähigkeiten einbüßen, die sich medizinisch-medikamentös wieder herstellen lassen - ist das eine Heilbehandlung oder ein unmoralischer Eingriff?

Lüke mahnte zur Vorsicht. Er misstraut dem Wissenschaftsbetrieb und seinen Werbestrategen, vor allem dem beliebten beschwichtigenden Argumentationsmuster, dass man doch noch lange nicht so weit sei zu tun, wovor Kritiker warnten. Und auf einmal sei doch möglich, was gestern angeblich noch unmöglich erschien. Lüke befürchtet: „Wir lassen oft die Dinge laufen, bis sie Normalität werden - und dann machen wir sie zur Normativität.“ Notwendig sei eine „kognitive Reifeprüfung“, warum wir gewisse Verfahren grundsätzlich nicht machen, nicht anwenden wollen. Lüke zweifelt allerdings, ob moralische Integrität bei allen Wissenschaftlern, die die Spitze der Forschung bilden, vorauszusetzen sei. „Oder werden wir vor den Karren der Wirtschaft gespannt?“ Denn bei Gesundheit und Krankheit locken Abermilliarden Gewinne.

Ganz so dramatisch möchte der Philosoph Volker Gerhardt von der Humboldt-Universität den Gang der Dinge nicht sehen. Er zitierte aus dem zweiten Korintherbrief: „Der Herr ist Geist, und wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit.“ Der Homo sapiens suche eben stets Alternativen zum bloßen Sosein. Ein entscheidender Kulturschritt in der Frühgeschichte war bereits, die elementare Angst vor der Vernichtungskraft des Feuers zu überwinden und es zu nutzen, schließlich mit Fremden Handel zu treiben und arbeitsteilige Produktionsweisen zu entwickeln, die gegenseitiges Vertrauen und Verständigung voraussetzen. „Die Freiheit ist ein Element des Geistes“, ermutigte Gerhardt. Geist aber bewegt und inspiriert zu Unabhängigkeit auch von der Bestimmung, die uns Natur und Umwelt eingeben. „Wir gehen in eine ungewisse Zukunft.“ Dabei werde zweifellos „viel mehr gemacht werden können, als wir uns jetzt vorstellen“. Aber wenn wir uns unsere Geistigkeit erhalten wollen, müssen wir uns auch die Freiheit zur Innovation erhalten. Wir sollten nicht alles abhängig machen von einer diffusen Angst und Furcht. „Ich bin gegen die Angst, für eine Theologie der Hoffnung.“

Für Volker Gerhardt ist Glauben dementsprechend keine bloß beharrende Macht, sondern eine progressive, dynamische, fortschrittsfreundliche Kraft des Geistes, Energie und Bewegung, die selbstverständlich auch zu Widerstand und Kritik befähigen, das Gewissen bilden. Glauben ersetzt nicht Wissen, aber Glauben ist für Gerhardt auch kein nur geringerwertiges Vorstadium des Wissens, vielmehr: „Wir werden durch das Wissen genötigt zu glauben.“ Daher sei im Glauben „auch die Position der Freiheit“ zu betonen. Glauben macht frei. Für die Freiheit hat uns Christus frei gemacht, heißt es im Galaterbrief. Mehr von dieser weiten Perspektive gegen die Ängstlichkeit wünscht sich Gerhardt auch von den kirchlichen Amtsträgern, gerade in den biomedizinischen Debatten. Das Lehramt dürfe den Einzelnen nicht entmündigen. Das sieht der Molekularmediziner und Pharmakologe Detlev Ganten ähnlich: „Jeder Mensch hat einen anderen Freiheitsbegriff, und jeder Mensch hat einen anderen Glauben.“

Ein Stich ins Häretische

Nicht der starke, sondern der schwache Mensch, nicht der starke, sondern der schwache Glaube leitet die Erkenntnis. Das war die Ur-Einsicht des Christentums mit der Paradoxie einer Erlösung durch einen Messias am Kreuz. Diese Einsicht beflügelt nicht minder die Kunst. Der Intendant des Deutschen Theaters, Ulrich Khuon, wandte sich gegen triumphalistische Haltungen, ob religiös oder antireligiös. Denn der Mensch erlebt sich wesentlich und am dichtesten immer wieder in seiner Begrenztheit, bei Schmerz, Leid, Tod. In diesen offenen Fragen der Existenz seien Theater und Glaube eng miteinander verbunden. „Vielleicht ist unsere Individualität in dieser entzauberten Welt doch nicht befriedigt“, erklärte Khuon. Daher setze man immer wieder „am an sich und an der Welt zweifelnden Menschen“ an. Kunst wie Religion seien stets an dem orientiert, „was Leiden und Leidenschaften mit dem Menschen gemacht haben und machen“. Immer wieder wird man dabei zurückgeworfen auf eine tiefe empathische Erfahrung. „Es ist keine Position der Stärke, aus der die Theaterkunst und die Gottesrede vernehmbar werden.“

Der Intendant des Kölner Schauspiels, Stefan Bachmann, der unter anderem vielbeachtet die biblische Genesis auf die Bühne gebracht hat, plädierte wiederum für mehr Neugierde - gegen die Vernachlässigung von Religion, Glaube, Christentum. Es sei langweilig geworden, die ewig selbe Kirchenkritik von links auf die Bühne zu bringen, „weil das ja schon von den Katholiken inzwischen selber gemacht wird“. Ihn interessiere anderes, wie sich der Glaubende selber versteht: „Ich nehme mir das Recht, zu reisen auf dem Vehikel der Neugierde.“

Der Göttinger Literaturwissenschaftler, Lyriker und Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Heinrich Detering sieht die Kunst als großes Experimentierfeld auch in Sachen Religion. Zu Recht sei da „immer ein Stich ins Häretische dabei, und der muss auch dabei sein“. Auf der Bühne nicht zuletzt der dramatischen Gottesfrage bewirkt dieser Stachel „gegen das Dogma, gegen die etablierte Gewissheit“ Erkenntnis durch Erschütterung, manchmal Reinigung, Läuterung. Sogar in biblische Texte wie das Buch Ijob oder die Psalmen habe dieses Widerborstige, Unangepasste Eingang gefunden. Für Detering stellt die Kunst die letzten Fragen, während man in der Kirche erwarte, Antworten auf diese letzten Fragen zu erhalten, auch wenn sie rätselhaft, unverständlich, widersprüchlich erscheinen und bleiben. Es seien ja wirklich „gefährliche Dinge“, um die es da geht, wenn man nur an den Schrei Jesu am Kreuz denkt. „Man weiß mehr über sich und die Welt“, wenn man aus dem Theater kommt, so Deterings Hoffnung. Und was weiß man, wenn man aus der Kirche kommt?

Der Bildungskardinal

Bei allen Disputen in Berlin war der Präsident des päpstlichen Rats für Kultur, Kardinal Gianfranco Ravasi, anwesend - und ergriff das Wort. Selten erlebt man Kirchenführer derart umfassend gebildet und aufmerksam die Zeichen der Zeit studierend, mit anregenden Statements voller Offenheit und Weite, jenseits dogmatischer Fixierung. Ravasi bezeichnete unter anderem Glauben und Kunst als Schwestern, „weil sie von ihrem Wesen her - wie Paul Klee ähnlich einmal für die Kunst postulierte - ‚nicht das Sichtbare wiedergeben, sondern das Unsichtbare sichtbar machen‘“. Der Kurienkardinal scheute sich nicht, den wegen seiner pornografischen Werke anstößigen Autor Henry Miller zu zitieren, der einmal erklärte, dass die Kunst wie die Religion „nichts lehrt, es sei denn, den Sinn des Lebens zu offenbaren“. Und das sei - so Ravasi - nicht wenig. Die Liturgie habe ja eine dramatische Dimension, wenn auch oft vergessen oder verdrängt. „Sie ist gleichzeitig numen und lumen, das heißt Mysterium, Transzendenz und Heiligkeit, aber auch Licht, Sichtbarkeit, Inszenierung und Ergreifung der Sinne.“ Zugleich bedauerte Ravasi eine regressiv-restaurativ orientierte Dürftigkeit im Glaubensleben, besonders auf liturgischem Gebiet. Man habe „häufig auf die Nachahmung von Regeln, Stilen und Gattungen vergangener Epochen zurückgegriffen, oder man orientierte sich an der Ausübung biederen Handwerks. Oder man passte sich, schlimmer noch, an die Hässlichkeit an, die in städtischen Neubauvierteln und in der aggressiven Bauweise um sich greift: Man baute Kirchen, die sakralen Garagen ähneln, in denen Gott geparkt ist und die Gläubigen in Reih und Glied aufgestellt werden.“

Häufiger wohl müssten die Gläubigen einmal die Seite wechseln, wie es bei einer Abendveranstaltung mit mehreren hundert Jugendlichen im Bode-Museum geschah. Die anwesenden Kardinäle und Bischöfe wurden „ausgelost“, aus der „Perspektive des Nichtglaubens“ einen durch Sprechstücke und allerneueste Musikkompositionen begleiteten Prozessionsweg durch Dunkel und Licht mitzugehen, vorbei an „heidnischen“ wie christlichen Ausstellungsstücken. Diesen Pilgerweg führte der Journalist und leitende Feuilleton-Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“ Jens Bisky an. Die Unterscheidung zwischen Glauben und Unglauben sei ihm entschieden zu einfach, erläuterte er. Was ihn fasziniere, sei die „integrale Gesamtheit“ des Menschlichen, Weltlichen. Und die finde er nicht im Gottesdienst, nicht in der Religion, aber auch nicht im Berliner Alltag, vielmehr: im Museum, in der Kunst. Zugleich bedauerte Bisky eine geistige Verarmung der Öffentlichkeit des Stadtlebens. In Restaurants etwa könne man zwar ein Kind stillen, sich über Börsenkurse oder über Sexpraktiken unterhalten. „Aber ich habe noch nie erlebt, dass da ein Gebet gesprochen wurde.“

Eine ganz andere Berlin-Erfahrung machte die aus Österreich stammende Schauspielerin Sophie Rois. In der Heimat ihrer Kindheit sei das Religiöse mitgelaufen, ohne dass man es sonderlich als solches bemerkte. Erst im säkularen Kontext Berlins wurde ihr das Unbefragte zur großen Frage, das Selbstverständliche zum Nichtselbstverständlichen: „Die Religion, der katholische Glaube hat mich hier eingeholt“, verbunden mit einer weiteren Horizont­erweiterung: Glauben ist etwas anderes als ein Produkt im kulturellen Gemischtwaren-Angebot: „Glauben sucht man sich nicht aus wie einen Yoga-Kurs.“

Wie weit die Dialog-Initiative „Vorhof der Völker“ zum geistigen Disput der Moderne und Nachmoderne beiträgt, wie sehr sie die Glaubensfrage neu zum Schwingen anregen kann, ist beim Stand der Dinge nicht redlich abzuschätzen. Der Berliner Gesprächsversuch spielte sich vornehmlich auf dem - eher leichteren - Feld der Ethik ab, nur andeutungsweise auf dem schwierigeren Feld der Gottesproblematik. Neben Philosophen, Theologen, Soziologen und Ethikern müssten die Human- und Naturwissenschaftler der „härteren“ Disziplinen entschiedener einbezogen werden, Denker wie „Macher“: Evolutionsbiologen, Biomediziner, Neurowissenschaftler, Physiker, Biochemiker, Informatiker und Künstliche-Intelligenz-Experten, nicht zuletzt Psychologen, Psychiater. Denn viel spannender als das rechte Handeln ist das richtige Erkennen inmitten der zahlreichen Paradoxien, Absurditäten und Brüche menschlicher Vorstellungskraft und Logik. Welche Plausibilität gibt es für Sein und Nichts, wenn gar nichts mehr plausibel ist und jedem „Ich hab’s“ ein sofortiges „Ich hab’s nicht“ entgegenspringt? Warum überhaupt die Welt? Und wenn es „Gott“ gibt: warum überhaupt „Gott“?

Damals gab es noch Bonifatius

Im Eingang des Bode-Museums warf eine Leuchtschrift Zeile für Zeile Glauben und Zweifeln auf einen Sockel: „Wenn unter Ihnen / Die sind, die irgendwo / Hingelangen möchten / Sollen sie gehen / Jederzeit. / Was wir brauchen ist / Stille / Aber was die Stille will / ist / daß ich weiterrede / Ich bin hier / und es gibt nichts zu sagen“. Nicht weit vom Bode-Museum, in der Alten Nationalgalerie, ist Adolph Menzels Bild „Kircheninneres“ (1852-1855) ausgestellt, ein barocker Altar, unsichtbar in Schwarz gehüllt, „unfertig“, wie hinter aufsteigendem Rauch verborgen, aus dessen Düsternis schwach winzige Kerzenflammen hervorscheinen. Vor der Kommunionbank stehen und knien Menschen, schemenhaft ins Dunkel gebettet - geradezu ein Antibild zur biblischen Offenbarung Jahwes im leuchtend brennenden Dornbusch, der nicht verbrennt. Vermutlich finden sich viele Zeitgenossen eher in diesem Gemälde des unsichtbaren, unbekannten Gottes wieder als in pathetischen Verkündigungsreden oder Belehrungen mit Katechismuswahrheiten.

Nicht weit davon, im Treppenaufgang des Museums, spiegelt sich eindrücklich die allmählich schwindende Geisteskraft der Kirchen und des Christentums im großen Fries zur Geschichte der Deutschen - angefangen mit Arminius, gefolgt vom entmythologisierenden Apostel der Deutschen, Bonifatius, dann Herrschern wie Karl dem Großen, alles zunächst noch religiös aufgemischt mit Persönlichkeiten wie Bernward von Hildesheim, Otto von Freising, Bernhard von Clairvaux, Elisabeth von Thüringen, wobei sich mit dem Gang der Zeit die großen kirchlichen Gestalten mehr und mehr ausdünnen, bis sie in der Neuzeit ganz verschwinden und allein den Heroen einer sich zusehends vom Kirchlichen emanzipierenden Geisteswelt Platz machen: ob Kant, Humboldt, Lessing, Schiller, Goethe, Fichte, Hegel, Mozart, Beethoven … Wie würde dieser Fries ins Heute fortgeschrieben?

Gegen Ende der Veranstaltung mit Schülern trat ein junger Dichter - Youssef Adlah - auf die „Bühne“, mit einem sogenannten i,Slam, der in der Art des Poetry-Slam Muslimen die Möglichkeit geben will, sich literarisch-experimentell Ausdruck zu verschaffen. Zwischen zwei Skulpturen brachte der junge Mann kulturübergreifend glaubend und zweifelnd zugleich in paradoxe Worte, was Menzel in Farbe zu fassen suchte: das Unfassbare. Zum Schluss: „So stehe ich hier zwischen Tanzender und Engel als ein nichtgläubiger von Gott überzeugter Bengel.“

Auf der Bühne des großen Vielleicht ohne Gott mit Gott gibt es keine Grenzen, erst recht keine verordneten Grenzen des Geistes. Dieser wird rebellisch, aufrührerisch, widerborstig bleiben, auch mitten in der Religion, jedenfalls überall dort, wo es weiter die kritisch Nachdenklichen gibt, ob in Kirche, Wissenschaft oder Kunst. Wie der Berliner Kirchenhistoriker Christoph Markschies vermutet: „Stehen wir nicht eigentlich alle im Vorhof der Völker, um eventuell berührt zu werden vom unbekannten Gott?“

Anzeige: In der Tiefe der Wüste. Perspektiven für Gottes Volk heute. Von Michael Gerber

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