NacktseinSchäm dich!?

Die Schamkultur scheint mehr und mehr durch eine Peinlichkeitskultur abgelöst zu werden. Dafür gibt es Gründe. Doch der Schein trügt.

Männer heulen nicht? Heulende Männer schämen sich jedenfalls nicht mehr. Zumindest nicht Fußballstars, die wie die Brasilianer nach einem glücklichen Elfmeterschießen eine Runde weiterkommen, in die Knie sinken, die Hände zum Himmel recken und vor Rührung drauflosflennen - dann aber nach einer Debakel-Niederlage das große Ziel vor Augen verpassen und erneut ergiebig Tränen vergießen. Diese lügen nicht. Oder manchmal doch?

In den Medien wurde tagelang diskutiert, ob es sich schickt, sich so vor den Augen der Stadionbesucher und vor Milliarden Fernsehzuschauern gehen zu lassen. Wenigstens peinlich sollte es den Top-Millionären schon sein, meinen die einen. Nein?- Gefühle zeigen, das ist „in“, das macht sympathisch, offenbart wahres Menschsein, sagen die anderen. Wo Uwe Seeler nach der Niederlage gegen die Engländer in Wembley 1966 mit hängendem Kopf den Platz verließ, wird heutzutage eher etwas theatralisch die Tragödie auf dem grünen Rasen inszeniert. Schon derart triviale Geschehnisse zeigen, wie sich im Lauf der Zeiten die Ansichten ändern, worüber man sich schämen sollte oder eben nicht schämen muss.

Der Journalist und langjährige Feuilleton-Chef der „Zeit“ Ulrich Greiner schreibt in seinem neuen Buch „Schamverlust - Vom Wandel der Gefühlskultur“ (Rowohlt) über die unter allen Lebewesen einzig dem Menschen mögliche Gefühlsregung: „Wer sich überhaupt nicht zu schämen vermag, ist kein Mensch im vollen Sinn - erst die Fähigkeit zur Scham macht ihn zum moralischen Subjekt.“ Damit sei allerdings noch nicht viel gesagt, denn das Schamempfinden hängt in hohem Maße vom kulturellen Raum und von Prägungen der Religion ab. „Man kann die Geschichte der Menschheit als die Geschichte unterschiedlich verursachter Scham- und Peinlichkeitsempfindungen verstehen, und nichts macht den Ablauf der Zeit anschaulicher als der Wandel jener Übereinkunft hinsichtlich des Gebotenen oder Erlaubten, welche wir Kultur nennen.“

Das „Busenattentat“

In seinen Zeitbeobachtungen zum Phänomen Scham - angereichert durch ein Panorama literarischer Zeugnisse - möchte Greiner einem rein pessimistischen Eindruck allerdings entgegentreten. Beim gegenwärtig zu beobachtenden Schamverlust und manchem Unschuldswahn handle es sich nicht einfach nur um eine sittliche Verfallsgeschichte. Denn selbst jene, die sich allem Anschein nach für ihr Verhalten nicht schämen, können im Innersten ein gewisses Schamgefühl wohl doch nicht ganz ablegen. Greiner nennt als Beispiel das sogenannte „Busenattentat“ von 1969. Im Zuge der Studentenrevolte hatten damals drei junge Frauen an der Frankfurter Universität eine Vorlesung von Theodor W. Adorno gestürmt und den Philosophen mit nackten Brüsten bedrängt. Dieser fühlte sich nicht nur provoziert, sondern tief verletzt und beschämt, und er floh, sich mit einer Aktentasche vor den Blicken der Leute schützend, aus dem Hörsaal. Heute würde ein Professor, dem Gleiches widerfährt, wohl eher belustigt reagieren und amüsierte Reaktionen des Publikums hervorrufen, statt sich selber zu schämen.

Wie sehr sich die Schamkultur in der Breite der Bevölkerung verändert hat, kann man jetzt zur Sommerszeit auch wieder an vielen Stränden und Baggerseen feststellen - und nicht nur dort. Die obszönen Schwulen-Paraden des immerwährenden Christopher-Street-Days gaben soeben erst wieder einen Eindruck vom Wandel. Auch die Aktivistinnen der feministischen Femen-Gruppe sind fast ständig irgendwo mit ihrem Ganzkörpereinsatz unterwegs, um Oben-ohne öffentlich gegen angeblich sexistische oder sonstwie unterdrückerische Frauenbilder zu protestieren. Im Kölner Dom war beim letzten Weihnachtsgottesdienst Josephine Witt auf den Altar gesprungen. Sie entblößte ihren Oberkörper, auf dem geschrieben stand: „Ich bin Gott“. Journalisten und Fotografen, die vorab informiert worden waren, ließen es sich nicht nehmen, als willfährige Vollstrecker des „Events“ diesen für ein breites Publikum zu dokumentieren. Schämte sich die jetzt wegen Störung des Religionsfriedens Angeklagte? Möglicherweise überhaupt nicht. Doch niemand vermag von außen zu beurteilen, was in einem Menschen wirklich vor sich geht. Scham ist wesentlich ein Geschehen im Innersten: Der Mensch tritt seinem Ich, sich selbst gegenüber im Bewusstsein seines Gewissens.

Eine der am „Busenattentat“ gegen Adorno beteiligten Frauen schämte sich doch, wie Greiner berichtet. Die damalige Studentin A erklärte noch 2003 gegenüber einer Journalistin, die sie interviewte, sie wolle auf keinen Fall erkennbar sein, denn sie habe das Bild von Adorno beschmutzt. Und eine Mitstreiterin bekannte, sie habe die Aktion sofort bereut: „Wir fanden uns danach gar nicht so toll?… Wäre ich tot und würde Adorno begegnen, ich würde ihn bitten, dass er mir vergibt.“

Die rebellischen Achtundsechziger wollten den Menschen die Schamgefühle austreiben, denn diese seien Relikte einer repressiven bürgerlichen Gesellschaft. Greiner hingegen stellt fest, dass der Schamverlust nirgendwo und niemals ein Akt der Befreiung war oder ist, sondern stets ein Akt von Unterdrückung und Tyrannei, zu dem gerade totalitäre Ideologien und Regime die Menschen anstiften. Diese erheben stets den revolutionären Anspruch, einen „gläsernen Sozialcharakter herstellen“ zu wollen. Scham aber ist dazu hinderlich. Der Mensch soll gerade in seinen persönlichsten und intimsten Regungen gebrochen, durch gemeinschaftliche Schamlosigkeit dem Kollektiv unterworfen, domestiziert werden. Im Gegensatz zu dem, was man gemeinhin vermutet, setzt die Scham im politischen, gesellschaftlichen Leben geradezu subversive, revoltierende, befreiende, oppositionelle Kräfte gegen den verordneten Mainstream frei, „wenn sich das Subjekt infolge einer tief sitzenden Schamempfindung weigert, bestimmten Befehlen Folge zu leisten“. Wer sich schämt, bekennt Widerstand, Eigensinn, Standhaftigkeit - gegen den Sog des „Alle machen mit!“

Wenn alle mitmachen…

Dennoch funktioniert das Austreiben der natürlichen Scham immer wieder und weiterhin, wo möglichst viele sich beteiligen oder aufgrund von Gruppenzwang zur Anpassung gezwungen werden. Die schamlose sadistische Erniedrigung von Feinden im Krieg, durch Folter und Gefangenschaft ist in allen soldatischen Kollektiven zu beobachten, ob in Afghanistan, im Irak oder jetzt auch in der „zivilisierten“ Ukraine. Selbst in völlig friedlichen Zusammenhängen funktioniert die Um­polung des natürlichen Schamempfindens zur Schamlosigkeit, wenn nur eine gewisse Anzahl von Gleichgesinnten mitmacht oder der Aufforderung zum Mitmachen Folge leistet. Man will ja nicht als „verklemmt“ gelten und abseits stehen. Greiner verweist darauf, dass sogar angesehene Institutionen, „private und auch halbstaatliche Konzerne den Brauch pflegten, verdiente Mitarbeiter durch sexuelle Orgien, die naturgemäß steuerlich abgesetzt wurden, bei Laune zu halten“. Die entsprechenden Exzesse eines Versicherungskonzerns gingen durch die Presse. Und wie es scheint, hat er deshalb keinerlei bedeutenden Kundenverlust erlitten, geschäftlich jedenfalls nicht ernsthaft Schaden genommen.

Wann schämt sich ein Mensch? Wenn viele mit dabei sind, offenbar kaum. Für die großformatigen Foto-Aufnahmen nackter Menschenmassen auf öffentlichen Plätzen vom Fotografen Spencer Tunick haben sich stets Tausende bereitwil­lig ausgezogen. Im engen Getümmel mit Adam- und Evakostüm hatten die Beteiligten keine Skrupel. Haut an Haut leisteten sie den Befehlen der Bildregie Folge. Und wenn Kaufhäuser als Werbeevent ankündigen, dass so und so viele der nackt ins Geschäft strömenden Kundinnen und Kunden besondere Präsente erhalten, finden sich auch da stets hinreichend viele Teilnehmer für den „großen Spaß“. Unter Nacktbadern muss sich heute der Mensch mit Badehose schämen.

Mode Intimrasur

Auch wenn Greiner keine Verfallsgeschichte schreiben wollte, konnte er den gesellschaftlichen Hang zum Exhibitionismus doch nicht ignorieren. Das beginnt schon dort, wo Leute Wildfremden - ob im Zug, im Restaurant oder in der Disco - intimste Geheimnisse ausplaudern ohne Furcht, ihr Gesicht zu verlieren. Die Modewelt lebt geradezu von offenherzigen Offenbarungstrends: „Lehrer, die zum Unterricht in knappen Muscle-Shirts erscheinen. Schülerinnen, deren Dekolleté einstmals selbst auf der Silversterparty aufgefallen wäre, heimkehrende Büroangestellte, die im delikaten Minikleid den Bus besteigen, wären noch vor vier, fünf Dekaden undenkbar gewesen. Heute sind sie keine Seltenheit mehr, jedenfalls in sommerlichen deutschen Großstädten nicht. Wobei einem Besucher New Yorks auffallen kann, dass die in den Bürotürmen arbeitenden Menschen selbst bei größter Sommerhitze dezent bekleidet sind: die Damen mit Kostüm und Strumpfhose, die Herren mit Hemd und Jackett. Mag sein, dass dies mit der Eiseskälte des Air-Conditionings zu tun hat, vielleicht aber auch mit einem Rest puritanischer Scham.“

Die Neigung, sich zu entblößen und sich damit anderen anzupassen, die sich entblößen, vergleicht Greiner mit einem „imaginären Laufsteg“, auf dem man mithalten will. Und so ordnet man sich einem herrschenden Ideal oder Modediktat bereitwillig unter. Ein besonders eklatantes Beispiel ist die - auch durch die Pornoindustrie - in Mode gekommene Intimrasur, die den Blick auf die Genitalien „freigibt“: „Je offensiver Frauen sich zeigen und je kleiner die Bikinis werden, bis hin zu ihrem völligen Verschwinden am Nacktbadestrand, umso mehr wachsen neue Zwänge. Der Körper muss, wie es in Heiratsanzeigen oft heißt, ‚vorzeigbar‘ sein, die Sichtbarkeit der Schamteile verlangt deren ästhetische Bewirtschaftung.“ Greiner zitiert aus dem Buch „Muschiland“ über die einst als ausschließlich intim geltenden Geschlechtsmerkmale: „So lässt sich feststellen, dass die zunehmende Akzeptanz der öffentlichen Präsenz bestimmter weiblicher Körperbereiche eine Enthaarung dieser Bereiche nach sich zieht. Dies gilt für Achseln und Beine genauso wie für den Genitalbereich.“ Der muss - so ergänzt Greiner - „im Extremfall einer kosmetischen Operation unterzogen werden…, um dem Schönheitsstandard Genüge zu tun“. In der Rasur könne man „die symbolische Rückkehr in eine vorpubertäre Kindheit erblicken“, in eine im Intimbereich noch haarfreie Zeit, „in den Stand der Unschuld“. Der Entblößungs- und Intimrasur-Zwang scheint die Menschen zumindest augenblicksweise in archaische Zeiten zurückversetzen zu wollen, womit eine paradiesische Freiheit jedoch noch nicht gewonnen sei.

Der Auftritt von Monica Lierhaus

Dass dennoch die Scham nicht einfach verloren geht, weist Greiner bevorzugt auf Feldern nach, die mit Sexualität oder Nacktheit gar nichts zu tun haben. Er verweist unter anderem auf den Auftritt der Fernseh-Sportmoderatorin Monica Lierhaus bei der Verleihung der Goldenen Kamera nach schweren Komplikationen einer Hirn­operation: Als ihre Wiederkehr ins öffentliche Leben, auf die Bühne angekündigt wurde, sei der Beifall riesig gewesen. Doch er erstarb abrupt, als sie nach vorn trat: „Sie ging wie ein Roboter, mit gespenstisch abgehackten Bewegungen, sie sprach mit einer seltsam leiernden Intonation, und sie wirkte wie die geisterhafte Erscheinung aus einer jenseitigen Welt, gerade noch ins Leben zurückgekehrt. Nach ihren Dankesworten bat sie den Lebensgefährten Rolf Hellgardt zu sich. Sie habe noch etwas auf dem Herzen, sagte sie, und sie würde, wenn sie es könnte, vor ihm auf die Knie gehen: ‚Ich möchte dich fragen, ob du mich heiraten willst.‘ Die Kamera, die unterdessen ins Publikum blickte, zeigte äußerst betroffene Reaktionen, Entgeisterung, Mitleid, peinliches Berührtsein spiegelten sich in den Mienen der Zuschauer. Einige hatten Tränen in den Augen, andere schlugen sich entsetzt die Hände vors Gesicht … Wohl niemals zuvor ist Peinlichkeit derart zu einem kollektiven Medienereignis geworden.“ Der Grund sei wohl, dass sich die Menschen trotz allem ein feines Gespür bewahrt hätten dafür, was ausschließlich das Persönliche angeht und wo die Grenze zum Öffentlichen liegt. Haltung bewahren, Contenance. Das mag altmodisch erscheinen, hat aber nach wie vor Bedeutung: Takt, Stil, Unterscheidung, Diskretion.

Eigenartig ist, dass wir einerseits eine Liberalisierung und Freizügigkeit sondergleichen erleben, andererseits aber neue Reglementierungen. Die Sexualisierung und Pornografisierung des öffentlichen Lebens wird auf anderen Feldern von einem neuen Puritanismus der Körperlichkeit begleitet: „Gesundheit ist die neue Religion des Zeitalters, und wer sich ihrem Diktat verweigert, indem er dem Genuss des Rauchens, Trinkens oder Essens bedenkenlos frönt, macht eine peinliche Figur und sich selber unmöglich.“ Er soll sich schämen. Der Keuschheitsgedanke ist vom Sexuellen ausgewandert in Selbstkasteiung unterschiedlichster Art. Man muss seinen Körper stählen, den Leib in einem exzessiven Fitnesskult asketisch drangsalieren. „Heute steht alles, was schmeckt und Spaß macht, unter Verdacht: das schnelle Auto ebenso wie die Zigarette, der Schweinsbraten ebenso wie das Glas Schnaps. Nichts scheint verwerflicher zu sein als das sorglose Leben. Die Sucht lauert an allen Ecken und Enden. Die Magazine der Krankenkassen, die sich nunmehr Gesundheitskassen nennen, die Apothekerzeitschriften und die Sonntagsblätter sind zum Katechismus des richtigen Lebens geworden. Der Zölibat erntet Hohn und Spott. Aber die Idee, sich einer großen Sache so entschlossen zu widmen, dass daneben kein Raum für Sinnlichkeit und Muße mehr bleibt, hat in anderen Sphären strikte Anhänger gefunden… Obwohl der neue Puritanismus alles, was Leistung ermöglicht und fördert, auf seine Fahnen schreibt und jede Form der Selbstertüchtigung preist, geißelt er zugleich die Spuren körperlicher Arbeit: den Schweiß (man erinnere sich an das Foto der Schweißflecke Angela Merkels unter den Achseln ihres pfirsichfarbenen Kostüms bei Gelegenheit eines Bayreuth-Besuches, das durch die Medien ging); den Geruch, dessen Bekämpfung meterlange Regale in den Drogeriemärkten versprechen; das Verschwitzte und Fettige, den Schmutz überhaupt.“

Wie peinlich!

Greiner bemerkt, dass zahlreiche derartige Beobachtungen eher auf den Übergang von einer Schamkultur, die durchaus mit Schuldbewusstsein zusammenhängt, zu einer Peinlichkeitskultur schließen lassen. Was einst mit Scham besetzt war, dafür schämen sich heute viele nicht mehr. Eher werden neue Peinlichkeitsregeln aufgestellt für etwas, „was gar nicht geht“: „no go“.

Das hänge womöglich mit neuen Unsicherheiten und einer neuen Unübersichtlichkeit des Lebens zusammen, was diffuse Ängste weckt. Greiner beschreibt sie so: „die Angst, dem Markt der Anforderungen nicht gewachsen zu sein, die Angst, ‚sang- und klanglos einfach zu verschwinden, weil wir plötzlich einfach nicht mehr gefallen. Und deshalb schlagartig abrutschen, hinabschlittern, uns an nichts und niemanden mehr halten können‘“, wie die Autorin Nina Pauer in ihrem Buch „Wir haben keine Angst“ bemerkt. Für Greiner zeigt sich dies auch in der Angst vor einer festen Bindung, vor Familie und Verantwortung, obwohl sich doch angeblich alle Kinder wünschen. „Dann die Angst, Position zu beziehen, eine entschiedene Meinung zu äußern, und diese Angst resultiert aus der Hauptangst, peinlich zu sein, weil man für eine gehalten wird, die ‚Latte Macchiati‘ sagt; die auf Facebook postet, was sie zu Mittag gegessen hat; die ihr Handy in einer Babysocke mit Diddl-Maus-Anhänger trägt… Eine probate Methode, solchen Peinlichkeiten zu entgehen, besteht darin, sie zur Tugend zu erklären, also absichtsvoll und auf ironische Weise peinlich zu sein…“

Wer sich zu viel schämt, zieht den Kürzeren. Das ist die vielleicht größte Furcht. Entsprechend hat sich der pädagogische und moralische Kodex der Gesellschaft verändert - und damit das Erziehungsziel. Einst sei es um Unterordnung und Anpassung gegangen. Heute geht es darum, den Heranwachsenden für den Konkurrenzkampf zu stählen. „Die Fähigkeit, sich gut darzustellen, sich gegen andere durchzusetzen und durch forciertes Auftreten Geländegewinne zu erzielen, wird schon früh eingeübt. Man schämt sich nicht, weil man jemandem zu nahe getreten ist; man schämt sich, weil man die Gunst des Augenblicks verpasst hat.“

Adam und Eva in uns

Scham unterscheidet sich für Ulrich Greiner von der bloßen Peinlichkeit wesentlich darin, dass sie mit dem Gewissen in Verbindung steht. „Scham reagiert unabhängig von kollektiven Verbindlichkeiten, sie gründet im individuellen Gewissen. Das Gewissen geht letztlich auf metaphysische, auf religiöse Überzeugungen zurück, und es bildet sich über lange Zeiträume der Erziehung und der Überlieferung. In den neuen Gemeinschaften spielt es nur eine Nebenrolle. Hier ist entscheidend, ob man dem Comment genügt, modern gesprochen: der politischen Korrektheit.“

Wo Scham war, soll Peinlichkeit werden. Möglicherweise hat der Abbruch tief existenziell empfundener Schamgefühle, für die es gar keinen äußeren Beobachter braucht, doch damit zu tun, dass die religiöse Grundierung infolge der gesamtreligiösen Erosion abgeblättert ist. Statt der Schwere der Scham regiert die Leichtigkeit der Peinlichkeit, statt der Sittsamkeit und Moral die bloße Übereinkunft, die Konvention, die Etikette. Ob das einer Gesellschaft auf Dauer guttut, ist die eine Frage. Ob die bloße Peinlichkeit jemals die abgrundtiefe Scham tatsächlich ersetzen kann und jemals ersetzen wird, die andere. Möglicherweise gehört es doch weiterhin zum Wesen des Menschen und des Menschlichen, sich vor sich selbst und vor anderen zu schämen, wo es Grund dafür gibt. Und sei es der letzte Grund: das Versagen vor dem Erhabenen, dem Göttlichen, Gott. Adam und Eva, die sich wegen ihres Ungehorsams Gott gegenüber vor ihm im Garten Eden zu verstecken versuchen, stecken weiter in unseren Knochen und in unserer Seele. Man mag die menschheitsgeschichtlichen Ahnen im „neuen“ Menschen gern verdrängen. Dennoch bleiben sie uns treu, weichen nicht von unserer Seite. Am Ende allen Schämens hoffen wir wie die „Stammeltern“ im alttestamentlichen Buch Genesis auf eine Barmherzigkeit, die uns Felle macht, uns bekleidet, damit wir nicht länger nackt dastehen, damit wir nicht mehr den taxierenden, misstrauischen Blicken ausgesetzt sind, weder denen der anderen noch denen von uns selbst.

Anzeige: In der Tiefe der Wüste. Perspektiven für Gottes Volk heute. Von Michael Gerber

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