Leben nach dem TodArme Seelen

Die Frage, ob und wo die Toten sind, wird zur Frage, ob und wie unsereiner lebt.

Was sich kalendarisch auf den November konzentriert, geschieht kirchlich das ganze Jahr über: das Totengedenken. Wie kaum mehr an einem anderen Ort wird hier (Sonn-)Tag für (Sonn-)Tag daran erinnert, dass wir Lebende allesamt Hinterbliebene sind in gestundeter Zeit. Die Frage, ob und wo die Toten sind, wird zur Frage, ob und wie unsereiner lebt. Gibt es noch eine Solidargemeinschaft zwischen Lebenden und Toten, eine Kultur verbindender Erinnerung und Erwartung? Der alte Brauch, an Allerheiligen / Allerseelen zu den Gräbern zu gehen, mag zwar gering(er) geachtet werden - angesichts des sich verändernden Bestattungswesens Richtung Anonymität erst recht. Aber die innere Herausforderung bleibt. Entsprechend spiegeln sich die Bilder vom „Jenseits“ in denen vom „Diesseits“ und umgekehrt: „Halt an, wo läufst du hin, der Himmel ist in dir“ (Angelus Silesius), oder „Die Hölle - das sind die anderen“ (Jean-Paul Sartre) beziehungsweise „ich“ (T. S. Eliot).

Viel zu wenig beachtet wird, dass Luc Boltanski, einer der führenden Sozialwissenschaftler Frankreichs, mit der „Vorhölle“ die Gegenwart deutet. Die Glaubensbilder Vorhimmel oder Vorhölle dienten einst kirchlich dazu, auch den Nichtgetauften einen trotz allem tröstlichen Platz anzuweisen. Was freilich Eltern beim Tod noch nicht getaufter Kinder zum Trost dienen sollte, wurde immer mehr zum Ärgernis. Und jüngst hat man im Vatikan beide aus dem Glaubensverkehr gezogen.

Boltanski aber dichtete just dazu „eine Kantate für mehrere Stimmen“, einen Sprechgesang also zur „Musik“ unserer Lebenswelt. „Gibt es einen Begriff, der besser geeignet wäre, um … unsere geschichtliche Lage zu kennzeichnen …?

Es ist gewiss keine Hölle, aber weit davon entfernt, ein Paradies zu sein.“ Es geht nicht schlecht, aber irgendwie sollte und könnte alles doch ganz anders sein. Mit Dante gesagt: „Nicht Klagegeschrei, nur Seufzer dumpf und leise“; „leiden ohne Qual“; ein Dahinleben „in Sehnsucht ohne Hoffnung“.

Zweierlei gehört zu diesem unheimlichen Schwebezustand: Warten und - nach Auschwitz für einen jüdischstämmigen Autor doppelt provokant! - Selektion.

„Die Vorhölle enthält Menschen, die darauf warten, ausgewählt zu werden. Oder die (wer weiß?), nicht mehr darauf warten und doch immer noch warten. Folglich also entweder Menschen, die darauf warten, dass die Selektion stattfinde. Oder Menschen, die, nachdem die Wahl getroffen wurde, nicht ausgewählt wurden: Sie wurden von der Liste getilgt … Oder Menschen im Standby: Sie wurden nicht ausgewählt, aber sie stehen auf einer Warteliste.“ Alle wollen befördert werden und endlich etwas darstellen. Aber in Wahrheit geschieht nichts, vor allem fehlt jede Verlässlichkeit und Transparenz. Wer kommt weiter und wer nicht? Wer bestimmt was und zu wessen Gunsten? Am Problem der Abtreibung hatte Boltanski das Dilemma dargestellt, wer denn da in welcher Instanz zum Leben erwählen soll und wer in der Warteschleife bleibt. Vorhölle: weder totale Verzweiflung noch verlässliche Aussicht auf Erwählung, stattdessen ein ewiges Warten - nicht schlecht, besser als nichts, und zugleich aussichtslos, ohne Erinnerung und Hoffnung. Es sind Momentaufnahmen zur allgemeinen Gleich-Gültigkeit: lauter „arme“ (Aller)See­len“.

Immerhin taucht in dieser schier ausweglosen Irrfahrt mit Odysseus dann doch die Erfahrung der Heimkehr auf, und damit (ein) Gott. Zum Schluss hin gar mit den Grundworten Israels: „Zakhor, erinnere dich“ und „Shema, höre“. Wie ein großes Kontra zum Status quo liest sich der letzte Satz des Ganzen: „Er, der Herr der Zeit, jenseits der Zeit, / Ursprüngliches Entspringen soll Er sein“.

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