KopftuchurteilIch bekenne…?

Das jüngste Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts hat weitaus größere Folgen, als in der bisherigen Debatte bemerkt wurde.

Ist es ein weiterer Schritt zur Islamisierung des christlichen Abendlandes? Jedenfalls trägt das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das es dem Staat verbietet, muslimischen Lehrerinnen im Unterricht das Kopftuchtragen gesetzlich zu verbieten, dazu bei, den Islam in den öffentlichen Bildungseinrichtungen der Republik als Glaubensbekenntnis von Vorbildern sichtbar zu machen. Denn Vorbilder sollen die erziehend Lehrenden ja sein. Im akademisch-universitären Bereich werden sie sogar Professoren genannt, also „Bekenner“. So hießen früher auch Unterrichtende an Schulen. Wenn nun beschwichtigt wird, ein Kopftuch an sich habe noch keinen werbenden oder missionierenden Effekt, ist das absurd. Denn alles, was ein Mensch an sich trägt, worüber er seine Persönlichkeit, seinen Körper öffentlich inszeniert, ist Ausdruck seiner Lebenshaltung, für die er nach außen sichtbar einsteht. Kleider machen Leute. Auch beim Kopftuch. Der Sinn jeder Mode ist ja nichts anderes, als sich selber darstellen und für das Eigene, als gut und schön Erkannte werben.

Der Beschluss der obersten Richter argumentiert mit dem hohen Gut der Glaubensfreiheit. Daher darf es niemandem ohne besonderen Grund verwehrt werden, seine Identität und Personalität entsprechend auszudrücken. Nur wenn der Schulfriede erheblich gestört oder gefährdet würde, darf nach Ansicht der Grundgesetzhüter eine gewisse Einschränkung vorgesehen werden - jedoch nicht grundsätzlich, wie es zahlreiche Landesgesetze beim islamischen Kopftuch bisher verlangten.

Die Karlsruher Entscheidung des Ersten Senats zielt auf Gleichberechtigung, Gleichbehandlung und Gleichrangigkeit aller religiösen Bekenntnisse in der Gesellschaft. Ein Nebenziel ist, vermeintliche oder tatsächliche christliche Privilegien, die Darstellung christlicher Symbole aus dem schulischen Zusammenhang zu bannen. Was Christen erlaubt ist, soll genauso Nicht-Christen erlaubt sein. Das liegt in der Logik der Sache.

Es gibt keinen religionsfreien Raum, nirgendwo, selbst wenn die Fiktion das behauptet. Wo das eine zurückweicht, dringt das andere ein. Selbst die angeblich weltanschaulich neutrale Schule, die ja keineswegs wertneutral sein will, ist niemals frei von Weltanschauung. Der liberalistische Laizismus mit seinem Willen zur totalen Verdrängung des Religiösen aus dem öffentlichen Leben ist ebenfalls eine Weltanschauung, bisher jedoch überhaupt nicht selbstkritisch reflektiert.

Jetzt Privilegien für den Islam

Längst hat ein klammheimlicher Kulturkampf gegen das Christentum begonnen: Man behauptet, christliche „Privilegien“ abzuschaffen, verschleiert damit aber den eigentlichen Zweck: die Einebnung des einstmals kulturstiftend und staatstragend Christlichen. Nicht die Aufwertung des Islam ist das Interesse. Er wird lediglich als Vehikel benutzt, um das Christentum gesellschaftlich abzuwerten, in die Niederrangigkeit zu verweisen. Der Siegeszug dieser grün-rot-gelben Ideologie, die auch in schwarze Kreise eingedrungen ist, scheint realpolitisch nicht mehr aufzuhalten zu sein. Parlamente und - eher konservative - Gerichte können sich auf Dauer nicht dem widersetzen, was gesamtgesellschaftlich den Ton angibt beziehungsweise wertlos wurde.

Formaljuridisch und rechtspositivistisch ist das jüngste Urteil im Sinne des Gleichheitsgebots der Verfassung nicht zu beanstanden. Paradoxerweise läuft es jedoch darauf hinaus, jetzt den Islam im schulischen Leben zu privilegieren - gegenüber dem Christentum. Denn anders als das Kopftuch von Musliminnen gibt es im Christentum kein Kleidungsstück oder Accessoire, das auch nur annähernd vergleichbar mit einem Glaubensbekenntnis verbunden wäre. Zwar wird oft auf Kreuze an irgendwelchen Halskettchen verwiesen. Doch diese sind unsichtbar und haben längst jedwede religiöse Erinnerung an den Kreuzestod Jesu Christi verloren. Heutzutage sind es Popstars und Pornostarlets, die auf ihrem üppigen Dekolleté große und größte Kreuze als exotisches Schmuckstück bar jeder christlichen Assoziation zur allgemeinen erotischen Bewunderung tragen.

Vielfach wurde und wird in der Debatte darauf verwiesen, dass ja auch Ordensfrauen und Ordensmänner in ihrem Habit unterrichten dürfen. Nur ist dies ein Pseudoargument. Wo sind denn überhaupt noch Ordensleute in allgemeinen staatlichen Schulen präsent? Wegen des Nachwuchsmangels in geistlichen Berufen und der extremen Überalterung der Orden fast nirgendwo mehr. Es gibt auch nicht mehr wie früher die Priester, die als Lehrer in der ganzen Bandbreite der Fächer wirkten und allenfalls nebenberuflich gottesdienstlich in Pfarreien aushalfen. Selbst beim Fach Religion treten Pfarrer kaum noch in Erscheinung. Zudem haben sie sich häufig ununterscheidbar dem Kleidungs-Mainstream angepasst. Kurzum: Das Christentum ist an den Schulen optisch - und oft ebenso geistig - unsichtbar geworden. Hingegen gelingt es dem Islam, genau diese Lücke weithin sichtbar zu schließen, auch mithilfe der Kopftuch-Schülerinnen und der den Ramadan streng beachtenden Schüler, während die „christlichen“ Schüler das allenfalls belanglos „bestaunen“, ohne sich selber religiös - mit Selbstbewusstsein - herausgefordert zu sehen. Das Bundesverfassungsgericht hat an die Stelle vermeintlich christlicher Privilegien, die durch gedankenlose Selbstauflösung längst abgeschafft sind, absurderweise islamische Privilegien gesetzt. Dies wird zweifellos ausgenutzt werden.

Schimpfwort „Du Christ!“

Das Kopftuchverbot stand allerdings von vornherein auf wackeligem Boden. Als 1998 in Baden-Württemberg einer muslimischen Lehrerin die Übernahme in den Schuldienst verweigert wurde, weil sie nicht bereit war, auf das - wie es damals hieß - „Symbol kultureller Abgrenzung“ eines fundamentalistischen politischen Islam, auf dieses Zeichen einer sexuell fixierten Unterdrückung und Minderachtung der Frau zu verzichten, schrieben wir in einem CIG-Kommentar: „Wir müssen … nicht hinnehmen, dass Einzelne oder Gruppen für Theokratie eintreten, selbst wenn dies wortlos in der Kleidung ausgedrückt wird. Der Körper ist ein mächtiges Symbol, die erste Sprache unserer Lebensgefühle und Überzeugungen. Selbst Accessoires, die dem persönlichen Geschmack unterliegen, sind keineswegs immer bloß privat oder harmlos… In der Mode manifestieren sich individuelle und kollektive Sehnsüchte. Sie ist nie politikfrei.“ Doch könne das Kopftuch politisch durchaus auch anders verstanden werden: „als bewusst inszenierte Körpersprache gegen die Spaß-Kultur und ihre Moden, wonach alles erlaubt ist, was der Masse gefällt.“

Im Kopftuch zeige sich - so der CIG vor siebzehn Jahren - auch eine Ablehnung der westlich üblichen Freizügigkeit und Schamlosigkeit, etwa in der Darstellung weiblicher Nacktheit. „Die Gegen-Mode einer selbstbewussten, sich selbst verwirklichenden muslimischen Lehrerin, die anders denkt als andere, hält der Gesellschaft einen pädagogischen Spiegel vor. Muss das gefährlich sein? Die Diskussion über Toleranz hat neu zu beginnen auch als Debatte über Kultur, Lebensstil und Lebenssinn.“

Was damals im CIG stand, bleibt aktuell. Irritierend ist nur, dass eine Gesellschaft, die aus christlichen Wurzeln kommt, diese Debatte kaum ernsthaft führt. Faktisch schaut man heutzutage eher befremdet oder naiv-neugierig auf die unbekannte Welt eines erheblich gewachsenen muslimischen Selbstbewusstseins und Selbstwertgefühls, ja Stolzes. Andererseits fürchtet man sich vor den islamischen Radikalisierungen, die 1998 - also vor dem 11. September 2001 - so noch nicht absehbar waren. Neulich erst ging - allerdings typischerweise rasch wieder ausgeblendet und verdrängt - durch die Presse die Nachricht von einer Neu-Ulmer Grundschule, in der muslimische Schüler der ersten Klassen bereits derart von Extremisten indoktriniert waren, dass sie die nichtmuslimischen Mitschüler mit dem Schimpfwort „Du Christ!“ belegten. Von anderen Schulen hört man ähnliche Gruppen-Selbstidentifikation muslimischer Jugendlicher, zuletzt nach den Pariser Attentaten. Die vermeintliche Gleichberechtigung kopftuchtragender Lehrerinnen, die damit ihren eigenen starken Glauben selbstbewusst öffentlich unter Beweis stellen, könnte sich in dynamisierten Kontexten des Dschihad als Bärendienst an der Verfassung und am inneren sozialen Frieden der Bundesrepublik Deutschland erweisen.

Das Schweigen der Lehrer

Weitaus bedrängender jedoch ist, dass die meisten sonstigen Lehrerinnen und Lehrer keinerlei persönlichen Bezug mehr zur Religion, geschweige denn zum Christentum, erkennen lassen. Aus Furcht, aus Feigheit - oder weil sie ihn gar nicht mehr haben? Ich bekenne?… - religiös nichts mehr? Was ist dem Einzelnen das eigene Christsein wert? Alle Wertedebatten hängen in der Luft, wenn in den bedeutendsten Bildungseinrichtungen des Landes davon nichts mehr - wie es neudeutsch heißt - „rüberkommt“. Ist Religion, der Kern jeglichen Kulturschaffens, das Christentum als Wurzelgrund des abendländischen Paradigmas, das einst das Heidentum jeglicher Form überwunden und abgelöst hat, kein ernsthaftes Bildungsthema mehr - abgeschoben allenfalls noch in die Nischen von Religionsunterricht oder blasser Religionskunde?

Hier liegt die eigentliche Problematik. Das Bundesverfassungsgericht wiederum trägt seit längerem dazu bei, die gesellschaftliche Nivellierung des Christentums unter dem Deckmantel der Gleichberechtigung auch grundrechtlich voranzutreiben. Ein wesentlicher Schritt dahin war bereits das sogenannte Kruzifixurteil von 1995, das in seinem ersten Leitsatz sehr undifferenziert, pauschal erklärte: „Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 GG.“ Erst im zweiten Satz kam die bayerische Schulordnung in den Blick. Sie wurde in einem Kernpunkt für null und nichtig erklärt: Der Staat darf ?- in Gestalt der Institution Schule? - keine Anordnung zum Anbringen von Kreuzen treffen. Obwohl das Urteil durch spätere Gesetzgebung und ergänzende Rechtsprechung - bezogen auf Konflikt-Einzelfälle - abgemildert wurde und weiterhin Kreuze in bayerischen Schulen hängen dürfen - wenn auch ohne staatliche Anordnung -, hat das Karlsruher Gericht doch jene Richtung vorgegeben, in der sich die Nivellierung des Christlichen beschleunigt.

Spätestens nach der jetzigen Erlaubnis des Kopftuchs wird deutlich, wie sehr der Bildungswettbewerb um die kulturelle Deutungshoheit - auch über die Religion - in der Bundesrepublik längst begonnen hat, durch den Islam. Nur die Wenigsten scheinen zu merken, was sich da kultur- wie gesellschaftspolitisch in Zeiten eines islamischen Extremismus möglicherweise anbahnt. Am naivsten erscheinen die Nicht- oder Kaum(mehr)glaubenden, während engagierte Christen tendenziell eine höhere Sensibilität für den Gottesglauben der Anderen, aber eben auch für die Andersheit der Anderen, für die respektvolle Unterscheidung aufbringen.

Die Kirchen wiederum wirken in der Bewertung der Entwicklungen momentan irritierend vieldeutig, ja widersprüchlich. Zum Beispiel wurde seinerzeit das Verbot von kopftuchtragenden Lehrerinnen durch die damalige baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan begrüßt. Nun heißt es aus der Bischofskonferenz zum genau entgegengesetzten Urteil des Gerichts genauso positiv, es sei ein „starkes Signal für die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit“. Es bestätige: „Religion und religiöses Bekenntnis haben einen legitimen Platz im öffentlichen Raum.“

Sakramente machen Christen

Allerdings tragen die Christen manche Mitverantwortung für die christliche Diffusion, ja Kapitulation im öffentlichen Raum, da sie sich und ihren Glauben im Wettbewerb der Kulturen verstecken. Vielfach hat man sich im üblichen, in der Sache längst langweiligen Binnen-Kirchentheater eingerichtet. Das eigentliche Christsein, die Auferstehungshoffnung als Dreh- und Angelpunkt, die in der Antike gebildeten Heiden plausibel erschien und überzeugte, bleibt der aktuellen gesellschaftlichen Wahrnehmung hingegen weitgehend entzogen. Anders als beim Islam, der durch seine Kleiderordnung sein Religiöses nach außen hin sichtbar machen kann, obwohl auch bei ihm das tägliche Beten, Fasten und Almosengeben viel wichtiger sind, offenbart sich die kulturell-existenzielle Bedeutung des Christlichen im Liturgischen, Gottesdienstlichen, in der Teilnahme und Teilhabe am Sakrament des Wortes und des Mahles. Nicht Kleider machen Christen, sondern Sakramente - die Vergegenwärtigung Christi, des Auferstandenen, im öffentlichen Feiern des Geheimnisses des Glaubens: Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.

Was ist davon übriggeblieben? Die sonntäglich-österliche Versammlung als Mitte christlichen Lebens findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Selbst Religionslehrerinnen und Religionslehrer, diakonisch Engagierte und caritativ Beschäftigte haben größte Probleme, hier zuverlässig, kontinuierlich Zeugnis abzulegen von dem, was sie glauben, hoffen, lieben: Ich bekenne …? Am Tag des Herrn entscheidet sich, was das Christentum dieser Gesellschaft und Kultur noch wert ist - und nicht an aufgeregten oder pseudoaufgeregten Kirchenunterhaltungsdebatten, die uns medial dauerhaft beschäftigen. Für den Wettbewerb der Kulturen und Religionen ist es zum Beispiel völlig belanglos, ob und wie kirchenamtlich-kirchenrechtlich Regelungen für die wiederverheirateten Geschiedenen offiziell gefunden werden. Denn faktisch sind sie im Sinne der Barmherzigkeit längst gefunden. Die aktuell unter anderem von den Laien-Organisationen bis zur Ermüdung routinemäßig hochgespielten eindimensionalen Forderungen erweisen sich bei näherem Hinsehen als wenig relevant dafür, welche Rolle das Christentum geistig, intellektuell, spirituell in der Kultur und für die Kultur spielt und welche Glaubensreformen gerade im Gottesverständnis unter dem Horizont der Entmythologisierung und eines atemberaubenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts substanziell notwendig sind.

Geist schafft Leben. Auch in der Religion. Alles andere ist peripher. Geist lässt sich jedoch nicht verordnen, anordnen, befehlen. Er kommt von innen. Das geistvolle Bekenntnis zum Christsein steht nicht am Anfang, sondern in der Mitte dieses Lebens-, Erkenntnis- und immerwährenden Bekehrungsprozesses: Credo.

Das jüngste Verfassungsgerichtsurteil hat mit der rechtlichen Entprivilegierung des Christlichen „im Namen des Volkes“ den Islam real privilegiert. Gehört das Christentum noch zu Deutschland? Offenkundig immer weniger.

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