Kriegskinder und Kriegsenkel70 Jahre her - aber nicht vorbei

Die Folgen des Zweiten Weltkriegs wirken in den Seelen der Kriegskinder und der Kriegsenkel bis heute. Ein offener Umgang könnte die Weitergabe der Traumata von Generation zu Generation stoppen.

„Endlich.“ Die ältere Dame am Telefon klingt erleichtert. Nun hat sie mich erreicht, Hildegard Ludwig sei ihr - geänderter - Name. Heute Morgen habe sie eine Sendung von mir über das Schicksal der ehemaligen Kriegskinder im Radio gehört. „Endlich spricht es mal jemand aus“, sagt sie. „Ich fühle mich so verstanden. Meine Kinder interessiert das gar nicht, wenn ich mal etwas erzählen will.“ Dann bricht es aus ihr heraus: Sie sei acht Jahre alt gewesen bei Kriegsende. Jede Nacht seien die Russen gekommen und über ihre acht Jahre ältere Schwester hergefallen. Sie schluckt. Nie habe sie darüber reden können, auch mit ihrem Mann nicht. Die Anruferin hatte Unfassbares, zutiefst Grausames erlebt - und hat es ihr ganzes Leben lang mit sich herumgetragen.

Seit etlichen Jahren sind die psychischen Spätfolgen des Zweiten Weltkriegs in Deutschland ein Schwerpunkt meiner Arbeit als Hörfunk-Journalistin und als Coach für berufliche Themen. Ich habe mit unzähligen Kriegskindern, Nachkriegskindern und ihren Nachkommen gesprochen. Der Krieg und seine Folgen haben sich häufig auch in die Berufswege gerade derjenigen gefressen, die doch in der Blüte ihrer Karriere stehen müssten: der Generation der zwischen 1960 und 1975 Geborenen.

Versteckt in der Seele

Wie kann das sein? Hier hilft ein Blick in die Tiefenschichten, zunächst bei den Menschen, die ihre Kindheit oder Jugend im Krieg erlebten. Zwar gab es große Unterschiede zwischen den Regionen, zwischen Stadt und Land und auch im Rückhalt und Schutz durch die Familien. Doch Millionen Kinder saßen Nacht für Nacht im Bombenhagel, erlebten ohnmächtige Angst von Erwachsenen, verloren Angehörige oder gingen selbst verloren. Sie erlebten die Vergewaltigung der Mutter. Eine erschreckend hohe Zahl wurde in den Wirren der Kriegs- und Nachkriegszeit auch selbst missbraucht. Millionen Kinder flohen aus ihrer Heimat und wurden als Flüchtlinge oft ausgegrenzt oder verlacht. Ihre Grundsicherheit im Leben wurde unter den Trümmern des Krieges buchstäblich zermalmt. Nicht zu vergessen: der schreckliche, körperlich wie seelisch so schmerzhafte Hunger. Nach dem Krieg half ihnen meist niemand, Angst und Grauen zu verarbeiten. Sie sollten vor allem keinen Ärger machen und funktionieren. Häufig wollten sie auch keinen Ärger machen, denn sie sahen ja, wie ihre Mutter sich abmühte, um für das Überleben der Familie zu sorgen. Sie erlebten, wie wenig belastbar der Vater war - wenn er überhaupt aus dem Krieg zurückgekommen war. Viele Söhne wurden für ihre verwitweten Mütter auch zum Partnerersatz.

Die Kriegskinder wurden erwachsen, bekamen selbst Kinder. Viele haben ihr berufliches Leben beeindruckend gut gestemmt. Doch der Krieg war in ihren Seelen abgekapselt, irgendwo tief drinnen versteckt.

Meine Gesprächspartnerin am Telefon ist nun ganz in ihrer eigenen Geschichte. Bitterlich klagt sie über ihre Kinder. Sie seien so kühl zu ihr. Sie würden sogar den Kontakt zu ihr vermeiden. Wenn man sich mal trifft, rede man nur über Belangloses. Hildegard Ludwig hat keine Erklärung dafür. Vielleicht hätten sie und ihr Mann ihre Kinder früher finanziell zu knapp gehalten. Aber sie hätten doch schließlich alles für sie getan! Vorsichtig wende ich ein, ob es den erwachsenen Kindern vielleicht gar nicht um Geld, sondern um Zuwendung, ums Wahrgenommensein geht, um Gefühle und Nähe. Doch die ältere Dame ist fest davon überzeugt, dass die Generation ihrer Kinder eben undankbar und gefühlskalt ist. Und egoistisch: Sie hätten noch nicht einmal selber Kinder bekommen. Irgendwann beende ich das Gespräch - freundlich, aber ernüchtert.

Die Tränen der Kriegsenkel

Es ist das so typische familiäre Drama bei nicht wenigen ehemaligen Kriegskindern und ihren eigenen Kindern. Auf der einen Seite das eindeutige Leid der Eltern. Auf der anderen Seite die meist stille Not ihrer Kinder. Die emotionale Leere zwischen beiden Seiten. In diesem Drama gab es keine wirklich Schuldigen. Denn ohne es zu wollen, haben viele ehemalige Kriegskinder ihre nicht aufgearbeiteten tiefen Wunden an ihre Kinder weitergegeben. So werden die Kinder der Kriegskinder inzwischen auch Kriegsenkel genannt. Oberflächlich betrachtet sind viele dieser Kriegsenkel im Frieden aufgewachsen - mit Vater, Mutter, Geschwistern, einem Haus, sicheren Arbeitsverhältnissen, in behaglichem Wohlstand. Doch häufig erlebten sie ein stilles Drama: emotional distanzierte, in Gefühlsdingen häufig gehemmte Eltern. Sie wurden kaum in den Arm genommen, hatten diffuse Ängste, die niemand auffing. Viele wurden mit ihren kindlichen und jugendlichen Sorgen alleingelassen. Nicht selten gab es merkwürdige Tabus in der Familiengeschichte, die sie verunsicherten. Für aufwühlende Gefühle wie Traurigkeit, Wut oder Verzweiflung war häufig kein Platz. Es fehlte an einer tragenden Geborgenheit - oder wie die Bindungsforscher sagen: an einer sicheren Bindung. Bei vielen Kriegsenkeln gehören Unsicherheit, Haltlosigkeit, Freudlosigkeit, diffuse Schuldgefühle zum Grundgefühl. Sie sind im körperlichen Umgang oft gehemmt, leben mit angezogener Handbremse. Manche haben auch regelrechte Alpträume von Bomben oder der sich nähernden Front.

Die Eltern haben ihren Kindern die emotionale Geborgenheit meist nicht bewusst vorenthalten. Sie konnten schlicht nicht geben, was sie selbst nie erlebt hatten. Bei manchen schwer traumatisierten Eltern waren die Gefühle sogar „abgeschaltet“, der typische Überlebensmechanismus zutiefst verletzter Seelen. Ihre Kinder wiederum spürten diese Wunden. Sie wollten bei ihren Eltern „etwas wiedergutmachen“. So wie die Frau, die sich um ihre kranken, zerstrittenen Eltern kümmerte, selbst aber auch mit über vierzig noch keine feste Beziehung hatte. Im Extremfall kehrten sich die Rollen um: Kinder sorgten für ihre bedürftigen Eltern, versuchten, ihnen Geborgenheit, Trost und ein offenes Ohr zu geben. Diese Kinder lernten vor allem, die Bedürfnisse ihrer Eltern zu erspüren. Andere Kriegsenkel hatten dagegen wenig emotionale Bindung zu ihren Eltern, zogen sich in sich selbst zurück und entwickelten selbst nur ein sehr rudimentäres Gefühlsleben. Und viele Kriegsenkel bleiben beruflich auffallend unter ihren Möglichkeiten.

Sabine Bürger (auch ihr Name ist geändert) ist eine hochintelligente Frau Mitte vierzig. Sie hat in ihrem Berufsleben schon so einiges gemacht. Ihr jetziger Beruf als Dolmetscherin fällt ihr leicht, allerdings lässt sie sich ihre Arbeit viel zu gering honorieren. Vor allem aber spürt sie, dass sie noch nie das getan hat, was sie eigentlich will. Was das sein könnte, weiß sie jedoch nicht. Bei dem Hinweis, dass viele ihrer Generation nicht gelernt haben, sich selbst zu fühlen, schießen ihr die Tränen in die Augen. Viele Klienten weinen im Gespräch. Es ist ein tiefer Schmerz und gleichzeitig die Erleichterung, „erkannt“ worden zu sein.

Sabine Bürger war als einzige Tochter bei drei Brüdern schon früh dafür verantwortlich, sich um ihre überforderte Mutter, ein Flüchtlingskind aus den Sudeten, zu kümmern. Das bedeutete viel zuhören, Hoffnung geben, der Mutter „eine Freundin“ sein, ihr den Rücken stärken gegen die „schlechten Männer“. Nach Sabine fragte niemand. Der Vater hielt sich raus, die Tränen behielt sie für sich. Trotz glänzender Noten in der Schule und im eher ziellos ausgesuchten Studium wusste sie nicht, was sie beruflich wollte. Sie hatte nie gelernt, sich ihrer Fähigkeiten bewusst zu werden, und gleichzeitig Angst davor, wirklich erfolgreich zu werden.

Schweigen in Ost und West

Viele Kriegsenkel identifizieren sich sehr mit ihren Eltern. Ganz anders dagegen die meisten Nachkriegskinder. Ihre Väter waren in der Regel noch Soldaten gewesen. Als sie aus dem Krieg zurückkamen, waren sie häufig gebrochen, litten unter Alpträumen, Depressionen, dem Gefühl, betrogen worden zu sein, cholerischen Anfällen oder exzessiver Sucht nach Leben, manche auch unter Schuldgefühlen. Bei nicht wenigen Vätern, aber auch bei Müttern entlud sich die kaum auszuhaltende innere Spannung in unberechenbare Prügel. Ein Mann, Jahrgang 1946, erzählt mir, seine Mutter hätte ihn immer wieder grundlos geschlagen, an anderen Tagen dann verwöhnt. Auch drakonische Strafen wie Essensentzug oder Einsperren in dunklen Räumen waren keine Seltenheit. Dazu kam häufig das graue Schweigen oder das genaue Gegenteil: ein Wortschwall über Banalitäten - genau genommen auch eine Art von Schweigen.

Über die Kriegszeit wurde in aller Regel nicht geredet. Den Kindern war klar, dass hier nichts gefragt werden durfte. Viele wurden weitgehend sich selbst überlassen. „Für die inneren, die unsichtbaren Verwüstungen bei sich selbst und bei den Kindern hatte im Nachkriegsdeutschland kaum jemand Augen und Ohren“, fasst der Kasseler Psychiater Hartmut Radebold zusammen. All dies führte dazu, dass viele Nachkriegskinder sich mit ihren Eltern wenig verbunden fühlten und so früh wie möglich das Haus verließen. Einige von ihnen gingen 1967/1968 auf die Barrikaden.

Erstaunlicherweise unterscheiden sich die Familiengeschichten von Menschen aus Ost- und West-Deutschland kaum. Manches war in der DDR jedoch durch die neue Diktatur unterdrückt und so gleichzeitig verstärkt worden. Erst in den letzten Jahren kommt dies langsam ans Tageslicht. Die Folgen dieser sich überlagernden Diktaturen werden wir wohl erst nach weiteren Jahrzehnten enthüllen können. Noch sind die Emotionen sehr leicht entflammbar, ebenso die Abwehrmechanismen.

Das kollektive Gedächtnis einer Familie reicht hundert Jahre zurück - so der französische Soziologe und Philosoph Maurice Halbwachs, der 1945 im KZ Buchenwald umkam. Belastende Gefühle und erschreckende Erlebnisse werden dabei auf unterschiedlichen Wegen an die nächste Generation weitergegeben. Da sind zum Beispiel direkte Erziehungsprinzipien, wie übertriebene äußere Ordnung oder grundsätzliches Misstrauen gegenüber anderen. Dann gibt es die nonverbalen Botschaften, für die gerade Kinder empfänglich sind: „Bloß nicht auffallen“ oder: „Ein erfülltes Leben steht uns nicht zu.“ Es kann auch das Erleben und Übernehmen von Macken oder Verhaltensauffälligkeiten der Eltern sein.

Noch fataler ist die Resonanz durch sogenannte Spiegelneuronen. Neurologen haben erkannt, dass bestimmte Neuronen im Gehirn beim bloßen Miterleben eines Vorgangs oder Gefühls genauso reagieren, als wenn der Mensch es selbst erlebt. Das heißt: Vor allem Kinder empfinden Gefühle der Eltern und eben auch unverarbeitete traumatische Erfahrungen wie ein eigenes Erlebnis. Ob die Mutter vergewaltigt wurde oder das Kind selbst, kann es oft nicht auseinanderhalten. Ein weiterer Weg der Übertragung ist die Reinszenierung: Eine Mutter, die als Säugling alleingelassen wurde, macht dies nicht selten unbewusst bei ihrem eigenen Kind genauso. Bei traumatisierten Menschen kann sich - vereinfacht gesagt - sogar das Erbgut selbst verändern. Traumata werden buchstäblich vererbt.

„Das haben doch alle erlebt“

Die Spätfolgen des Kriegs sind Jahrzehnte lang kaum wahrgenommen worden - aus politischen, aber auch aus psychologischen Gründen. Denn auch viele Kriegskinder selbst wollten nichts mit solchen Überlegungen zu tun haben. „Das haben doch alle erlebt“ oder: „Es hat uns nicht geschadet“ waren lange typische Aussagen dieser Generation. Erst seit Mitte der neunziger Jahre hat sich die klinische Forschung zunehmend der ehemaligen Kriegskinder angenommen. Einen „Mangel an Erschrecken und Betroffenheit über das eigene Schicksal“ hat der Arzt und Psychoanalytiker Michael Ermann festgestellt. Seinem Forschungsprojekt an der Ludwig-Maximilians-Universität München zufolge sind etwa neun Prozent der Deutschen, die als Kinder den Krieg erleben mussten, bis heute eindeutig traumatisiert. Zum Vergleich dazu sind dies in der Schweiz in dieser Altersgruppe nicht einmal ein Prozent, so die Journalistin Sabine Bode. Zusätzlich ist in Deutschland ungefähr ein Viertel der Kriegskinder in ihrer psychosozialen Lebensqualität deutlich eingeschränkt: durch Depressionen, Angst- und Schlafstörungen, unerklärliche chronische Schmerzen, psychosomatische Krankheiten, ständige Kältegefühle, Unruhe und unkontrolliertes Aufbrausen, Kontakt- und Gefühlsstörungen oder ein extremes Sicherheitsbedürfnis.

Insgesamt kämpft bis heute rund ein Drittel der noch lebenden Kriegskinder mit typischen Kriegs-Spätfolgen. Lange Zeit blieben diese jedoch durch ein geregeltes Berufsleben, klare Lebensrhythmen, Kindererziehung verdeckt. Im fortgeschrittenen Alter ist das meiste davon weggefallen. Hinzu kommen körperliche Schwäche und Krankheiten - man „funktioniert“ nicht mehr richtig. Nicht zuletzt lockert im Alter das Gedächtnis sozusagen seine Sicherungsbremsen. In der Pflege ist dieses Problem bekannt: Häufiger werden männliche Pfleger von älteren Patientinnen scheinbar grundlos beschimpft oder geschlagen.

Deutschland ist noch nicht erlöst

Für Nachkriegskinder und Kriegsenkel gibt es bisher noch keine Studien. Die Prozentzahlen scheinen vor allem bei der „Generation Kriegsenkel“ insgesamt zwar etwas geringer, die Proportionen aber grundsätzlich ähnlich zu sein. Der Berliner Psychoanalytiker Christoph Seidler sieht in diesen Spätfolgen des Krieges - neben der Entgrenzung der Marktwirtschaft mit all ihren Folgen - die zweite große Ursache für die hohe Zahl von Burn-outs, Depressionen, Selbstausbeutung und Selbstsabotage. Ich erlebe häufig, dass Klienten geradezu sichtbar „ein Stein vom Herzen“ fällt, wenn historische und gesellschaftliche Zusammenhänge aufgedeckt werden. Ihre diffusen Ängste und Schuldgefühle bekommen ein Gesicht. Auch Sabine Bürger hat erstaunlich schnell ihre persönliche Berufung gefunden. Heute schöpft sie ihre brillanten intellektuellen, emotionalen und praktischen Fähigkeiten voll aus. Sie erlebt ihr Berufsleben als äußerst erfüllend, und nicht zuletzt verdient sie endlich ihrer Arbeit angemessen.

Seit zehn Jahren tut sich auf dem Gebiet „Spätfolgen des Kriegs“ einiges. Es gibt inzwischen Kriegskinder- und Kriegsenkel-Vereine, Selbsthilfegruppen und sogar internationale Kongresse mit Hunderten von Teilnehmern. Außerdem sind etliche gute Bücher auf dem Markt. Auch die evangelischen Kirchen bieten inzwischen Tagungen, Erzählcafés oder spezielle Gottesdienste an. In der Ausbildung der Seelsorger und Seelsorgerinnen spielt das Thema jedoch noch immer kaum eine Rolle, obwohl die meisten aktiven Kirchenmitglieder genau in der entsprechenden Altersgruppe liegen. Die katholische Kirche hinkt zwar etwas hinterher, doch es gibt bereits einige Angebote für Betroffene, zum Beispiel in den Erzbistümern Köln und Hildesheim.

Insgesamt ist in Deutschland vieles jedoch noch immer nicht gelöst, man könnte auch sagen: nicht erlöst. Auffallend ist das erschreckend schlechte Selbstwertgefühl der Deutschen. Ein großer Teil scheint sich bereitwillig an beinahe jedem Unrecht auf der Welt schuldig und dafür grundsätzlich zuständig zu fühlen. Keinesfalls darf die eindeutige Schuld des Deutschen Reiches am Zweiten Weltkrieg infrage gestellt werden. Die Verantwortung des Staates ist aber von einer persönlichen Schuld der Nachgeborenen zu trennen. Es gilt, die Schuld der Vorfahren emotional dort zu belassen und keinesfalls gewissermaßen stellvertretend persönlich die Schuld zu übernehmen. Dieser Krieg hat auch zahlreiche Opfer in Deutschland hinterlassen, allen voran die Kinder. Psychologisch gesprochen geht es um eine Integration der Vergangenheit in unsere heutige Identität als Deutsche - statt einer Überidentifikation oder Abspaltung.

Problematisch ist auch, dass noch immer kaum zwischen Patriotismus und Nationalismus unterschieden wird. Dabei wäre eine gesunde, authentische Verwurzelung im eigenen Land und in der eigenen Kultur vermutlich die beste Versicherung gegen neuen Rechtsextremismus. Die Aufarbeitung in Deutschland hat noch deutliche Lücken - auf emotionaler und familiärer Ebene. Erschreckend viele Menschen hätten keine Ahnung vom Leben ihrer Großeltern und Urgroßeltern, stellt auch der Psychoanalytiker Christoph Seidler in seiner Praxis fest: „Da sind die Familiengeschichten mit dem Krieg in sich zusammengebrochen.“ Vermutlich liegt hierin auch der Grund, dass erstaunlich viele Menschen nicht verwurzelt sind und kindliche Tendenzen aufweisen. Es fehlt häufig an erwachsenen Fähigkeiten der Lebens- und Krisenbewältigung, Möglichkeiten, sich selbst zu reflektieren und Verantwortung zu tragen. Ihrer Entwicklung standen keine gesunden, reifen Erwachsenen zur Seite, die sie sicher ins Leben begleitet hätten. Dies wiederum könnte erklären, dass ein großer Teil der Generation Kriegsenkel selbst keine Kinder bekommen hat. Sind die Kriegsenkel dennoch Eltern geworden, scheinen sich viele äußerst schwer damit zu tun, ihren Kindern authentische Autoritäten zu sein und Grenzen zu setzen. Gleichzeitig überfordern sie sich mit übergroßen Erwartungen an sich selbst als Eltern.

Befreiendes Nachreifen

Wird die Weitergabe über Generationen hinweg nicht aufgehalten, setzt sich der Teufelskreis fort. Es gibt bereits klassische „Kriegs-Urenkel“, Menschen, die nach 1980 geboren wurden und ebenfalls wieder mit den typischen Symptomen belastet sind. Die meisten können dies allerdings nicht zuordnen und halten es für ihr persönliches „Versagen“. Ein offener Umgang mit den Spätfolgen des Krieges, Transparenz in den überindividuellen Zusammenhängen und persönliches Nachreifen wären wohl äußerst befreiend, nicht nur für den Einzelnen. Auch als Gesellschaft brauchen wir diese Handlungskraft: für mutige, klare und unserer selbst bewusste Entscheidungen in den drängenden Fragen von Zuwanderung, in den vielfältigen Problemlagen der Europäischen Union oder in der demografischen Entwicklung mit all ihren schwerwiegenden finanziellen und gesellschaftlichen Folgen. In vielen Bereichen werden wir vermutlich komplett neue Wege gehen müssen. Dafür bedarf es seelischer Sicherheit und eines gesunden Ruhens in sich selbst - als Volk und als Einzelne.

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