GrexitGriechenland und die Griechen

Alles schien so klar: Wenn Griechenland den Reformvorschlag der anderen Euroländer ablehnt, ist es nicht nur pleite, sondern auch raus aus dem Euro. Doch trotz des Neins gilt: Nach den Verhandlungen ist vor den Verhandlungen.

Nein! Unmissverständlich war die Antwort von nahezu zwei Dritteln der Griechen bei ihrem Referendum über das Spar- und Reformprogramm, das die achtzehn anderen Länder der Euro-Zone vorgelegt hatten. Wer nun ein ebenso deutliches „Raus!“ als Reaktion der Gläubiger, bestehend aus Euroländern, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds, erwartet hatte, die seit fünf Jahren Milliarden nach Griechenland gepumpt hatten, wurde - zumindest bislang - enttäuscht. Die Antwort bestand zunächst aus hektischer Krisendiplomatie, dann folgte ein Sondergipfel und schließlich stand fest, dass Griechenland - die wievielte? - allerletzte Chance auf ein drittes Hilfspaket bekommt, wenn es fristgerecht Anträge stellt und Reformen vorschlägt. Erleichtert wurden diese neuen Initiativen sicherlich durch den Rücktritt des griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis. Auch Wirtschaftswissenschaftler und politische Kommentatoren haben keine einmütigen Antworten auf die komplexen wirtschaftlichen und finanzmarktpolitischen He­rausforderungen rund um den Euro und die Staatsschuldenkrise Griechenlands. So fordert die „Süddeutsche Zeitung“ in einem Leitartikel: „Griechenland muss den Euro verlassen.“ Dies wäre zwar für alle Beteiligten eine schwerere Belastung, als wenn man sich weiter mit faulen Kompromissen durchmogelte. Doch langfristig würde „die Umdeutung des Regelbuchs durch Athen zum Zerfall der Euro-Zone und zur Zerstörung der Währung führen“. Im Wirtschaftsteil lässt die Münchner Tageszeitung dagegen zwei Wissenschaftler zu Wort kommen, die weitere Zugeständnisse an Athen für denkbar halten - wenn die Regierung Reformen vorantreibt. Klaus Schrader vom Kieler Institut für Weltwirtschaft und Clemens Fuest, Präsident des Mannheimer Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung, verlangen, dass Griechenlands Bürokratie vermindert, eine funktionierende Steuerbehörde aufgebaut, die Verwaltung effizienter gestaltet und ein Rechtssystem durchgesetzt wird, in dem Betriebe ihre Ansprüche wirklich einklagen können. Packt Griechenland das an, hält es Fuest für sinnvoll, „Geld in die Hand zu nehmen, um in Infrastruktur zu investieren“, und Schrader „macht sich gar für einen Schuldenerlass stark, der die Verbindlichkeiten auf verschiedene Arten um bis zu fünfzig Prozent reduziert“.

Schneeballsystem

Ein ähnlich vielfältiges Bild bietet die „Frankfurter Allgemeine“, die auf Seite 1 die Griechen fragt: „Seid ihr noch zu retten?“, um dann zu fordern: „Jetzt müssen sie die Konsequenzen tragen.“ Im Wirtschaftsteil steht für Mitherausgeber Holger Steltzner jedoch fest: „Die Gläubiger machen es sich zu einfach, wenn sie die Schuld allein bei Tsipras suchen. Zur Kreditvergabe ohne Gefühl für Risiko gehören zwei. Indem die ‚Euro-Retter‘ zu hohe Alt-Kredite mit neuen Schulden bezahlen wollten, bauten sie ein Schneeballsystem auf, das sie nun begraben könnte. Indem sie die Alternativlosigkeit der Rettung erklärten und die Losung ausgaben: ‚Scheitert der Euro, scheitert Europa‘, machten sie sich erpressbar.“ Der Freiburger Wirtschaftswissenschaftler Lars P. Feld, der seit 2011 als einer der fünf sogenannten Wirtschaftsweisen die Bundesregierung berät, forderte bei einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung die Länder der Euro-Zone auf, gegenüber Griechenland hart zu bleiben. Für einen Austritt Athens aus dem Euro spricht er sich jedoch auch nicht offensiv aus. Auch für Feld können Reformen nach wie vor zu tragfähigen Finanzen, Strukturveränderungen zu neuen Investitionen führen. Den Hinweis, dass der griechischen Wirtschaft außerhalb des Tourismus und des Olivenöls jegliches konkurrenzfähige Produkt für den Weltmarkt fehlt, weist er zurück: „Wir müssen die Rahmenbedingungen ändern, dann passt das.“ Genau in diesem Punkt sieht er Versäumnisse der Gläubiger in der Vergangenheit. Man hätte viel stärker und vor allem früher auf die Strukturveränderungen setzen müssen. Allerdings habe keine griechische Regierung bislang echte Reformen angepackt. Ist der Druck jetzt groß genug, um zu handeln? Auch die aktuelle Regierung hat keine funktionierende (Steuer-)Verwaltung aufgebaut, Korruption und Vetternwirtschaft nicht ernsthaft Einhalt geboten, sondern ganz im Gegenteil mit der Forderung nach einer Amnestie griechischer Steuerflüchtlinge wieder nur die Interessen der Reichen bedient. Seit mindestens fünf Jahren befindet sich das Land für jedermann offenkundig in einer massiven Staatsschuldenkrise. Doch wussten dies die Fachleute auch schon früher. Die geschönten Bilanzen vernebelten den Blick. Kein europäischer Politiker wollte öffentlich die Wahrheit sagen. Daher bringt „das Aufrechnen, Angiften, Besserwissen“ Europa jetzt nicht weiter, ist „Spiegel online“ überzeugt. Denn es gibt „keinen eindeutigen Schuldigen. Der Ausgang des Referendums zeigt, alle haben sich verrannt.“

Das nächste Beben kommt

Um sich nicht noch weiter im Klein-Klein der bisher wenig zielführenden Rettungsversuche zu verlieren, brauchte es eine grundsätzlichere Betrachtung. Denn es ist doch wohl nur eine Frage der Zeit, bis die nächste spektakuläre Aktion zur Rettung einer angeblich „systemrelevanten“ Bank oder eines heruntergewirtschafteten Staatswesens kommt, weil sich die privaten Anleger sicher sein können, dass sie im Zweifelsfall von ehrlich Steuern zahlenden Bürgerinnen und Bürgern, oft mit geringem eigenem Einkommen, gerettet werden. Entgegen der Ankündigung zu Beginn der Finanzkrise 2008 hat sich am System kaum etwas verändert. Nach der Pleite der amerikanischen Bank Lehman Brothers, die bis dahin hierzulande kaum jemand kannte, deren Zusammenbruch dennoch zur systemrelevanten Bedrohung stilisiert wurde, war wortreich erklärt worden, warum man den quasi unverschuldet in Not geratenen Gläubigern in diesem und nur diesem Fall unter die Arme greifen müsse. Strengere Regeln an den Finanzmärkten sollten ein neuerliches Beben in der Banken- und Finanzwelt verhindern. Die Griechenland-Krise ist der Beleg dafür, dass dies der Politik auf nationaler wie europäischer Ebene nicht gelungen ist. Es war nicht nur die Sorge um den kleinen Staat am Rande der Euro-Zone, die zu den Rettungspaketen führte. Vielmehr fürchteten Deutschland, Frankreich und andere um ihre eigenen Banken, Versicherungen und sonstigen Anleger, die den Griechen lange Jahre Kredite in verantwortungslosem Ausmaß gewährt hatten. Mit den Milliarden wurde nicht das Armutsrisiko griechischer Rentner verringert. Die Unsummen dienten vielmehr auch dazu, die privaten Gläubiger zu stützen, die doch das Risikogeschäft freiwillig eingegangen waren. Findige Hedgefonds-Manager haben es verstanden, dabei sogar noch Gewinne einzustreichen. Diese Spekulanten hatten sich noch vor zweieinhalb Jahren, „als Skeptiker das Auseinanderfallen der Währungsunion predigten und ein Ende des Euros prophezeiten, günstig mit Griechenland-Anleihen eingedeckt“, wie die „Frankfurter Allgemeine“ berichtete. Allein ein Manager habe seinen „Einsatz von 500 Millionen Dollar verdoppelt, als Griechenland die Staatspapiere zu einem höheren Preis zurückkaufte“. Das bedeutet, dass die Hilfsgelder, die zur „Rettung“ Griechenlands von den Euroländern, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds - der sogenannten Troika - bereitgestellt wurden, auch an zockende Hedgefonds-Manager flossen.

Die Allgemeinheit haftet

Seit die Verhandlungen in Brüssel gescheitert sind und eine Staatspleite Griechenlands als wahrscheinlich gilt, treibt das die Hedgefonds-Manager jedoch zum Wahnsinn, meint die FAZ. Denn sie halten noch immer griechische Staatspapiere und ähnliche Anlagen im Wert von zehn Milliarden Euro. Auch wenn diese Hedgefonds vermutlich kaum gerettet werden, zeigt das Beispiel das Problem im System: An den Finanzmärkten können diejenigen Geld machen, die risikoreich spekulieren. Wer in den letzten Jahren deutsche Staatsanleihen gekauft hat, konnte mit den Zinsen, die er dafür bekam, nicht einmal die Inflation, die jährliche Preissteigerung, ausgleichen. Hoch­verzinst waren und sind dagegen die Papiere von „Krisen-Staaten“, weil das Ausfallrisiko hoch ist. Doch während beim Abschöpfen der Gewinne die Regeln des freien Marktes gelten, ändert sich das schlagartig, wenn Kredite nicht zurückgezahlt werden können. Die Angst vor heftigen Turbulenzen auf den Finanzmärkten genügt, dass aufgeschreckte Regierungen und ihre Zentralbanken alles tun und sicherheitshalber die entsprechenden Papiere aufkaufen. Damit sind die Anleger aus dem Risiko entlassen, während die helfenden Staaten und damit die Allgemeinheit für sie haften und sie - noch dazu mit Gewinnen - weich betten. Die aktuelle griechische Regierung sowie linke Politiker und Kommentatoren betonen deshalb, dass mit den insgesamt 220 Milliarden Euro, die die Troika Griechenland in den vergangenen fünf Jahren zur Verfügung gestellt hat, zu neunzig Prozent europäische und amerikanische Banken beziehungsweise die über sie spekulierenden institutionellen Anleger gerettet wurden. Der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, der als Befürworter eines rigiden Sparkurses und einer Rückkehr Griechenlands zur Drachme gilt, meint jedoch, dass nur ein Drittel der Rettungs-„Geschenke“ den Kreditgebern direkt zugute gekommen seien. Von den anderen beiden Dritteln der Hilfsgelder hätten die Griechen profitiert: „in Form von einem höheren Konsumniveau … und Kapitalflucht ins Ausland“, schreibt die FAZ zu Sinns Analyse. Deshalb widerspricht dieser auch „der These einer humanitären Katastrophe durch Kaputtsparen“. Doch die Zusammenfassung seiner eigenen Analyse legt das Gegenteil nahe: „Neben den Geldern für die Auslandsbanken und dem künstlich gestützten Konsum nennt Sinn vor allem die reicheren Griechen als Profiteure der Hilfskredite.“ Die schaffen ihr Geld ins Ausland und kaufen vor allem dort ihre Luxusartikel, wovon wiederum die Wirtschaft dort und nicht das griechische Volk und seine Unternehmen profitieren. Sinn: „In der Tat gibt es anekdotische Berichte, dass Griechen in großem Umfang Bargeld ins Ausland transferiert haben, um dort Vermögenswerte zu erwerben, so zum Beispiel nach Bulgarien, wo sie als Immobilienkäufer in Erscheinung traten.“

Selbstbedienung der Seilschaften

Klar jedenfalls ist: Griechenland selber muss jetzt Gesetze schaffen und durchsetzen, die den gängigen Klientelismus und die grassierende Korruption im Staat bekämpfen. Das heißt: die Reichen in die Schranken weisen. Zu den reichsten Griechen gehört auch die orthodoxe Kirche. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Katrin Göring-Eckhardt, sprach sich in der „Welt“ dafür aus, auch die kirchlichen Privilegien abzubauen. Denn die Kirche „ist nach dem Staat der zweitgrößte Immobilienbesitzer, zahlt aber kaum Steuern. Und die Priester werden vom Staat entlohnt.“ Außerhalb der Sonntagsreden, in denen die orthodoxen Kirchenführer die Solidarität mit dem Volk beschwören, ist die offizielle Orthodoxie vom Ideal einer armen Kirche an der Seite der Armen weit entfernt. Während das Griechenland der Mächtigen sogar noch in der drohenden, faktisch längst stattfindenden Staatspleite seine Geschäfte macht und die Euros ins Ausland schafft, leiden die wenig wohlhabenden Griechen. Die ärmeren Bevölkerungsschichten werden am härtesten getroffen. Im größten Krankenhaus Athens, der Evangelismos-Klinik, „herrschen Zustände wie in einem Dritte-Welt-Land. Auf dem Flur krümmt sich ein ausgemergelter Alter vor Schmerzen. Niemand scheint sich um ihn zu kümmern. Die Ärzte sind damit ausgelastet, immer neue Notfälle aufzunehmen“, berichtete die „Zeit“. Die Rede ist gar von Operationen ohne Narkose, weil die Einfuhr von Arzneimitteln stockt. Wenn der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, als erste Reaktion auf das Nein der Griechen zum europäischen Rettungsprogramm erklärte, die Bevölkerung habe sich jetzt für die Verelendung entschieden, ist das schlichtweg falsch. Die Verelendung findet seit längerem statt. Das Nein ist eher als Protest-Reaktion darauf zu werten. Ein Drittel der Griechen ist nicht krankenversichert. Das Rentenniveau - insbesondere im unteren Bereich - ist gesunken, mehr als jeder Vierte arbeitsfähige Grieche ist arbeitslos. Dazu haben auch die Troika-Vorgaben geführt, die von den griechischen Regierungen nicht zum Wohle des ganzen Landes umgesetzt wurden, sondern so, dass davon vor allem ihre korrupten Seilschaften profitierten. „Denn als sie von den 900?000 Beamten (Stand 2008) 150?000 in Frühpension oder in die Arbeitslosigkeit entließen, nahmen sie die wohlbestallt untätigen Beamten, etwa jene, die jahrelang nicht zum Dienst erschienen, aus. Sie konzentrierten sich auf die Schwächeren: auf junge Lehrer, billige Schulwarte, auf Ärzte in öffentlichen Spitälern - mit dem dadurch entstehenden Versorgungsnotstand als Konsequenz“, so die österreichische Wochenzeitung „Die Furche“. Für den amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Joseph E. Stiglitz waren die „angeblichen Rettungsprogramme“ in Wahrheit „Rezessionsprogramme“. Gegenüber der „Zeit“ erklärte er: „Egal wie wacker sich die Griechen bemühen, sie haben keinerlei Aussicht, aus der durch diese Programme verursachten Misere herauszukommen.“ Stiglitz ist sich sicher: „Wenn man statt der erzwungenen Austerität auf Wachstumspolitik und Investitionen gesetzt hätte, wären die Schulden komplett zurückbezahlt worden“. Der Nobelpreisträger vertritt damit eine typisch amerikanische Position, die Wachstumsimpulse Sparbemühungen vorzieht. Stiglitz warnt auch vor einer Rückkehr zur Drachme. Denn dieser Schritt könnte dazu führen, dass sich das Land zu rasch erholt. Ein solcher Erfolg würde jedoch die Einheit der Euro-Zone aufs Spiel setzen: „Wenn das einträfe, dann würden sich die Spanier, Portugiesen und andere Länder das anschauen und bei der nächsten Krise sagen: Es gibt eine bessere Alternative. Warum sollen wir um den Verbleib im Euro kämpfen?“

Politik vor Wirtschaft

Wenn Papst Franziskus in seiner Enzyklika „Laudato si’“ kritisiert, dass man „die Lektionen der weltweiten Finanzkrise nicht gelernt“ habe, die „Idee eines unendlichen und grenzenlosen Wachstums“ als „Lüge“ entlarvt, die eine unbegrenzte Verfügbarkeit der Güter des Planeten voraussetzt, und wenn er die Stunde gekommen sieht, „in einigen Teilen der Welt eine gewisse Rezession zu akzeptieren und Hilfen zu geben, damit in anderen Teilen ein gesunder Aufschwung stattfinden kann“, dann sprengt er damit natürlich die vorherrschenden wirtschaftspolitischen Vorstellungen. Doch das Jahrzehnt der Banken-, Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrisen ist die Folge davon, dass sich die Menschen und ihre nationalen Regierungen dem globalen freien Markt bedingungslos anvertraut haben. Für die Vision einer weitergehenden politischen Integration Europas, wie sie Adenauer und de Gaulle, Schmidt und Giscard d’Estaing, Kohl und Mitterrand sowie Schröder und Chirac erhofft hatten, war das letzte Jahrzehnt ein verlorenes Jahrzehnt. Anstatt nur auf die Vorgaben der Finanzmärkte zu reagieren, sollten die mündigen Bürgerinnen und Bürger eines wachsenden, der Welt und den Menschen zugewandten Europas mutig handeln. Die Forderung des Papstes, den Vorrang der Politik vor der Wirtschaft wieder herzustellen, ist alles andere als romantische Schwärmerei.

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