DemokratieDemokratie in der Krise?

Die Demokratie gilt im Westen als beste Staatsform. Doch lässt sich das auf alle kulturellen Besonderheiten einfach übertragen?

Die tiefe Krise der Europäischen Union ist seit langem offensichtlich. Die Alleingänge einzelner Länder sprechen eine deutliche Sprache und zeigen, dass die na­tio­nalen Interessen weithin über der Idee einer geteilten europäischen Solidarität stehen. Die aktuellen Entwicklungen innerhalb der Nationen offenbaren aber noch eine weitere Krise: die der Demokratie als Staatsform. Der starke Zulauf zu rechtspopulistischen Bewegungen überall in Europa - Deutschland nicht mehr ausgenommen -, deren Wurzeln bis weit in die Mitte der Gesellschaft hineinreichen, ist nur ein Anzeichen dafür. Ein weiteres ist die große Unterstützung, die etwa ein sich autokratisch und rhetorisch stammtischartig gebärdender Mann wie der amerikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump in großen Teilen der Bevölkerung genießt. Trump ist der Kandidat, „der unzufriedene Amerikaner aller möglichen Weltanschauungen anspricht“, erklärte Christoph von Marschall im „Tagesspiegel“.

Brille aus anderer Zeit

Die Welt hat sich in den letzten Jahrzehnten und noch einmal stark beschleunigt in den letzten Jahren verändert. Die Gesellschaften wachsen immer enger zusammen, verstärkt durch die internationalen wirtschaftlichen Beziehungen und die Mobilität zwischen den Kulturen. Das alte Konzept der isolierten Nationalstaaten geht angesichts der grenzübergreifenden Vernetzung und der grenzüberschreitenden Umweltprobleme nicht mehr auf. Ereignisse auf der einen Seite der Welt beeinflussen auch die andere Seite. Was etwa in Nordafrika geschieht, wirkt sich auch auf Deutschland aus. In all dem Wandel hat sich der „westliche Nationalstaat“ jedoch kaum verändert. Noch immer gilt die Demokratie unangefochten als die beste und sicherste Herrschaftsform.

Warum aber drängen gerade in dieser „besten aller Herrschaftsformen“ große Teile des Volkes - um die Brandstifter rechts außen geht es hier gar nicht - so massiv auf die Straße, wie es in Deutschland derzeit passiert? Warum äußern so viele Menschen lautstark ihren Unmut, ihre Sorgen und haben das Gefühl, dass sie von den Politikern nicht ernstgenommen werden? Wenn sich in immer mehr Städten Menschen bewaffnen und als „Bürgerwehren“ nachts auf den Straßen Streife gehen wollen, heißt das auch, dass sich viele Menschen von Polizei und Staat nicht mehr beschützt fühlen. Ist das alles nur ein wenig Ruckeln im Getriebe eines noch recht jungen Staatsgefüges oder erlebt die Demokratie derzeit eine ausgewachsene Systemkrise?

Der Anschein, die Demokratie sei mit den aktuellen Krisen überfordert, ergibt sich aus einer fehlerhaften Interpretation von „Politik“, vermutet der Münchner Philosophieprofessor Michael Reder. „Die Brille, mit der heute meist auf politische Ereignisse geblickt wird, stammt aus einer anderen Zeit, und sie ist nur bedingt geeignet, die Welt, wie sie heute ist, zu verstehen“, schreibt er in den „Stimmen der Zeit“ (März-Ausgabe). Um der Überforderung zu entgehen, braucht es neue politische Ideen, die an die veränderte Welt angepasst werden. Wenn die Welt global wird, muss sich auch die Politik daran ausrichten. Homogene Gesellschaften, „die Deutschen“, gibt es nicht mehr. Das müssen auch die Menschen anerkennen, lernen, damit umzugehen, und daraus neu ihre Gemeinschaft formen.

In einer demokratischen Gesellschaft, die sich ihrer eigenen Vielfalt bewusst ist, gibt es Streit. Dieser Streit um politische Positionen sei aber kein Defizit der Demokratie, sondern letztlich ihr Motor und „Markenkern“. Im demokratischen Prozess geht es auch darum, dass sich aus verschiedenen Anfangsmeinungen der eine Kompromiss herauskristallisiert, mit dem alle gut leben können. Das geht nicht ohne leidenschaftliches Streiten, ohne Ringen um Positionen.

Ein eigenes Ventil

Im politischen Alltag geht dieses Element jedoch zunehmend verloren, beobachtet Reder. Der Wunsch der Bevölkerung nach einer Großen Koalition infolge der Bundestagswahl 2013 lässt sich „als Ausdruck dieser Sehnsucht nach Ausgleich interpretieren“. In dieser Harmoniesucht gehen unter Umständen aber auch Themen verloren und bleiben Positionen verdeckt. Das wiederum wertet der Philosophieprofessor als Gefahr für die Demokratie. „So sind heute die Themen der Pegida-Bewegung vor allem diejenigen, die in den vergangenen Jahren in der politischen Öffentlichkeit unterrepräsentiert waren. Weil es keinen demokratischen Streit über diese Themen gab, so könnte man schlussfolgern, haben sich diese Themen nun ihr eigenes Ventil gesucht - in einer politischen Bewegung, die vor dem Hintergrund unserer eigenen Sittlichkeitsbestände als hoch problematisch angesehen werden muss.“

„Natürlich ist es nicht so, dass etwas schon deshalb richtig wäre, weil viele Menschen es mit lauter Stimme bekunden“, betont der Dresdner Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt. Aber die Fragen, die sich die Demokratie angesichts von Pegida und Co. momentan stellen muss, sind für ihn keine rein akademischen mehr. „Was davon sind echte Sorgen, die man ernstnehmen muss? Was davon eingebildete Sorgen, die man abtun sollte? Wer entscheidet über Antworten auf diese Fragen?“, schreibt er in der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (40/2015). Die „besorgten Bürger“ haben wenig davon, wenn Politiker ihre Sorgen einfach in Aktionismus umsetzen. Wenn die Bedenken faktisch ignoriert und kleingeredet werden, hilft es jedoch auch nicht. „Der Mittelweg wäre einmal mehr der richtige: auf Sorgen hören, deren Ursachen thematisieren, Probleme aus den Perspektiven aller Betroffenen ansehen, mögliche von sachlich unmöglichen Lösungswegen unterscheiden, Risiken und Nebenwirkungen jeder Verfahrensweise abwägen, zielführende Optionen anhand offengelegter Wertmaßstäbe beurteilen - und auf diese Weise solche Politik entwickeln, die nicht nur gut gemeint, sondern auch gut getan ist.“

In Zeiten einer perfekt funktionierenden Demokratie und in ruhigen Lebensphasen mache sich der Bürger keine Sorgen, dass politische Entscheidungen verschleppt werden. Diese Zeiten seien allerdings selten. Häufiger komme es vor, dass Parteien mit den Bevölkerungsschichten, die sie bisher getragen haben, über Kreuz geraten und bei der nächsten Wahl dafür bestraft werden. Ebenso komme es vor, dass die gewählten Parteien neue Probleme nicht wahrhaben oder nicht angehen wollen. Falls in einer solchen Lage nennenswerte Teile der Bevölkerung ein Problem sehen und nach einer Lösung verlangen, entstehe eine „Repräsentationslücke“. Patzelt: „Ein Teil der Bürgerschaft fühlt sich von den etablierten, die bestehende politische Ordnung tragenden Parteien im Stich gelassen. Genau dann öffnet sich Raum für Protest- und Alternativparteien, können gleichsam brachliegende Politikfelder von neuen politischen Kräften bestellt werden.“ Im schlimmsten Fall gelangen Antisystemparteien in die Parlamente, erschweren die Gesetzgebung und machen Hoffnung, Pro­ble­me ließen sich durch „wohlmeinend-autoritäre Herrschaft“ lösen. Doch Prozesse „gegen das System“ spalten die Gesellschaft. Es wäre nicht schwer, die Vorboten zu erkennen und rechtzeitig gegenzusteuern. „Erkennt denn wirklich niemand, wie töricht es ist, Repräsentationslücken entstehen zu lassen?“ Es sind im Moment Parteien wie die AfD und Personen wie Donald Trump, die diese Menschen hinter sich sammeln.

Zwischen Mitte und radikal

In der ersten Reaktion auf solche Protestbewegungen erfolgt in der Regel deren Ausgrenzung. Das hält der Politikwissenschaftler jedoch für einen Fehler. „Wenn es darum geht, eine freiheitliche politische Kultur gegen ihre Gegner zu verteidigen, ist derlei Ausgrenzung höchst angebracht.“ Wenn es zur Lösung eines Problems aber eine pragmatische Politik braucht, sei die Energie verschwendet. Mit der Ausgrenzung Andersdenkender seien deren Anliegen noch lange nicht erledigt.

In solchen Lagen sollten wir auf das Prinzip des Pluralismus vertrauen, rät Patzelt. Dessen Grundgedanke sei, die Vielfalt der Interessen erst einmal so hinzunehmen und Umstrittenes auch als umstritten darzustellen. Im gemeinsamen Streiten werde dann gelernt, „ob - und welche - Sorgen zu Recht bestehen, welche Art von Empörung begründet, welche andere aber nur selbstgerecht ist und was es folglich zu tun oder zu lassen gilt“. Dazu brauche es aber einen Konsens über Grundwerte, die alle teilen. „Diese reichen - so das Bundesverfassungsgericht schon 1952 - von den Menschenrechten, die jede Form von Rassismus inakzeptabel machen, bis zum Recht aufs Dagegensein, was auch das Recht auf Torheit einschließt.“ Es brauche außerdem einen Konsens über die Spielregeln des Streits, also etwa die Verpflichtung, auf körperliche und seelische Gewalt zu verzichten. Denn es gibt die Brandstifter und geistigen Zündler, die Krawall um des Krawalls willen suchen. Das muss eine Demokratie nicht tolerieren. Bei Beleidigung, Körperverletzung und Gewaltverbrechen ist eine klare Grenze geboten, die der Staat mit aller Macht verteidigen muss. Dazu haben die Väter des deutschen Grundgesetzes der jungen Bundesrepublik im Geiste einer „wehrhaften Demokratie“ auch wirksame Instrumente an die Hand gegeben, etwa das Verbot von „Antisystem“-Parteien, wie es aktuell im Fall der NPD wieder diskutiert wird. Außerdem, so Patzelt, müsse man sich über den Ort, an dem der demokratische Streit geführt wird, verständigen: Auf der Straße kann demonstriert werden, entschieden wird aber im Parlament.

Den Erfolg der AfD und ihre fast schon reflexhafte Ausgrenzung führt der Journalist Jasper von Altenbockum in der FAZ auch auf Versäumnisse der etablierten politischen Kräfte zurück. „Die alte Bundesrepublik lebte, je älter sie wurde, in der Gewissheit, dass sich ‚rechts‘ aus historischen Gründen eine akzeptable Partei nicht bilden könne.“ Die Konservativen fanden ihre Heimat in CDU, CSU und der FDP. „Das ging schließlich so weit, dass ‚rechts‘ gesagt wird, wo rechtsradikal gemeint ist. Die Folge: Zwischen Mitte und rechtsradikal gab es scheinbar nichts mehr“. Doch dieser Platz sei nie verschwunden gewesen, sondern nur von keiner Partei besetzt. Die Konservativen hätten der Kampagnenfähigkeit der Linken nichts entgegenzusetzen gehabt. Inhaltlich sei nennenswerte Gegenwehr gegen den „Fortschritt“ ausgeblieben. Einen anderen Fehler der etablierten Parteien sieht der Journalist Jakob Augstein, der auf „Spiegel online“ notiert: „Der Kapitalismus ist krank. Irgendjemand muss ihn heilen. Medien und Politik tun sich schwer, das zu erkennen. Sie müssten ihr eigenes Verschulden zugeben: Jahrzehntelang klatschten sie Beifall, während der Neoliberalismus unsere Gesellschaften vergiftet hat.“ Der Historiker Hans-Ulrich Wehler kritisierte bereits vor zwei Jahren, die Verteilungsgerechtigkeit werde als oberster Grundsatz jeder seriösen Steuerpolitik bei der Verteilung des erwirtschafteten Sozialprodukts missachtet. „Wie viel Krisendruck muss es geben, damit dieses Land wirklich reformfähig wird?“

Gewalt und Demokratie

Neben den Widersprüchen im Inneren sehen sich demokratische Staaten in den aktuellen internationalen Krisen und Kriegen dieser Welt mit einem weiteren Spannungsverhältnis konfrontiert, bemerkt Michael Reder. „Wie können Demokratien Frieden fördern, wenn dies scheinbar die Einmischung in Gewaltkonflikte verlangt, was wiederum der demokratischen Ausrichtung auf Frieden zu widersprechen scheint?“ Der Zusammenhang zwischen Demokratie und Frieden wird seit der Schrift „Zum Ewigen Frieden“ des Philosophen Immanuel Kant intensiv diskutiert. Die Politikwissenschaft formulierte dazu die These, dass Demokratien besser geeignet seien, Frieden und Gerechtigkeit herzustellen, als undemokratische Staaten. So einfach ist der „demokratische Frieden“ aber nicht, und hier liegt das Problem in allen Versuchen, Demokratie in Völker und Nationen exportieren zu wollen, die gewisse westliche Voraussetzungen nicht haben und auch nicht erfüllen wollen oder können. „Denn offensichtlich ist es dem Westen nicht gelungen, die Demokratie als Friedensprojekt in dem Maße zu globalisieren, wie er es sich vorgenommen hatte.“ Länder wie Afghanistan oder der Irak seien heute mehr denn je von Gewalt geprägt. Das liege daran, dass militärische Interventionen, selbst wenn sie von demokratischen Staaten kommen, nicht automatisch zu mehr Demokratie und Frieden führen. Auch deshalb nicht, weil sich der Westen nie überlegt habe, wie man die Demokratie an die verschiedenen kulturellen Gegebenheiten anpassen könnte.

Dabei hätte der Westen diese Lektionen angesichts so vieler gescheiterter Demokratisierungsprojekte schon lange lernen können. Eine Lehre habe Europa allerdings gezogen, meint der Journalist Roger Cohen in der „New York Times“. Europa, wo der Faschismus zuerst Fuß fasste, wisse, dass Demokratien scheitern können, „nach verlorenen Kriegen, in Zeiten von Angst, Zorn und wirtschaftlicher Not, wenn schmollende Demagogen mit ihrem Prunk und ihren Versprechen auftreten“. Amerikas fehlerhafte Demokratie, die an die Weimarer Republik erinnere, ist für Cohen offensichtlich. Aus diesem beschädigten Staat sei Donald Trump hervorgegangen. „Er ist die späte Ernte des 11. September und der Ängste, die bis heute nachwirken. Er ist das Zentrum unbestimmter Hoffnungen und düsterer Ressentiments, die ihn in einen Erlöser im Wartestand verwandelt haben“. Dieses desorientierte Amerika wolle Trump, die anderen Kandidaten sollten das ernstnehmen, mahnt Cohen. „Wie Europa weiß, können Demokratien sterben. Oft sind sie Geburtshelfer ihres eigenen Untergangs. Einmal verloren, ist der Preis der Wiederbelebung hoch.“ Sind das für die bedeutendste und größte Demokratie der Welt übertriebene Befürchtungen?

Die Krisen der Gegenwart fordern nicht nur die einzelnen Staaten heraus, sondern machen auch deutlich, dass Demokratie kein Selbstläufer ist. So wie die Bürger immer aufs Neue Demokratie einüben müssen, muss sich auch das politische System an die veränderte Wirklichkeit anpassen, Krisen durchlaufen und daran wachsen. Aus westlicher Sicht bleibt Demokratie das „beste aller Herrschaftssysteme“ - trotz bekannter Schwächen und ein wenig auch aus Mangel an besseren Alternativen. „Ob es sich dabei allerdings um die einzig legitimierbare Form handelt und wie kulturelle Alternativen aussehen können, wird meist zu wenig diskutiert“, bedauert Reder. So schmerzhaft es für den Westen auch sein mag, stellt sich eben auch die Frage, ob Demokratie wirklich automatisch immer das beste politische System ist oder ob man sie nicht doch in den Kontext der jeweiligen Staaten übersetzen muss.

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