Apokryphe WeihnachtsevangelienAuf Heu und Stroh

Die apokryphen Weihnachtsevangelien sind Zeugnisse einer frühen Volksfrömmigkeit. Es handelt sich um Texte aus späteren Jahrhunderten, die nicht in die Sammlung der verbindlichen biblischen Schriften aufgenommen wurden.

Wenn Kinder im Haus sind, ist sie besonders beliebt: eine Krippe mit Ochs und Esel, mit Hirten und Schafen, mit Engeln und einem Stern, mit einem Stall, mit Josef und Maria und dem Jesuskind in der Mitte. Diese Tradition geht auf den heiligen Franziskus zurück, der sie mit lebendigen Menschen und Tieren begründet hat. Jedes Krippenspiel steht in seiner Nachfolge. Aber auch wenn die Figuren aus Holz, Gips oder Stein sind - eine Krippe unter dem Christbaum macht deutlich, dass nicht Väterchen Frost gefeiert wird, nicht eine Wintersonnenwende, sondern die Geburt Jesu, des Messias, des menschgewordenen Gottessohnes.

Wer am Heiligen Abend auch die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium liest, wird freilich daran erinnert, wie zurückhaltend das Neue Testament ist: Es gibt dort keine bösen Menschen, die der Heiligen Familie hart die Tür weisen. Es gibt kein Rätselraten über den Vater des Kindes. Es gibt keinen Stall mit Tieren. Es gibt nur Maria und Josef mit Jesus, nur die Hirten aus der Stadt Davids und den Chor der Engel mit dem Lied zur Ehre Gottes, der auf Erden Frieden bringt.

Kein Zweifel: Das ist das Zentrum. Hier schlägt das Herz des Weihnachtsfestes. Lukas, der „Maler“, wie die kirchliche Tradition ihn zeichnet, versteht sich auf die Kunst des Weglassens. Er will das ins Licht rücken, was alle Aufmerksamkeit verdient: Kaiser Augustus setzt die ganze Welt in Bewegung, um sein Reich zu mehren. Aber wichtig ist nur, dass auf diese Weise Maria ihr Kind in Bethlehem zur Welt bringt, so wie es beim Propheten Micha verheißen ist (Mi 5,1f). Deshalb ist das Weihnachtsevangelium frei von Kitsch. Deshalb geht es zu Herzen.

Überbordende Phantasie

Doch was ist mit dem Leben, das sich um dieses Zentrum herum abspielt? Welche Nebenschauplätze gibt es? Was hat sich am Rand des Geschehens getan? Hier gibt das Neue Testament keine Antwort. Aber die Evangelien, die in die Bibel aufgenommen worden sind, bilden nicht das Ende, sondern den Anfang der literarischen Gattung. Viele weitere Evangelien sind in der Geschichte des Christentums geschrieben worden, viele unter dem Namen von Aposteln. Diese Evangelien füllen die weißen Flecken auf der Landkarte des Neuen Testaments. Einen historischen Quellenwert haben sie nicht. Aber sie spiegeln die Volksfrömmigkeit vergangener Zeiten, die immer noch populär ist, gerade beim Blick auf das Jesuskind.

„Apokryph“ werden diese Evangelien genannt, zu Deutsch: geheim. Es sind nicht etwa verbotene Schriften, auch wenn viele Theologen und Bischöfe skeptisch waren und bis heute sind: Eine überbordende Phantasie würden sie zeigen und theologisch nicht immer ganz koscher sein. Tatsächlich wollen einige der Apokryphen die harten Fakten der Jesusbiografie nicht wahrhaben: dass Jesus wirklich am Kreuz gestorben, dass er ein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen und dass er wirklich als Menschenkind zur Welt gekommen ist. Manchen schwebt ein Scheintod vor. Andere sehen Jesus mit einem Scheinleib über die Erde schweben und seine Geburt eher als Aufblitzen einer Idee denn als Ende einer Schwangerschaft und als Beginn eines echten Lebens als Mensch unter Menschen. Immer wird dann das Alte Testament abgehängt. Die Theologie der Schöpfung wird geleugnet. Die Erlösung wird halbiert, weil sie nur noch die Seele, nicht auch den Leib berühren würde, nur das ewige, nicht auch das irdische Leben, nur das eigene Heil, nicht auch das der anderen.

Geheime Botschaften

Aber die Texte, die in diese Richtung gehen, sind Ausreißer. Es gibt keinen Grund, die Apokryphen unter Generalverdacht zu stellen. Sie sind allerdings auch nicht die besseren Alternativen zum Neuen Testament. An Verschwörungstheorien fehlt es nicht: Die Geheimschriften, liest und hört man immer wieder, würden unverblümt die Wahrheit sagen, die von der Kirche unterdrückt worden sei. Wer so denkt, darf sich nicht am Lesen der Texte vorbeimogeln. Die apokryphen Evangelien sind, deutsch übersetzt und gut erklärt, in zwei dicken Bänden neu herausgekommen („Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung“, Bd. I: Evangelien und Verwandtes. 2 Teile, hg. v. Christoph Markschies und Jens Schröter, Tübingen, siebte Auflage 2012). Die meisten Menschen, die sie gelesen haben, werden froh sein, dass es in der Bibel bei den vier Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes geblieben ist. Das nimmt den apokryphen Texten jedoch nichts von ihrem Reiz.

Im Altertum bedeutete „geheim“: wichtig! Viele apokryphe Evangelien sind mit einem hohen Anspruch geschrieben worden. Sie wollten mehr als die kanonischen Evangelien bieten. Sie wollten andere Blickwinkel öffnen und wider den Stachel löcken. Keines dieser Evangelien erzählt die gesamte Geschichte Jesu. Alle konzentrieren sich auf einen Schwerpunkt: Eine ganze Reihe malt sich aus, was Jesus seinen Jüngern nach seiner Auferstehung vor seiner Himmelfahrt gesagt hat. So werden neue Deutungen seines Todes und seiner ganzen Sendung unter die Leute gebracht. Ein anderer Typ stellt Jesus als Weisheitslehrer vor Augen, der viele Hinweise zu einem guten, sinnvollen, erfüllten Leben gegeben hat. Die dritte Grundform sind die Kindheitsgeschichten, meistens mit langen Ausführungen zum Leben der Jungfrau Maria, von denen die katholische und orthodoxe Volksfrömmigkeit tief geprägt ist.

All diese Evangelien sind jünger, meistens sogar sehr viel jünger als die neutestamentlichen Evangelien. Die ältesten stammen aus dem zweiten Jahrhundert, aber von Generation zu Generation sind immer neue Evangelien geschrieben worden. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die literarische Produktion bis heute nicht abgebrochen ist. Man muss nur an die Fülle neuer Jesusromane denken, von den Dan-Brown-Schinken über ernsthafte Annäherungsversuche wie den von Emmanuel Carrère („Das Reich Gottes“) bis zu großer Literatur wie der von Patrick Roth („Christus-Trilogie“; „Sunrise. Das Buch Josef“).

Die meisten der apokryphen Kindheitsevangelien bewegen sich im breiten Spektrum einer kirchlichen Theologie für das Volk. Sie waren nie so verbreitet und anerkannt wie die Evangelien nach Markus, Matthäus, Lukas und Johannes. Aber für bestimmte Regionen, für manche Details, für einzelne Gruppen hatten und haben sie große Bedeutung. Als Erweiterung dessen, was zum Kern des Weihnachtsglaubens gehört, regen sie die Phantasie an. Sie schmücken den Raum für das Weihnachtsfest aus. Sie bieten Anknüpfungspunkte für Jung und Alt, Reich und Arm, Nord und Süd, West und Ost.

Populäre Theologie

Die älteste und einflussreichste Kindheitsgeschichte außerhalb des Neuen Testaments ist das „Protevangelium des Jakobus“. „Protevangelium“ heißt, frei übersetzt: Vor-Evangelium. Der Text stammt vermutlich aus der Mitte oder vom Ende des 2. Jahrhunderts nach Christus. Ein „Jakobus“ soll ihn in Jerusalem verfasst haben (ProtEvJak 25,1). Gemeint ist der „Herrenbruder“, der in der Urgemeinde eine Schlüsselstellung eingenommen hat (vgl. Apg 15,15-21). Ihm wird zugetraut, dass er Familientraditionen weitergegeben hat. Tatsächlich ist das Protevangelium zu großen Teilen eine Hommage an Maria. Ihre Geburt und ihre Erziehung im Tempel nehmen das erste Drittel des Buches ein. Das zweite Drittel beschreibt die entscheidende Wende in ihrem Leben: die Verkündigung des Engels. Der Schlussteil erzählt von der Geburt selbst, bis hin zum Besuch der Weisen aus dem Morgenland und der Rettung des Kindes vor Herodes, wie dies aus dem Matthäusevangelium bekannt ist (Kap. 2).

Besonders stark leuchtet und schillert das Frauenbild. Maria ist für „Jakobus“ eine fromme, gebildete und selbstbewusste Frau, mit der Gott sehr viel vorhat. Sie verschreibt sich der Askese, aber nicht aus Verachtung des Leibes, sondern aus Liebe zu Gott. Das war und ist hochaktuell. Für Frauen, die nicht ewig die zweite Geige hinter ihrem Mann spielen und nicht sein Sexualobjekt sein wollten, wie es für die Antike typisch war und in großen Teilen dieser Welt immer noch ist, wirkt die Selbstbestimmung durch den Glauben als Befreiung. Dass dieser marianische Ansatz vielfach sexualfeindlich gewendet worden ist, nimmt ihm nichts von seiner spirituellen und sozialen Kraft, deren Wirkung ungebrochen ist.

Diese eine Jungfrau, nur sie, ist aber Mutter geworden, wie auch bei Matthäus und Lukas zu lesen steht. Das Protevangelium strahlt das Drama dieser Unmöglichkeit von zwei Seiten aus an. Die eine Seite: Maria wird als Ehebrecherin verleumdet und vom Hohenpriester mit der Todesstrafe bedroht. Die Verleumdung und Bedrohung Marias werden ein Leitmotiv apokrypher Evangelien. Es spiegelt die bereits in der Antike weit verbreitete Skepsis gegenüber dem Glauben an die Jungfrauengeburt. Die Apokryphen stellen sich aber auf die Seite Marias - und damit indirekt auf die Seite aller Frauen, die in einer Männerwelt verspottet, verachtet, vernichtet werden. Maria und Josef bestehen nach dem Protevangelium ein Gottesurteil, das in der Tora vorgeschrieben ist (Num 5,11-31), so dass selbst der Hohepriester überzeugt wird.

Auf der anderen Seite werden zwei weitere Frauen ins Licht gestellt. Die erste ist die Hebamme, die Josef herbeiholt, um Maria bei der Geburt beizustehen. Durch sie lebt die Erinnerung an Mose auf und die List der hebräischen Hebammen Schifra und Pua, die dem ägyptischen Pharao ein Schnippchen schlagen, der befohlen hatte, die jüdischen Knaben direkt nach der Geburt zu töten (Ex 1). Hier aber geht es nicht darum, den Tod zu verhindern, sondern das Wunder des Lebens zu feiern. „Wie groß ist der heutige Tag“, bekennt die Hebamme, als sie - so die orthodoxe Tradition bis heute - die Geburtshöhle betreten hat: „dass ich dieses neue Schauspiel gesehen habe“ (ProtEvJak 19,2). Vor der Höhle trifft sie eine andere Frau, die „Salome“ heißt, wie eine der „Leichensalbfrauen“, wie sie Peter Handke nennt, im Markusevangelium. Die spielt die Rolle des ungläubigen Thomas (Joh 20,24-29): „Wenn ich meinen Finger nicht hinstrecke und ihre Natur (griechisch: physis) untersuche, werde ich nicht glauben, dass eine Jungfrau geboren hat“ (ProtEvJak 19,3). Der Text wird drastisch, wie es die Antike liebt: Die Hand Salomes, die sich sogleich mit einem „Jungfrauentest“ an die Untersuchung der Jungfräulichkeit Marias macht, verbrennt und verdorrt. Aber als ihr erlaubt wird, das Kind auf den Arm zu nehmen, wird sie geheilt (ProtEvJak 20,3).

Große Wunder

Das Protevangelium schätzt Glanz und Gloria der Wunder - wie alle Apokryphen und wie viele religiöse Menschen bis heute, manchmal zu sehr. Naiv ist der Autor „Jakobus“ aber nicht. Die Geschichte verbündet sich vielmehr mit mythischen Erzählungen und mit der biblischen Überlieferung, dass Sonne und Mond stehengeblieben seien, bis Josua und die Israeliten in höchster Not gegen die Amoriter gesiegt hatten (Jos 10). Im Moment der Geburt ist Josef draußen vor der Höhle, auf der Suche nach einer Hebamme: „Und ich schaute hinauf zum Gewölbe des Himmels und sah es stillstehen, und in die Luft und sah sie erstarrt und die Vögel des Himmels nicht weiterfliegen“ (ProtEvJak 18,2). Auch auf der Erde stoppt das Leben für einen Moment: „Ich sah, wie Schafe getrieben wurden und die Schafe stehen blieben, und der Hirte erhob seine Hand, sie zu schlagen, und seine Hand blieb oben“ (ProtEvJak 18,3).

Man würde das Protevangelium unterschätzen, würde man denken, hier solle die Poesie die Physik aushebeln. Die Symbolik ist offenkundig. Die Geburt Jesu verändert alles. Sie berührt alles, die ganze Schöpfung. Das ist christlicher Glaube, der die Welt verändern will, weil er die Welt verändert sieht. Um auszudrücken, was sich einer rationalen Erklärung entzieht, braucht es die Sprache der Dichtung und der Liturgie. Auch die Jungfrauengeburt entzieht sich, macht „Jakobus“ klar, einer gynäkologischen Untersuchung. Wer sie anstellen will, verbrennt sich die Finger. Deshalb ist sie aber kein Tabu. Es gilt, sie im Lichte Gottes zu betrachten, des Erlösers. So tut es die Hebamme, die im Stil des „Magnificat“ betet: „Groß ist heute meine Seele; denn meine Augen haben heute Unglaubliches (griechisch: paradoxon) gesehen: Israel ist heute das Heil geboren“ (ProtEvJak 19,2). Später stimmt auch Salome ein: „Anbeten will ich Gott; denn dieser ist geboren als König von Israel“ (ProtEvJak 20,4).

In den Erzählungen kommt zur Sprache, was nur geglaubt werden kann: die Menschwerdung Gottes. Es kommt so zur Sprache, dass die Unglaublichkeit nicht verschwiegen, sondern aufgedeckt und die Geschichte des Glaubens als eine Geschichte der Skepsis entdeckt wird, die selbst Skepsis verdient.

Kleine Zeichen

Andere Kindheitsevangelien bedienen eher das fromme Unterhaltungsinteresse. Das Kindheitsevangelium des Thomas, das an der Wende vom 3. zum 4. Jahrhundert geschrieben sein könnte, lässt den Knaben und den Jugendlichen eine ganze Serie von Spektakeln inszenieren: von netten wie denen, dass ein eingesalzener Fisch wieder im Wasser schwimmt und Lehmvögelchen mit einem Mal fliegen können, bis zu ruppigen, dass ein Kind, das Jesus dumm kommt, auf der Stelle verdorrt. Geht es näher an die Geburt, wird das Getöse leiser.

Das ländliche Bethlehem ist der Schauplatz der Weihnachtsgeschichte. In den Apokryphen wird er bebildert. Sie bieten aber mehr als Folklore. Im Kindheitsevangelium des Matthäus, nicht mit dem neutestamentlichen zu verwechseln, stehen Ochs und Esel an der Krippe. Dieser Text stammt aus dem 9. Jahrhundert, also aus der Zeit Karls des Großen. Dieses Evangelium will die Übersetzung eines hebräischen Originals durch den heiligen Hieronymus sein, auf den die Vulgata, die lateinische Standardübersetzung der Bibel, zurückgeführt wird. Das „Pseudo-Matthäusevangelium“, wie es seit dem 19. Jahrhundert meist genannt wird, folgt im Wesentlichen dem Protevangelium des Jakobus. Aber es setzt eigene Akzente. „Am dritten Tag nach der Geburt des Herrn verließ Maria die Höhle und ging in einen Stall. Sie legte den ­Knaben in eine Krippe. Ochs und Esel beteten ihn an“ (PsMt 14,1). Die östliche Tradition der Geburt in einer Höhle und die westliche einer Geburt im Stall sind hier miteinander verbunden. Besonders wichtig aber sind die Tiere. Sie sind ganz nah beim Christuskind. Sie können beten. Das ist weihnachtliche Ökologie. Nicht nur für Kinder sind die Tiere Helfer auf dem Weg zur Krippe.

Das nachgeahmte Matthäusevangelium geht aber weiter. Es sieht einen engen Bezug zur Heiligen Schrift und zur Theologie Israels: „Da ging in Erfüllung, was der Prophet Jesaja gesagt hat: ‚Es kennt der Ochse seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn‘ (Jes 1,3).“ Bei Jesaja ist die Fortsetzung kritisch: „Israel aber erkennt nicht, mein Volk kommt nicht zur Einsicht.“ Das wird hier jedoch nicht zitiert. Von Antijudaismus findet sich keine Spur. Stattdessen liegt das Augenmerk auf der Größe des Geheimnisses, das schwer zu erkennen ist. So besagt es ein zweites Zitat, das aus dem Buch des Propheten Habakuk stammt (Hab 3,2), aber weder dem hebräischen Original noch der griechischen Übersetzung, sondern einer sehr alten lateinischen Fassung folgt: „In der Mitte zwischen zwei Tieren wirst du bekannt werden.“ Jesus bildet für den christlichen Glauben nicht nur die Mitte der Menschheit, sondern aller Geschöpfe und des gesamten Kosmos.

So wie Matthäus schildern auch viele apokryphe Kindheitsevangelien die Flucht nach Ägypten (vgl. Thomas Söding, Robert Vorholt, „Das Flüchtlingskind in Gottes Hand“, 2016). Sie fangen nicht historische Erinnerungen ein, sondern entwerfen weite Landschaften, in denen der Glaube heimisch wird. In der gegenwärtigen Sorge um einen menschenwürdigen Umgang mit Flüchtlingen, um eine kluge Lösung der kriegerischen Konflikte im Nahen Osten und eine intelligente Friedenspolitik für den gesamten Globus sind sie von großer Bedeutung. Denn sie spiegeln mit den Augen der Heiligen Familie, wie Flüchtlinge die Länder sehen, in die sie vertrieben werden, und wie Menschen, die dort heimisch sind, Flüchtlinge sehen.

Weite Wege

Dass die Flucht nach Ägypten geht, ist besonders brisant. Denn das Land der Pharaonen erscheint im Buch Exodus als Sklavenhaus, aus dem Gott sein Volk befreien muss. Aber im Alten Testament gibt es auch andere Facetten. Mose trägt einen ägyptischen Namen. Thomas Mann hat daraus eine ganze Novelle gemacht („Das Gesetz“, 1944). Jesus hat einen jüdischen Namen, aber er ist der apokryphen Tradition zufolge in Ägypten aufgewachsen. Wie immer es um die Historizität steht: Für die Kopten, die Christen am Nil, ist diese Überlieferung eine Garantin für ihr Heimatrecht in Ägypten, das ihnen niemand streitig machen darf.

In der apokryphen Literatur gibt es viele verschiedene Facetten, aber zwei klare Linien, die verfolgt werden. Die eine: Jesus tut den Ägyptern Gutes. Besonders erzählfreudig ist dazu das „arabische Kindheitsevangelium“, das aus dem 5. oder 6. Jahrhundert stammen dürfte, jedenfalls aus vorislamischer Zeit: Diebe werden vertrieben (arabK 13). Eine Besessene wird geheilt (arabK 14-15). Eine stumme Braut findet ihre Stimme wieder (arabK 15-16). Eine Aussätzige wird rein (arabK 16-17). Es kündigt sich an, was vom erwachsenen Jesus in Israel erzählt werden wird. Nur ist der Horizont bereits international.

Die andere Linie: Ägypten ist gastfreundlich. Es gibt zwar den dunklen Hintergrund des Götzendienstes, aber immer wieder finden sich Menschen, vor allem Frauen, die den Flüchtenden Unterkunft bieten, Asyl gewähren. Ägypten ist für Jesus kein feindliches Gebiet, das es zu erobern gälte, sondern das Land einer „Willkommenskultur“, in dem er überleben konnte, um gestärkt in seine Heimat zurückzukehren.

Im Neuen Testament werden die apokryphen Evangelien nicht vermisst. In die Eucharistiefeier der Heiligen Nacht gehören sie nicht. Aber wer sich ein kindliches Herz bewahrt hat, braucht sich nicht zu schämen, wenn sie unter die Haut gehen.

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