Emmy HenningsVon Dada zum Paradies

Die Künstlerin Emmy Hennings unterwarf sich nicht den üblichen Normen. So unangepasst sie war, so sehr haderte sie mit dem Leben. Zuflucht fand sie bei ihrer großen Liebe und der Religion.

Ein wildes, unstetes, unkonventionelles Künstlerleben zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Eine Frau zieht als Schauspielerin, Tänzerin und Sängerin durch ganz Deutschland. Einerseits wird Emmy Hennings als Muse, Diseuse und Dichterin gefeiert, andererseits gerät sie als Hure und Drogenabhängige immer wieder an den Rand des Abgrunds. Als Poetin und Schriftstellerin ist sie zeitweise sehr erfolgreich. In Erinnerung geblieben sind jedoch weniger ihre Werke als ihre Verbindung mit Hugo Ball und mit einem Erdbeben in der Kunstszene Zürichs: Dada.

Emmy Cordsen wird 1885 in Flensburg als Tochter eines ehemaligen Seefahrers geboren. Um die Reisen des Vaters erfindet Emmy schon früh abenteuerliche Geschichten. Noch als Schülerin verdingt sie sich als Haushaltshilfe, um sich den Eintritt ins Theater leisten zu können. Doch der Traum, selbst einmal auf der Bühne zu stehen, bleibt vorerst unerfüllt. Emmy schlägt den vorgezeichneten Weg ein: Arbeit, Sparen auf die Aussteuer, Heirat, Kinder. Mit achtzehn Jahren tritt sie dennoch einer Laienschauspielgruppe bei. Sie meint, beides vereinen zu können, den Wunsch der verwitweten Mutter, sie in einer Ehe versorgt zu wissen, und die Bühne. Einer der Akteure in der Gruppe ist der Schriftsetzer Joseph Hennings.

„Gebet im Fegefeuer“

Eine Schwangerschaft führt in eine erste Ehe, die schon nach kurzer Zeit zerbricht. Das kränkelnde Kind wird bei der Großmutter untergebracht, es lebt kaum ein Jahr. Emmy zieht mit einer anderen Theatergruppe fort, wird erneut von einem Ensemble-Mitglied schwanger und bekommt eine Tochter: Annemarie. Auch dieses Kind bleibt bei der Großmutter, während die Mutter, mittlerweile 21, alleine von Engagement zu Engagement tingelt. Weil sie öfter vertragsbrüchig wird, bekommt Emmy Hennings keine Rollen mehr. Sie geht hausieren, „macht die Straße“. Zehn Jahre später wird sie diese Erfahrungen in ihrem Romantagebuch „Das Brandmal“ verarbeiten. 1909 gelingt ihr in Frankfurt am Main die Rückkehr auf die Bühne. Durch den befreundeten Grafiker John Höxter findet sie Eingang in die Berliner Bohème, verliebt sich in Ferdinand Hardekopf, lernt Herwarth Walden und dessen Frau, Else Lasker-Schüler, kennen, die wiederum einen ganzen Kreis junger Dichter und Kritiker um sich geschart hat: Alfred Döblin, Georg Trakl, Gottfried Benn, Karl Kraus, Theodor Däubler, Richard Dehmel und andere.

In dieser Atmosphäre beginnt auch Emmy Hennings zu schreiben: Ätherstrophen und Morfingedichte, die in verschiedenen Zeitschriften erscheinen. Was sie schreibt, entspricht ihr. Emmy Hennings bezahlt den Rausch ihrer Freiheit mit der Abhängigkeit von den Drogen, wie auch ihr Gedicht „Morfin“ zeigt: „Wir warten auf ein letztes Abenteuer / Was kümmert uns der Sonnenschein! / Hochaufgetürmte Tage stürzen ein. / Unruhige Nächte - Gebet im Fegefeuer! // Wir lesen auch nicht mehr die Tagespost / Nur manchmal lächeln wir still in die Kissen, / Weil wir alles wissen und gerissen / Fliegen wir hin und her im Fieberfrost. // Mögen Menschen eilen und streben / Heut fällt der Regen noch trüber. / Wir treiben haltlos durchs Leben / Und schlafen, verwirrt, hinüber.“

Emmy Hennings pendelt zwischen Berlin und München, reist mit Hardekopf nach Paris. Im Sommer 1910 erkrankt sie dort an Typhus. Es dauert lange, bis sie sich erholt. Die Todesnähe, die sie erfahren hat, wird oft in Zusammenhang gebracht mit ihrer Hinwendung zur Religion. 1911 tritt sie in die katholische Kirche ein. Vorher scheint sie eine Nähe zur reformierten Kirche gehabt zu haben. Es gibt auch eine biografische Randnotiz zum Pietismus. Aber das ist alles vage; auch, ob sie getauft war. Ihre Freunde reden in Erinnerungsdokumenten davon, dass sie sich in der Münchener Ludwigskirche taufen ließ. Das aber würde bedeuten, dass ihr die Taufe fehlte, weil eine katholische „Wiedertaufe“ unwahrscheinlich wäre. Vielleicht wurde sie in München gefirmt.

Rätselhaft ist auch, wieso sie sich gerade dem Katholizismus zuwandte in einem künstlerischen Umfeld, in dem sehr viele verschiedene Geistesströmungen durcheinanderwirbelten, in dem mit okkulten und spiritistischen Praktiken experimentiert und die Mystik wiederentdeckt wurde, in einer Zeit, in der Psychoanalyse und Traumdeutung aufkamen. Vielleicht waren die Marien- und Heiligenverehrung, die Sinnlichkeit der Liturgie, die bildreichen Geschichten, Gebete und Lieder ihrem Wesen näher als die Nüchternheit evangelischer Kirchen und Gottesdienste. Häufig besucht sie nach ihren abendlichen Auftritten, nach langen, wilden Nächten die Frühmesse. Sie scheint Halt und Trost im Gebet, in der festen Struktur der Messe zu suchen, ganz entgegen ihrem Lebenswandel, der sie so ziemlich alle christlichen moralischen Gebote missachten, gegen alle Konventionen verstoßen lässt.

Heiliger Eigensinn

In ihrem damaligen Freundes- und Liebhaberkreis stößt ihre Bekehrung auf wenig Verständnis. Erich Mühsam bemerkt in seinen Aufzeichnungen: „Es ist allerliebst zu sehen, wie sich bei ihr der Entschluss, katholisch zu werden, so durchaus deutlich aus Neugier, Sentimentalität und Geilheit zusammensetzt.“ Mit dieser Deutung ist jedoch kaum erfasst, was Emmy Hennings in dieser ihr eigenen „Vielfachheit“, im Gegeneinander und Ineinander von Lebensweise und Religiosität, in ihrer Unfähigkeit und ihrem Unwillen, sich einzufügen, sich Regeln zu unterwerfen, tatsächlich zu ihrem Entschluss bewogen hat.

Erst viele Jahre später, in einem Brief von 1927 an Hermann Hesse, zeigt sich, dass sie sich zwar der Religion, jedoch nicht der katholischen Kirche zugehörig fühlt: „Es ist ein Unterschied, ob ich den lieben Gott bekenne oder die wohlgepflegten Katholiken. Ich gehöre nicht zu diesen, aber kleinkriegen sollen sie mich nicht. Ich hab im Grunde eine unbesiegbare Aversion gegen jedes System und keine Lust, mich einem anderen Gesetz unterzuordnen als dem heiligen Eigensinn…“ In einem weiteren Brief 1933 benennt sie schließlich, wieso ihr der Glaube lebensnotwendig geworden ist: „Es handelt sich nur darum, was ich brauche, was ich nötig habe, und ich kann nicht leben ohne eine unendlich große bewusste Allmacht, die über allem ist. Da ich mich selbst nur träume und nicht wirklich leben kann, wie ich es möchte, warum soll man sich nicht Gott und alle Heiligen erträumen?“

Leben, Religion, Traum und Poesie gehen ineinander. Emmy Hennings schreibt sich selbst. 1922 erscheint ihr Gedichtband „Helle Nacht“, darin auch folgende Verse aus dem Gedicht „Traum II“: „Ich bin so vielfach in den Nächten / Ich steige aus den dunklen Schächten / Wie bunt entfaltet sich mein Anderssein. // So selbstverloren in dem Grunde, / Nachtwache ich, bin Traumesrunde / Und Wunder aus dem Heiligenschrein. // Und öffnen sich mir alle Pforten, / Bin ich nicht da, bin ich nicht dorten? / Bin ich entstiegen einem Märchenbuch? // Vielleicht geht ein Gedicht in ferne Weiten. / Vielleicht verwehen meine Vielfachheiten, / Ein einsam flatternd, blasses Fahnentuch…“

Stets am Rand des Abgrunds

Bis dahin jedoch sind es mehr als konkrete Erfahrungen, die Emmy Hennings zu bewältigen hat. Sie erlebt den Tod einer befreundeten Tänzerin, erleidet Fehlgeburt und Schwangerschaftsabbruch, ist nach wie vor drogensüchtig und landet schließlich im Gefängnis. Mehrere kurze Haftstrafen zwischen Juli 1914 und März 1915 werden zum Trauma. „Mir ist, als hätte ich für immer einen Schock bekommen, einen Knacks, der sich nicht mehr rückgängig machen lässt.“ Der tatsächliche Hintergrund hierzu lässt sich nur annähernd rekonstruieren. Der angebliche Diebstahl an einem Freier und eine angebliche Beteiligung an Passfälscherei bringen ihr die Strafen ein.

Hugo Ball besucht sie im Gefängnis. Sie haben sich 1913 in der Münchener Künstlerkneipe „Simplicissimus“ kennengelernt. Ball verliebt sich in den Star der Cafés und Cabarets, zu dem Emmy Hennings sich entwickelt hat. Sie jedoch bleibt dem ernsthaften, ihr teils zynisch, teils gütig scheinenden jungen Mann gegenüber reserviert. Nach der Haft sucht sie allerdings seine fürsorgliche Aufmerksamkeit. Und trotz seines Austritts aus der katholischen Kirche 1912 und der blasphemischen, wilden Gedichte, die Emmy „unheimlich“ sind, erinnert sie 1940 in „Das flüchtige Spiel“: „Eines ahnte ich im Voraus, dass dies der Mann war, mit dem ich beten konnte. Das war das einzige Motiv, das mich bestimmte, mich ihm vollkommen anzuvertrauen.“ Zu diesem Zeitpunkt scheint nichts darauf hinzuweisen, dass auch Hugo Ball sich intensiv mit dem Glauben katholischer Prägung auseinandersetzen, 1922 wieder in die katholische Kirche eintreten und mehrere Werke zu christlichen Themen veröffentlichen wird.

Das Gefängnis und ihre Weigerung zu Beginn des Ersten Weltkriegs, patriotische Lieder zu singen, bringen Emmy Hennings ein Auftrittsverbot im „Simplicissimus“ ein und sie selbst an den Rand des Abgrunds. Auch Hugo Ball sieht in Deutschland keine Perspektive. Zusammen reisen sie im Mai 1915 nach Zürich. Die finanzielle Lage ist katastrophal, sie stehen unter polizeilicher Überwachung, die Zukunft ist ungewiss. Sie schlagen sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Emmy Hennings prostituiert sich, wohl mit Balls Zustimmung. Sie unternimmt einen Selbstmordversuch. Ende 1915 beschließen sie, ein literarisches Kabarett zu eröffnen, ohne zu ahnen, welches Erdbeben sie damit auslösen werden: Dada - eine kurze Angelegenheit, eigentlich, jenes Zusammentreffen junger Künstler um das deutsche Künstlerpaar, während rings um die neutrale Schweiz der Weltkrieg Europa erschüttert.

Nur etwa ein halbes Jahr dauern die Auftritte im „Cabaret Voltaire“, doch die provokativen Musik-Vorträge, Tanzaufführungen und Rezitationen zusammen mit Hans Arp, Tristan Tzara, Marcel Janco, Richard Huelsenbeck, Sophie Täuber-Arp und anderen rühren die Kunstszene auf. Simultangedichte, rhythmische „Negertrommeln“, wilde Tänze, Lautmalereien, Parodien und Satiren, vorgetragen in kubistischen Kostümen und Masken, vereinen sich zu einem Wirbel, der sich gegen alles Bestehende richtet: gegen die Gesellschaft, gegen das traditionelle Wertesystem, gegen den Krieg, vor allem jedoch gegen die konventionellen Formen der Kunst. Überzeichnung, Provokation, Improvisation, Dekonstruktion und Sinn­entlee­rung sind die neuen Mittel. Die Suche nach neuen Ausdrucksformen, die Freude am Experiment und an der Selbstinszenierung halten auch in die Malerei Einzug. An den Wänden des „Cabaret Voltaire“ hängen Bilder von Picasso, Hans Arp und Georges Janco; in der 1917 eröffneten „Galerie Dada“ stellen Wassily Kandinsky, Paul Klee und Giorgio de Chirico aus. Die Revolte strahlt aus. Der Dadaismus verbreitet sich über ganz Europa, zieht bis nach New York und beeinflusst bis heute die Entwicklungen in der Modernen Kunst.

„Cabaret Voltaire“

Der künstlerische Erfolg ändert für Emmy Hennings und Hugo Ball jedoch nichts. Die Drogensucht hält Emmy Hennings weiter gefangen. Bei der Eröffnung des „Cabaret Voltaire“ ermutigt und tröstet sie ihren Hugo: „Liebster, sei doch nicht traurig über meinen Verfall… Ich sehne mich, dich, Geliebter, sehr berühmt zu wissen, und sei dies Leben auch nur ein Gesellschaftsspiel, es muss gespielt und mitgespielt werden.“ Sie selbst wird zum Star des Cabarets, obwohl sie den Happenings kritisch gegenübersteht. Sie lebt im Da, aber sie mag Dada nicht. „Ich habe eine Aversion gegen den Dadaismus gehabt. Es waren mir zu viele Leute entzückt davon.“ Wenn sie auch Texte Hugo Balls vorträgt, bleibt sie ihrem alten Repertoire treu. Sie singt Wedekind-Balladen, dänische Volkslieder, Chansons von Aristide Bruant, rezitiert russische Märchen, Gedichte der Freunde und eigene Verse und hält damit die dadaistischen Zumutungen an das Publikum in Grenzen.

Dada ist kurzlebig. Ball selbst wendet sich bald ab. Er sieht sein Anliegen unterlaufen, als sich der Dadaismus als Kunstrichtung zu etablieren beginnt. Das „Cabaret Voltaire“ wird wegen finanzieller Schwierigkeiten und Klagen der Anwohner geschlossen, auch die „Galerie Dada“ wird nach kurzer Zeit aufgelöst. Emmy Hennings und Hugo Ball sind physisch wie auch psychisch erschöpft. Mit Annemarie, die nach dem Tod der Großmutter zu ihrer Mutter kommt, ziehen sie sich ins Tessin zurück. Es folgen Jahre der Krise zwischen Emmy und Hugo, Affären, Eifersucht, Trennungen. Auch der Versuch, in Deutschland wieder Fuß zu fassen, scheitert.

Zwecklose Dinge: Sünde, Buße

Doch 1920 scheint sich ihr Leben zumindest etwas zu beruhigen. Nach überstandener schwerer Krankheit heiratet Emmy Hennings Hugo Ball. Sie leben im Tessin von den geringen Einkünften ihrer Schriftstellerei, später auch mit Unterstützung ihres Freundes Hermann Hesse, der sich nach der Trennung von seiner ersten Frau im Nachbardorf niedergelassen hat. Es ist nicht das Paradies, aber in der verklärenden Erinnerung Emmys doch eine Oase der Stille, der Ruhe, der Schönheit, der Genügsamkeit: „vor uns der blühende Garten, in der Ferne der See und die Berge und nahe über uns die zartblauen Dolden der Glyzinien.“ Sie schreiben. Emmy Hennings beendet ihren zweiten Roman „Brandmal“, Hugo Ball seinen Roman „Tenderenda“. Auch Hugo Ball wendet sich nun intensiv der Religion zu. Anders als Emmy, die vor allem ihre Glaubenssehnsucht bewegt, beschäftigt er sich mit wissenschaftlichem Eifer mit den Kirchenvätern, der Patristik, und mit Heiligenleben. In einem ihrer Erinnerungsbücher versucht sie später, „Hugo Balls Weg zu Gott” nachzuzeichnen. In ihrem eigenen literarischen Schaffen, vor allem in ihren Romanen, zeigt sich jedoch auch, wie vielschichtig und intensiv Emmy Hennings’ Auseinandersetzung mit Glaube, Theologie und Kirche war.

Als Romanschriftstellerin ist Emmy Hennings heute wenig bekannt, obwohl das 1919 erschienene „Gefängnis“ auf positives Echo stieß. Sie schreibt in der Ich-Form, verwendet ihren eigenen Namen, Emmy H., thematisiert ihre Inhaftierungen, die sie ihr Leben lang beschäftigen. „Gefängnis“ ist dennoch mehr Roman als Autobiografie. Emmy Hennings verwischt die Grenzen, sie dichtet sich selbst, wird sich selbst zur Fiktion und „verarbeitet“ ihre Erlebnisse, ihre Beobachtungen im doppelten Sinne. Sie selbst nennt dies „schreibend über alles hinweggleite(n)“. Die Frage nach Gerechtigkeit wird existenziell. Sie existiert nicht mehr außerhalb von Emmy Hennings. In „Gefängnis“ macht die Figur Emmy H. ihre Unfähigkeit wie auch ihren Unwillen deutlich, einerseits von sich selbst abzusehen, andererseits ein unpersönliches Rechtssystem anzuerkennen.

„‚Sie schlagen Ihre Geschichte reichlich hoch an‘, sagte mir jemand. Ja. Ich kann mir nichts gefallen lassen. Bin ich ein Schaf Gottes? Aber was habe ich versäumt? Alle Geschichten anzuschlagen, als wären sie die meinigen. Mit dem Maße, mit dem ihr messet, wird euch gemessen werden.“ Das Zitat aus dem Matthäus-, dem Markus- und dem Lukasevangelium (7,2; 4,24; 6,38) verweist auf die göttliche Gerechtigkeit. Das menschengemachte, schlimmer noch, das von Männern gemachte Rechtssystem scheint Emmy Hennings die menschliche Natur zu verfehlen. „Die Einseitigkeit ist beunruhigend. Man müsste Verführer und Verführte bestrafen: die Gelegenheit und den Dieb. Würde ich mich befassen mit solch zwecklosen Dingen als da sind: Sünder bestrafen und Buße verschreiben, ich wäre gründlicher gewesen bei der Abfassung der Gesetze. Man nehme das schutzloseste Geschöpf, ein Straßenmädchen. Wenn es verboten ist, sich Liebesstunden bezahlen zu lassen, muss es verboten werden, Liebesstunden zu kaufen. Aber die Erfahrung lehrt, dass der Mensch ohne Liebesstunden nicht leben kann.“

Die Vermengung von Sünde und Rechtsbruch, von Buße und Strafe, von Moral und Recht macht gerade deren fehlende Deckung offensichtlich. Aber was ist und was sein sollte, wird nicht zusammenfinden, und so scheint es müßig, den Gedanken weiter zu erörtern. Emmy Hennings lässt Gedanken, kurze Meditationen, Beobachtungen aufsteigen wie Luftblasen aus der Tiefe, rührt jedoch nicht weiter daran, betrachtet sie nur und lässt sie weitergleiten. Auch sie selbst gleitet darüber hinweg, als wisse sie, dass in ihrem Da keine wahre Gerechtigkeit möglich ist.

Kirche hinter Gittern

Im zweiten Gefängnisroman „Das graue Haus“ taucht ein ähnlicher Gedanke auf. Nur Gottes Gerechtigkeit ist wahre Gerechtigkeit. „Ja, wenn es (die Anklage; d. Red.) der liebe Gott mir geschickt hätte, dann wäre das eine ganz andere Sache. Er darf es, und er kann machen, was er will. Dass aber die Menschen auch noch machen zu können glauben, was sie wollen, das will mir absolut nicht in den Sinn. In solchen Fällen bin ich eigensinnig. Es handelt sich ja doch um mich. Ich werde zum Priester gehen, die Gerechtigkeit ist sein Beruf, und ich will nur gerecht behandelt werden. Weiter will ich nichts.“ Doch auch die Kirche ist kein wirklicher Zufluchtsort, kein Abbild des Paradieses. Der Priester im Roman „Gefängnis“ ist nicht Vertreter göttlicher Gerechtigkeit in der Welt, im Gegenteil, diese Kirche scheint gar nicht in der Welt: „Der Priester auf hoher Kanzelpredigt hinter einer Gitterbarrikade - er ist gut gedeckt. Er spricht von der frohen Botschaft, durch einen Eisenzaun, der allerdings in Anbetracht des Ortes goldbronziert ist. Man kann sein Gesicht nicht sehen, und ich habe die Empfindung, das ist kein lebendiger Mensch, der da spricht, sondern eine Konstruktion.“

Was erst bei der Liturgiereform ein halbes Jahrhundert später „ausgeräumt“ wird, benennt Emmy Hennings auf ihre eigene Art: den Widersinn, die frohe Botschaft von Befreiung und Erlösung in einer doppelten räumlichen Abgrenzung zu verkünden. Der Priester spricht hinter einem Gitter oben auf der Kanzel, die Gläubigen folgen dem Geschehen unten. Alle sind Gefangene, sie selbst, die Mitgefangenen, der Priester, und allen scheint die Menschlichkeit verloren zu gehen. Nicht einmal Jesus Christus scheint sich der Gefangennahme entziehen zu können. Emmy H. fragt, ob nicht die Menschen „bequem und träge“ werden in der Gewissheit des Kreuzes. Sie empfindet das täglich in der Messe wiederholte Opfer als unerträglich. „Wie oft erschien mir dieser Hostienschrein wie ein Gefängnis, in dem der gemarterte göttliche Leib ruhen durfte bis zum anderen Tage, als müsse er sich erholen von seinen Wunden. Zu sehr gewohnt sind wir den Anblick des Gottmenschen am Kreuze. Wir gehen vorüber, ohne zu schaudern vor unserer eigenen Grausamkeit. Wie kommt es, dass wir nicht sagen: ‚Genug! Wie konntest Du nur? Für so etwas von Mensch Dich opfern?‘“

Ein Leben voller Tragik

Emmy Hennings tut sich schwer mit dieser Kirche, ihrer Moral, ihrer Theologie. Ihre Fragen richtet sie zwar nach außen, gleichzeitig jedoch ganz an sich selbst, ohne Verzweiflung, Zorn oder Bitterkeit. Was sie nicht versteht, vielleicht weil es auch nicht zu verstehen ist, über das gleitet sie hinweg. So behält ihr Verwundern in all seiner Ungeheuerlichkeit eine ganz eigentümliche Leichtigkeit und Strahlkraft, die bis heute nichts an Kraft verloren hat.

Das schreibende Verarbeiten, die Möglichkeit, das eigene Leben im Nachhinein zu gestalten, die Erinnerung zu dichten, wird Emmy Hennings dann auch über den größten Verlust in ihrem Leben hinwegbringen: der Tod Hugo Balls im September 1927. Waren auch die sieben Ehejahre immer wieder von Krisen geprägt, von vergeblicher Verlagssuche, finanziellen Nöten, Hennings „Weglaufsucht“, der schweren Erkrankung der Tochter Annemarie, so war doch Hugo Ball in seiner väterlichen Freundschaft ihr Leben und sie das seine. Der gemeinsame Freund Huelsenbeck schreibt nach der Beerdigung Balls über Emmy: „Sie lebte in anderen Welten, obwohl ihr Kopf, ihre Hände und Beine am Tisch saßen. Eine tragische Figur, wie ich nie eine gesehen habe. Ihr Leben war zu Ende. Der Mann, der sie zur Madonna gemacht, sich ihre Weltanschauung angeeignet, den sie so tief beeinflusst hatte, dass er ihr Leben lebte wie sein eigenes, war soeben in nasser Erde versenkt worden. Das Märchen war zu Ende…“

Das Märchen wird von Emmy Hennings geschrieben, die nun die Legendenbildung um Hugo Ball vorantreibt. Mehrere Erinnerungsbücher und ihrer beider Briefe werden veröffentlicht: „Das Paradies war für uns…“ Doch an die früheren Erfolge kann sie nicht anknüpfen. Der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg setzen dem politischen Kabarett in Deutschland ein Ende, viele Freunde enden in den Konzentrationslagern. Auch in der Schweiz wird das Leben zunehmend schwierig. Emmy Hennings schlägt sich mit Fabrikarbeit, mit kargen Einnahmen aus Einquartierungen durch. Von der katholischen Kirche distanziert sie sich noch mehr, kann deren Haltung zu Krieg, Konzentrationslagern und Vertreibung nicht begreifen. Hochachtung hat sie wiederum vor der „Bekennenden Kirche“ der Protestanten, vor Dietrich Bonhoeffer und Martin Niemöller. Emmy Hennings stirbt 1948. Auf dem Friedhof in Centilino finden sich auf der Hinweistafel die Namen von Hugo Ball und Hermann Hesse. Emmy Hennings ist zu Unrecht vergessen.

Der Roman „Gefängnis“ und zwei weitere unveröffentlichte Werke - „Das graue Haus“, das als Typoskript im Schweizerischen Literaturarchiv erhalten blieb, und „Das Haus im Schatten“ aus dem Nachlass Hermann Hesses im Deutschen Literaturarchiv Marbach - sind nun als Studienausgabe mit einem umfangreichen Anhang, Dokumentationen, Bildern und Kommentaren im Wallstein Verlag erschienen.

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