Israel und PalästinaDas düstere Erbe von sechs Tagen Krieg

Israel hat im Sechstagekrieg vor fünfzig Jahren einen glorreichen Sieg errungen. Der militärische Erfolg veränderte das Land völlig.

Der Universalgelehrte Yeshayahu Leibowitz, Naturwissenschaftler und Religionsphilosoph, war der Spaßverderber eines euphorisierten, siegestrunkenen Israel nach dem Sechstagekrieg 1967. Die große Mehrzahl der Israelis feierte erleichtert den relativ leicht errungenen Sieg über Jordanien, Ägypten und Syrien. Das Herz vieler Juden floss über, weil der junge Staat erstmals seit der Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jahr 70 nach Christus das Areal an der Klagemauer im eroberten Ostjerusalem wieder kontrollierte. Sie freuten sich über die Gebietsgewinne im Westjordanland, im Gazastreifen, auf dem Sinai und auf den Golanhöhen. Doch Leibowitz weigerte sich, in den Freudentaumel und den Optimismus einzustimmen. Skeptisch beobachtete er den raschen Rollenwechsel, den Israel vollzog. Einen so radikalen Wandel hatte es seit der Staatsgründung 1948 und danach nicht mehr gegeben.

Lebte man bisher von arabischen Ländern umringt auf einem bedrohten Fleckchen Erde, war man nun zur Besatzungsmacht geworden. Doch - so die sozialistisch, humanistisch geprägten Eliten und die allgemeine Stimmung - werde man ein humaner Besatzer sein, der humanste der Welt. Leibowitz aber mahnte mit unvernebeltem Verstand: Jede Besatzung führe ins Unheil. Nicht nur den Besetzten bringe eine Okkupation Unfreiheit und Unterdrückung, auch für die Besatzer selbst sei sie ein Fluch. Denn Besatzung falle auf den Besatzer zurück, weil sie ihn radikalisiere. Im Jahr nach dem gloriosen Sieg schrieb er in der Tageszeitung „Jediot Achronot“: „Ein Staat, der eine unfreundlich gesinnte, eineinhalb bis zwei Millionen fremde Menschen zählende Bevölkerung beherrscht, wird zwangsläufig zu einem Staat, der von einer Geheimpolizei beherrscht wird - mit all seinen Implikationen für die Bildung, die Redefreiheit und die Demokratie. Die korrumpierenden Kräfte jedes Kolonialsystems werden sich auch im israelischen Staat zeigen.“

Fünfzig Jahre später ist Israel weiterhin eine Demokratie - die einzige im Nahen und Mittleren Osten, die den Namen verdient. Doch wie demokratisch ist diese Demokratie? Denn darüber sind sich nahezu alle Politikwissenschaftler und Analysten einig: Dieser Krieg hat das Land in jeder Hinsicht verändert. Der Historiker Tom Segev spricht gar von zwei Ländern: dem Israel vor 67 und dem Israel nach 67. Was hat der Sechstagekrieg aus Israel in den vergangenen fünfzig Jahren gemacht?

„Pseudomessianische Aura“

Der Schwenk, den Israel 1967 hinlegte, lässt sich im Kern an einem Moment der Geschichte, an einer Person verdeutlichen. Zu Kriegsbeginn war der damalige Verteidigungsminister Mosche Dajan - der gängigen Geschichtsschreibung zufolge - keineswegs daran interessiert, das historisch belastete und religiös aufgeladene alte Jerusalem mit Klagemauer, Grabeskirche und Felsendom zu erobern. „Was sollen wir mit diesem alten Vatikan?“, ist von dem Mann mit der Augenklappe überliefert. Als er dann jedoch zusammen mit dem damaligen Generalstabschef Jitzchak Rabin an der Klagemauer stand, da schien ihn der Geist des Heiligen zu umwehen. Er änderte seinen Sinn: „Wir sind zu unseren heiligen Stätten zurückgekehrt, um uns nie wieder von ihnen zu trennen“, sagte er melodramatisch. Der für eine gewisse Zeit wohl „berühmteste Jude seit Jesus Christus“, wie der Schriftsteller Amos Elon schrieb, „war der erste nichtreligiöse Spitzenpolitiker, dessen Rhetorik mit einer suggestiven biblischen Bildersprache aufgeladen war“.

Für diese Revolution der Gesinnung waren viele anfällig. Plötzlich regten sich in bis dahin vollkommen weltlich orientierten Soldaten religiöse Gefühle. Es war die Stunde, in der sich das Religiöse in die Politik einnistete. Seither gibt es eine mal heilige, oft unheilige Allianz des Nationalen mit dem Religiösen. Denn rechte Politiker und religiöse Fundamentalisten „gaben dem Sechstagekrieg eine metaphysische, ja pseudomessianische Aura“, so Elon. Der religiöse Anspruch auf das Land nahm zu.

Kurz nach dem Krieg legte der stellvertretende Ministerpräsident Jigal Allon einen nach ihm benannten Plan vor, Teile der Westbank mit Israelis zu besiedeln aus religiös-nationalen und aus militärstrategischen Gründen als Puffer gegen die Araber - ungeachtet der UN-Resolution 242 vom November 67, in der der „Rückzug der israelischen Streitkräfte aus den besetzten Gebieten, die während des jüngsten Konflikts besetzt wurden“, gefordert wird.

Seit Beginn der achtziger Jahre wurden - zunächst unter Premier Ariel Scharon - immer mehr Siedlungen im besetzten Westjordanland und in Ostjerusalem gebaut. Säkulare Juden spotten heute: Die Tora, die fünf Bücher Mose, wurde zur Landkarte und zum Reiseführer für dieses Land, weil Judäa und Samaria, wie die National-Religiösen zum besetzten palästinensischen Westjordanland besitzbeanspruchend sagen, einen direkten Bezug zu den heiligen Schriften haben.

Der Rechtsruck, den das bis dahin sozialistisch-liberal geprägte Land vollzog, bildete sich 1977, zehn Jahre nach dem Krieg, politisch ab. Der Likud, die Partei des kleinen Mannes, kam erstmals an die Regierung unter Ministerpräsident Menachem Begin, der es vom Irgun-Mitglied aus dem terroristischen Untergrund - er war 1946 für den Anschlag auf das King David Hotel in Jerusalem mit 91 Toten verantwortlich - bis zum Friedensnobelpreisträger 1978 (zusammen mit Anwar al-Sadat) brachte.

Was den Hass weiter schürt

Das religiös-nationale Denken ist inzwischen gesellschaftlich weit verbreitet, Teil des israelischen Mainstreams. Vom Schock der Ermordung Jitzchak Rabins im November 1995 in Tel Aviv durch den Jurastudenten Jigal Amir scheint sich die linke Friedensbewegung nicht mehr erholt zu haben. Der Friedensprozess von Oslo wurde durch Anschläge niedergebombt; die Kraft erlahmte, der zersetzenden Wirkung des Terrors zu widerstehen.

Heute ist das Wort „Friedensprozess“ kaum noch zu hören. Was in den Oslo-Verhandlungen für fünf Jahre als Übergangslösung gedacht war - die Einteilung des Palästinensergebietes in A-, B- und C-Zonen - ist seit Jahrzehnten Status quo. „Die Besatzung ist im fünfzigsten Jahr fester verankert, als sie es je war - faktisch und in den Köpfen“, sagte der Münchner Politologe Stephan Stettner auf einer Veranstaltung der Bundeszentrale für politische Bildung.

In den besetzten Gebieten ist der Zorn in weniger als fünfzig Jahren derart gewachsen, dass die Besatzer 2002 damit begonnen haben, sich auf geplanten 790 Kilometern Länge selbst einzumauern. Was hinter der Sperranlage passiert? Yariv Oppenheimer, der vierzehn Jahre lang der Friedensbewegung Peace Now vorstand und seit zwanzig Jahren Reserveoffizier im Westjordanland ist, antwortet mit einem Bild: „Wenn du ein Steak isst, willst du nicht wissen, welches Schicksal das Rind vorher beim Schlachter durchgemacht hat. Ebenso wenig will man wissen, was in der Westbank abgeht.“ Die Mauer, die Checkpoints, die Umwege, die Wartezeiten, die Schikanen - Erniedrigungen, die den Hass der zunehmend radikalisierten Palästinenser weiter schüren. Doch einer der wie in Stein gemeißelten Grundsätze israelischer Besatzungspolitik lautet: „Unser Leben hat Vorrang vor der Lebensqualität der Palästinenser.“

Kritik üben immer schwieriger

Wer versucht, die Mauer in den Köpfen zu durchbrechen, wird schnell zum Geächteten. „Die gesamte israelische Gesellschaft wird immer feindlicher eingestellt gegenüber regierungskritischen Nichtregierungsorganisationen wie Bet Selem, Peace Now oder Breaking the Silence“, sagt Oppenheimer. Doch auch Intellektuelle und Künstler bekommen zu spüren, was Daniel Aschheim, Projektleiter bei der Jewish Agency, sagt: „Es wird immer schwieriger, selbst innerhalb Israels Kritik zu üben. Es ist nicht mehr opportun, alle Meinungen frei zu äußern.“

Die Schriftstellerin Lizzie Doron etwa, geschätzt für ihre Literatur über die Massenvernichtung der Juden und über die „zweite Generation“, hat für ihre beiden jüngsten Bücher keinen israelischen Verlag gefunden. In „Who the fuck is Kafka?“ und in „Sweet Occupation“ thematisiert sie das israelisch-palästinensische Verhältnis. Und das, so bedeutete ihr ihr israelischer Verlag, wolle man in Israel nicht lesen. Sie solle lieber wieder Holocaust-Literatur liefern. Doron sitzt in ihrer Tel Aviver Wohnung, spricht von einem „innerisraelischen Kulturkampf“ und von „der mentalen Zensur bei Verlagen und Medien aus Furcht, sich in der Öffentlichkeit angreifbar zu machen“. Weil sie in ihren Büchern Palästinensern eine Stimme gebe, sei sie nicht mehr Teil des gesellschaftlichen Konsenses in Israel.

Sakrosankt scheint auch die Armee zu sein. Wer ihr Verhalten in den besetzten Gebieten oder an den Checkpoints gegenüber Palästinensern - das laut dem Reserveoffizier Oppenheimer „viel weniger behutsam ist als früher“- als häufig demütigend kritisiert, wird leicht als Abtrünniger geschnitten. Dankbarkeit wird erwartet. Die Fernsehmoderatorin von Channel 2, Dana Weiss, erklärt warum: „Für uns ist ein Soldat kein Soldat. Für uns ist es unser Sohn, unser Bruder, unser Freund, unser Vater, der für uns kämpft und uns beschützt.“ Die Haltung vieler Soldaten sei: „Damit ihr in Tel Aviv schön am Strand liegen könnt, halten wir, die Armee, in der Westbank den Kopf für euch hin.“

Die von Yeshayahu Leibowitz prognostizierten negativen Einflüsse der Besatzung auf das innenpolitische Klima, auf Bildung, Redefreiheit und Demokratie sind schleichend Realität geworden. Und auch die von ihm befürchteten „korrumpierenden Kräfte jedes Kolonialsystems“ haben ihre volle Wirkung entfaltet. Mostafa Elostaz, Direktor der Abteilung Sozialwissenschaften, Menschenrechte und Internationales Recht am Al-Quds Bard College in Jerusalem, zählt auf: Die Bewohner in den besetzten Gebieten haben keine Bürgerrechte und keine Staatsangehörigkeit. Palästinenser bekommen im Vergleich zu israelischen Arbeitern zwanzig bis dreißig Prozent weniger Lohn. Palästinenser dürfen nicht Mitglied in der Gewerkschaft werden, wodurch ihnen Leistungen und Rechtsschutz entgehen. In Israel arbeitende Palästinenser müssen über Nacht immer über die Grenze zurück ins Westjordanland. Infrastruktur: Die meisten Autobahnen im Westjordanland dürfen Palästinenser nicht nutzen. Wasser: Darüber verfügt Israel. Mit seinen Tiefenbohrungen hat es der palästinensischen Landwirtschaft teilweise das Grundwasser entzogen.

Wie hanebüchen sich die „kolonialen Praktiken“ im Alltag auswirken, zeigt sich in dem arabischen 7000-Einwohner-Städtchen Barta’a. Seit 1949 ist der Ort geteilt, der sich links und rechts aus dem Wadi Ara die Hügel hochzieht. Auf Rhodos wurde damals nach dem Unabhängigkeitskrieg am grünen Tisch die Grüne Linie zwischen Israel und dem Westjordanland gezogen, dem Verlauf des Wadi folgend. Fortan war Ost-Barta’a palästinensisch, West-Barta’a israelisch, eine Siamesische-Zwillings-Siedlung. Damit nicht genug. Als Israel vor fünfzehn Jahren begann, die Sperranlage zu bauen, gerieten die Menschen in Ost-Barta’a hinter die Mauer und waren nicht mehr nur von den Verwandten in West-Barta’a abgeschnitten, sondern auch vom Westjordanland. „Es liegt in Limboland“, sagt Lydia Aisenberg, in einem Land in der Schwebe, im Land dazwischen, wo insgesamt 50 000 Palästinenser leben. Sie gehören zur palästinensischen Westbank - leben jedoch auf der israelischen Seite der Mauer.

Das Meer so nah und doch so fern

Aisenberg arbeitet im jüdisch-arabischen Zentrum für Frieden „Givat Haviva“, 1949 gegründet als Denkfabrik der Kibbuzbewegung für Friedenserziehung. Sie hat Bekannte in Ost-Barta’a. Mohammed etwa ist Steinmetz und kommt aus dem wenige Kilometer entfernten Tulkarem im Westjordanland. Auf dem Weg zur Arbeit in Ost-Barta’a wird er jeden Tag an drei verschiedenen Stellen vom israelischen Militär kontrolliert. Um durch die Checkpoints zu kommen, benötigt er sechs verschiedene Ausweise, die er immer mit sich führen muss. Wenn er abends nach Hause kommt, kann er von Tulkarem an klaren Tagen das Meer sehen, etwa fünfzehn Kilometer Luftlinie entfernt. Doch noch nie habe er einen Fuß hineingesetzt.

Drei Kilometer außerhalb des Dorfes liegt die Kontrollstelle Rehan-Barta’a. Es ist kurz vor 13 Uhr. Die resolute Lydia Aisenberg schnappt sich kurzerhand zwei Palästinenser, die gerade den Checkpoint passieren, um wie jeden Tag nach Hause in eines der Dörfer in der Westbank zurückzukehren. Woher sie kämen? Aus Tel Aviv, wo sie sich als Bauarbeiter verdingen. Wann ihr Arbeitstag begonnen habe? Um vier Uhr morgens seien sie durch den Checkpoint rüber nach Israel. Was sie nach ihrer Rückkehr unternähmen? Da Ramadan sei, würden sie den Nachmittag über schlafen, um nach Sonnenuntergang endlich etwas zu essen und zu trinken. In aller Frühe gehe es wieder über die Grenze zur Arbeit, runter bis Tel Aviv, dann wieder zurück, Tag für Tag dieselbe kraft- und zeitraubende Prozedur.

„Krieg der Mythen“

Alltag unter der Besatzung. Viele Palästinenser erleben ihn als Herrschaft von Willkür, Demütigung und Unfreiheit. Als zermürbend: In von Israel verwalteten Zonen werde die Post nicht zugestellt, die Müllabfuhr komme nicht, die Anzahl der Kinderspielplätze in jüdischen Nachbarschaften im Verhältnis zu arabischen liege bei 15 zu 2, klagen Bewohner Ostjerusalems. Oder sie erleben ihn als eine Provokation: Der 2016 gestorbene amerikanische Geschäftsmann und Netanjahu-Freund Irving Moskowitz aus Miami Beach, Florida, machte es sich vor zehn Jahren zum Ziel, Land im 1980 annektierten Ostjerusalem zu erwerben, damit Juden inmitten arabischer Viertel irgendwann die Mehrheit stellen würden.

So ließ er ein historisches Hotel niederreißen und erbaute an der Stelle eine Wohnanlage mit zwanzig Suiten, inmitten heruntergekommener arabischer Häuser von Bewohnern im Stadtteil Sheikh Jarrah, die zu fünfundsiebzig Prozent unter der Armutsgrenze leben. Die neuen Nachbarn sind offensichtlich nicht willkommen. Der prächtige Komplex ist von hohen Gitterzäunen und Stacheldraht umgeben, Dutzende Videokameras überwachen das Gelände. Die Scheiben von Minibussen, die davor parken, sind mit schweren Eisengitterrosten gesichert, damit Steinewerfer das Glas nicht zertrümmern können, wenn die Appartmentbewohner durch die Straßen Ostjerusalems müssen, um in die westlichen, jüdischen Viertel zu kommen.

Nicht nur zwischen den Lebenswirklichkeiten von Besatzern und Besetzten liegen Welten, auch die Narrative, die Geschichtsdeutung, das, was als Erzählung bleibt, unterscheiden sich fundamental. Die Ereignisse von 1967 und die Folgen - sechs Tage Krieg und fünfzig Jahre Besatzung - werden in Israel und in Palästina ganz unterschiedlich weitergegeben. Die gängige Legende in Israel lautet: Das junge Land sei von übermächtigen arabischen Armeen umzingelt und in seiner Existenz bedroht gewesen. Unter großer Furcht und ohne strategischen Plan habe man einen Präventivschlag geführt und sei vom Erfolg völlig überrascht gewesen. Zunächst habe man gar nichts mit dem Sieg anzufangen gewusst.

Dem widerspricht Mostafa Elostaz, der auch am Zentrum für Mediation und Konfliktlösung in Tel Aviv lehrt. „Den 67er Krieg nenne ich den ‚Krieg der Mythen‘.“ Der Sechstagekrieg sei „die Fortsetzung des Unabhängigkeitskrieges von 48, der nicht zu Ende gebrachten Angelegenheit von 48“. Freigegebene Unterlagen aus den Archiven der CIA belegten, dass Israel den Sechstagekrieg sechzehn Jahre lang geplant habe. Die nach dem Ende der Kolonialzeit zwischen Monarchie (Saudi-Arabien) und Republi­k (Ägypten) zerstrittenen Araber seien keine wirkliche Bedrohung gewesen. Dies habe auch der damalige Stabschef Rabin so gesehen. Henri Laurens, der „Jüngere Geschichte der arabischen Welt“ am Collège de France in Paris lehrt, stimmt dem zu. „Eine geplante Eskalation“ habe zum Sechstagekrieg geführt, schrieb er 2007 in „Le Monde diplomatique“. In der von Premier Levi Eschkol gebildeten Regierung der nationalen Einheit hätten Verteidigungsminister Mosche Dajan und der Führer der Rechten, der spätere Ministerpräsident Menachem Begin, entschieden eine „territoriale Expansion Israels“ verfochten. „Es ging eben nicht nur ums Überleben Israels, sondern auch darum, die 1948 verfehlten Ziele doch noch zu erreichen - vor allem die Eroberung des Westjordanlandes.“

Die unterschiedlichen Interpretationen des Sechstagekrieges erinnern an den Historikerstreit, der unter israelischen Wissenschaftlern über den Unabhängigkeitskrieg von 1948 geführt wurde. In den achtziger Jahren ging eine neue Generation Intellektueller, die die Schoah und die Entstehung des Staates Israel nicht selbst miterlebt hatte, mit mehr Distanz als ihre Lehrer daran, Mythen und Tabus zu brechen, welche die politische Führung pflegte. Der französische Nahostexperte Eric Rouleau macht in einem Beitrag, der in der Essay-Sammlung „Israel und Palästina“ (taz-Verlag, Berlin) wiederabgedruckt ist, darauf aufmerksam, dass sie unisono feststellten: „Das Verhalten der jüdischen Streitkräfte vor und während des Krieges von 1948 entsprach keineswegs den schönen Propagandalegenden.“

Politisch vergiftetes Klima

Ilan Pappe, einer der „Neuen Historiker“, brachte 2007 „Die ethnische Säuberung Palästinas“ heraus. Darin belegt er detailliert, was 1988 schon der Geschichtswissenschaftler Benny Morris behauptet hatte: dass die 750 000 Palästinenser ihr Land bei der Staatsgründung Israels keinesfalls - wie behauptet - freiwillig verlassen hätten, sondern gezwungenermaßen aus Angst vor Kämpfen mit der israelischen Armee. Pappe und Morris sagen, dass der Krieg von 1948 mitnichten der vorgebliche Kampf zwischen David und Goliath war. Die jüdischen Kampfverbände hätten die besseren Waffen gehabt und seien ihren Gegnern zahlenmäßig überlegen gewesen. Pappe verlor seine Lehrtätigkeit an der Universität Haifa. Für Rouleau ein Fall von Hetzjagd: „Pappe ist nicht der erste und sicher nicht der letzte Dissident aus den Reihen der Intellektuellen, der das Land verlassen musste, um der erstickenden Atmosphäre zu entgehen, von der sich ein ‚Nestbeschmutzer‘ umgeben fühlt.“

Wo steht Israel fünfzig Jahre nach dem Krieg? Der Historikerstreit hat gezeigt, wie Propaganda die historischen Fakten überlagert und den Blick auf die Wahrheit verschleiert. Nationale und religiöse Fundamentalisten haben das politische Klima in Israel so vergiftet, dass eine wissenschaftliche Debatte nicht frei geführt werden kann. Yeshayahu Leibowitz sah es kommen: Fünfzig Jahre Besatzung bedeuten nicht nur fünfzig Jahre Unfreiheit für die Palästinenser - sie machen auch den Besatzer zunehmend unfrei. Kein gutes Omen für eine Demokratie und keines für den Frieden.

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