Glaube und WissenDer Glaube als Einstellung zum Wissen (1+2)

Der Berliner Philosoph Volker Gerhardt über die enge Beziehung zwischen Glaube und Wissen. Glauben ist weder subjektiv noch reine Privatsache.

Die Distanz zum gesprochenen Wort

Alle Fragen der Beziehung zur Religion und zu den Kirchen hängen daran, ob im Glauben an Gott eine Wahrheit liegt. Sollten diejenigen recht haben, die behaupten, es gebe Gott nicht (oder es gebe ihn „nicht mehr"), kann man sich den Glauben sparen. Und wenn es richtig ist, dass der Aufstieg der neuzeitlichen Wissenschaft für den Glauben keinen Raum mehr lässt, ist das geschichtliche Urteil über die Religionen gesprochen. Sie mögen dann zwar noch ihre kulturelle Bedeutung haben, weil sie mentales Brauchtum pflegen und in den Grenzsituationen von Geburt und Tod sowie im Übergang zu Eigenständigkeit und lebenslanger Bindung für soziale Orientierung sorgen. Auch als verdiente Sozialagenturen mögen sie weiterhin unverzichtbar sein. Im Kern aber wären sie leer und bedeutungslos.

Mehr noch: Wenn der Gegenstand des Glaubens nicht als wahr angesehen werden kann, beruht der Beitrag der Religionen zur individuellen und sozialen Lebensführung auf einer fortgesetzten Lebenslüge. Alle, die sich am religiösen Kult beteiligen und annehmen, das dabei gesprochene Wort sei sachlich von Belang, wären blamiert. Niemand könnte mehr glauben, was in den überlieferten Texten steht. Vor allem die auf Wahrhaftigkeit und existenzielle Konsequenz gegründete christliche Botschaft wäre in sich vernichtet.

Das ist deshalb keine triviale Feststellung, weil es in vielen gesellschaftlichen Handlungsfeldern eine zugestandene Differenz zwischen dem gesprochenen Wort und der angenommenen Bedeutung gibt. Nicht wenige soziale Veranstaltungen haben ihren Sinn in der Pflege der Tradition und in der wirkungsvollen Selbstdarstellung von Personen und Institutionen. An ihnen nimmt man teil, nicht weil sie interessant oder lehrreich sind, sondern weil sie für nötig oder hilfreich erachtet werden. Dann lässt man Reden über sich ergehen und denkt, dass sie der Stabilität einer nützlichen Einrichtung dienen, ohne viel auf die gesprochenen Worte zu geben.

Eltern und Lehrer zum Beispiel müssen über diese Fähigkeit verfügen, wenn sie an den Erwartungen und Enttäuschungen der nachwachsenden Generation Anteil nehmen wollen. Sie haben selber Begeisterung für das zu zeigen, was Kinder und Jugendliche begeistert. Später haben die Kinder diese Haltung dann bei den Jubiläen ihrer alt gewordenen Eltern an den Tag zu legen, wobei nicht selten beide Seiten beflissen loben und gerührt danken, weil sie wissen, dass es sich so gehört und dass es gut ist, sich wechselseitig ein Beispiel in Dankbarkeit zu geben.

Man sollte hinzufügen, dass insbesondere Eltern und Lehrer umso überzeugender sind, je mehr sie sich von der Freude der Jüngeren anstecken lassen. Aber wenn das nicht gelingt, werden sie die Motivation, die zum Fest, zum Spiel und zum disziplinierten Ernst erforderlich ist, nicht absichtlich mindern wollen. Denn sie dürfen erwarten, dass Illusionen Effekte zeitigen, die über den Anlass hinaus für die Beteiligten günstig sind.

Auf diese Weise ist die Methode, auf die sich die Soziologen viel zugutehalten, schon lange eingeübt: Die sozialen Praktiken werden nicht allein nach dem Gehalt der in ihnen erfolgenden Sprechakte, sondern primär mit Blick auf die Folgen betrachtet, die sie für den Bestand der Gesellschaft haben. Diese Verfremdung des gemeinten Sinns macht sich die empirische Forschung zu eigen, wenn sie aufzählt, was Kirchen für die Sicherung des sozialen Systems leisten, ohne danach zu fragen, ob es auch wahr ist, was von den Kanzeln gepredigt, in den Gebeten hergesagt und in den Glaubensbekenntnissen beteuert wird. Entscheidend ist allein, dass die Gläubigen weiterhin ihre Steuer zahlen und dass sich die Mitarbeiter der kirchlichen Einrichtungen loyal verhalten. Ob sie wirklich glauben, was sie zu glauben vorgeben, ist zwar auch eine interessante Frage, sie muss aber mit dem faktischen Verhalten nichts zu tun haben.

Dass die Bindung an Formen und Folgen dennoch nicht blind gegenüber den Glaubensinhalten ist, wird in der Enttäuschung der Gläubigen über den Umgang der Kirche mit dem Missbrauch Minderjähriger offensichtlich. Der Glaubwürdigkeitsverlust trifft die Institution des Glaubens in ihrem Kern. Und wenn uns dies nicht gleichgültig ist, haben wir zu fragen, was Glauben unter den Bedingungen der sogenannten Wissensgesellschaft eigentlich bedeutet.

Der unverzichtbare Wahrheitsanspruch

Philosophen, Soziologen, Publizisten und erst recht Politiker haben lange Zeit über die Religionen so geurteilt, als seien sie allmählich verzichtbar werdende Instanzen einer Selbsterziehung des Menschen. Man gestand ihnen zu, nützliche Tugenden einzuüben. Da war es nicht erheblich, ob das auch zutraf, was die Priester verkündeten. Wichtig war allein, dass sie ihre Gefolgschaft disziplinieren und zu einem Verhalten anleiten konnten, das vorteilhafte gesellschaftliche Konsequenzen hatte. Es war auch nicht die Frage, ob und was die Priester glaubten, sondern lediglich, dass sie mit ihrer Lehre nicht in Konflikt mit dem unterstellten Gesamtinteresse der Gesellschaft geraten.

Diese Auffassung passte gut zu den schon in der Antike vorkommenden Stufenmodellen geschichtlicher Entwicklung, die seit der Renaissance zunehmend auf den funktionalen Beitrag der Religion bezogen wurden. Seit dem 18. Jahrhundert kennen wir die Schemata einer „religiösen", „metaphysischen" und „aufgeklärten" (später auch „positiv" genannten) Epochenfolge, Modelle, die alle dazu neigen, gegen die Inhalte der Theologie gleichgültig zu sein. Sie bewerten den mutmaßlichen Beitrag zur Befriedigung politischer Interessen und nehmen den Dienst an den himmlischen Mächten lediglich in seinem Effekt für die irdischen Interessen zur Kenntnis.

So kann man denken. Von Hesiod und Polybius bis hin zu Comte, Darwin oder Nietzsche hat das zu Einschätzungen geführt, die in der Debatte über die kulturelle Evolution des Menschen nicht vergessen werden dürfen. Auch eine Religionssoziologie, die den Gläubigen den Rücken stärkt, indem sie ihnen in Zahlen vorführt, über wie viel faktische Macht sie immer noch verfügen, belässt es bei der Außenansicht. Gleichwohl ist die Gleichgültigkeit gegenüber den Glaubensinhalten eine Provokation eines jeden Gläubigen.

Das gilt nicht allein aus der Perspektive des religiösen Menschen, der, wenn er wirklich glaubt, die Überzeugung braucht, dass es wahr ist, was er glaubt. Es hat auch aus der Sicht einer Philosophie zu gelten, die sich gegenüber allen in einer Gesellschaft umlaufenden Wahrheitsansprüchen kritisch zu verhalten hat. Und da eine Religionsgemeinschaft nicht mit der Behauptung auftreten kann, ihre Lehre betreffe ausschließlich ihre Anhängerschaft (ohne für andere die geringste Bedeutung zu haben), kann man den Wahrheitswert religiöser Bekenntnisse nicht unbeachtet lassen.

Glauben ist weder subjektiv noch privat

Wenn etwa ein gläubiger Mensch behauptet, seine Verantwortung gegenüber Gott verbiete ihm, einen Menschen selbstbestimmt sterben zu lassen, dann hat der Philosoph nicht nur die Pflicht, zu prüfen, ob das Argument tragfähig ist, er muss auch fragen, was es mit der Berufung auf Gott unter den Bedingungen der Gegenwart eigentlich auf sich hat. Man nähme die Kirchen in ihrem Anspruch gegenüber ihren Mitgliedern und gegenüber der Gesellschaft nicht ernst, wenn man sie aus dem Diskurs über die Wahrheitsfähigkeit ihrer Glaubenssätze entließe.

Der politische und ethische Respekt gegenüber den Mitbürgern gebietet, dass wir sie sowohl in ihren Entscheidungen wie auch in ihren Begründungen ernst nehmen. Und wenn sie sich in ihren Äußerungen als Bürger oder als Nachbarn auf ihr Gewissen oder ihren Glauben berufen, dann kann es ihren Mitbürgern und Mitbewohnern nicht gleichgültig sein, ob das überhaupt möglich und sinnvoll ist, was da zum Vortrag kommt. Man wird - von Sicherheitsinteressen eines Staates abgesehen - zwar nicht von einer politischen Pflicht zur Prüfung der Gehalte religiöser Lehren sprechen wollen, aber es gibt keinen Grund, sie prinzipiell abzuwehren. Die Inhalte des Glaubens können jederzeit Gegenstand einer öffentlichen Debatte sein.

Bekanntlich macht die Öffentlichkeit vor keinem Thema halt. Ihr Interesse kann sich infolge einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit den historischen, soziologischen, psychologischen oder politischen Bedingungen des religiösen Phänomens ergeben, kann aber auch von einer theologischen oder philosophischen Erörterung der zentralen Glaubenssätze angestoßen werden.

Auch hierbei gibt es keine Vorbedingung für die öffentliche Aufmerksamkeit, die jederzeit durch Beiläufiges und Zufälliges veranlasst sein kann. Aber wäre der Glaube eine ganz und gar private Angelegenheit, bliebe die Diskussion auf den vorkommenden Fall beschränkt. Dann könnte man über eine religiöse Einstellung sprechen, wie man Freizeitbeschäftigungen oder Lebensstile thematisiert. So wie man sich fragen kann, wie eine Siebzehnjährige dazu kommt, allein auf ihrem Einmastboot zu einer Weltumsegelung aufzubrechen, könnte man darüber staunen, dass ein aufgeklärter Mensch im 21. Jahrhundert zu einem Gott betet, von dem eine vor zweitausendfünfhundert Jahren aufgezeichnete Geschichte behauptet, er habe in sechs Tagen die ganze Welt erschaffen. Man braucht nur an die Vielfalt der subjektiven Vorlieben zu denken und wird keine Mühe haben, die religiösen Überzeugungen zum Kosmos der Kuriositäten zu rechnen, die das Interesse der Menschen auf sich ziehen.

Doch das religiöse Bekenntnis ist keine Privatangelegenheit! Der Glaube ist nicht subjektiv, auch wenn mancher Theologe vom Gegenteil überzeugt sein mag. Der Gläubige, der an seiner Kirche Anteil nimmt, Steuern zahlt und damit einverstanden ist, dass in politischen Fragen nach einem konfessionellen Proporz entschieden wird, kann es nicht hinnehmen, dass sein Glaube wie ein Hobby angesehen wird. Im Glauben selbst liegt ein interindividueller Anspruch. In seinem Bekenntnis werden offenbare Anlässe und Gründe dargelegt, die sich nicht darauf beschränken, die eigene Gewissheit zu bekräftigen. Sie sollen vielmehr auch andere erreichen, und sie hoffen darauf, diese anderen zu überzeugen. Man erzieht die Kinder im eigenen Glauben und wünscht sich zumindest ein offenes Ohr bei denen, an deren Heil einem gelegen ist.

Deshalb ist es abwegig, dem Gläubigen die Subjektivität eines Snobs, eines Allergikers oder eines sich vorsätzlich gegen Argumente immunisierenden Traditionalisten unterzuschieben, der in seiner Empfindlichkeit von den Standards der Objektivität des Wissens - entweder mit Absicht oder aus Unvermögen - abweicht. Man glaubt nicht so, wie man eine Vorliebe für ein weich gekochtes Frühstücksei oder einen Urlaub in den Bergen hat. Man hat für seinen Glauben auch nicht nur biografische Gründe, die darüber belehren, wie man erzogen worden ist. Was immer einen persönlich zum Glauben gebracht hat, muss mindestens eine exemplarische Bedeutung haben, so dass man sagen kann: Es war zwar wesentlich meine Mutter, die mich glauben gelehrt hat, aber ihr Beispiel wirkt nach. Dann erkenne ich darin ein allgemein menschliches Verhalten, das ich für mich als verbindlich ansehe. Überdies leuchtet es mir nur deshalb ein, weil ich mich als Mensch begreife. In diesem exemplarischen Bezug auf die Menschheit ist jeder Glaube ursprünglich über die Subjektivität hinaus.

Wäre es anders, könnte es dem Gläubigen gleichgültig sein, was sein Glaube in der Sache - und damit auch für andere - bedeutet. Er brauchte für sein Bekenntnis nicht zu argumentieren, müsste den Gedanken einer religiösen Erziehung so abwegig finden wie das Missionsgebot und wäre jeder Verbindlichkeit, für seinen Glauben einzutreten, enthoben.

Daraus folgt: Der Glaube ist weder subjektiv noch privat. Er fällt zwar in die individuelle Entscheidungshoheit des Einzelnen und bedarf in dieser personalen Eigenständigkeit der grundrechtlichen Sicherung. So muss er vor ungleicher Behandlung, Einschränkung der in ihm zum Ausdruck kommenden Freiheit oder vor Verfolgung geschützt werden. Aber er ist in seinem Geltungsanspruch öffentlich. Er will sich nicht nur vor Gott, sondern auch vor den Menschen beweisen. Also kann es ihm nicht egal sein, was sein Bekenntnis in der modernen Gesellschaft bedeutet. Ihm muss, auch im Interesse seiner Wirksamkeit, daran gelegen sein, dass man seiner Lehre öffentliche Aufmerksamkeit schenkt. Die aber schließt die Möglichkeit einer kritischen Prüfung ein.

Glaube ist kein Aberglaube

Es gehört zum durchschnittlichen Glauben an die Wissenschaft, dass sie es sei, die den Glauben einschränkt. Auf den ersten Blick scheint tatsächlich alles für diese Ansicht zu sprechen: Ohne die neuzeitliche Physik wären die Menschen vermutlich immer noch genötigt, Ursprung und Art der kosmischen Abläufe zu den Glaubensfragen zu rechnen. Das Gleiche dürfte auch im Umgang mit auffälligen Naturerscheinungen, mit plötzlichen Erkrankungen oder mit außergewöhnlichen menschlichen Leistungen der Fall sein. Regenbogen, Nordlicht und Gewitter würden noch immer als unmittelbare Äußerung Gottes erlebt, und Naturkatastrophen dürften weiterhin als Strafe Gottes gelten. Allerdings gäbe es dann auch keine Chance, die „Pille" als ein Geschenk Gottes zu preisen. Denn die „Pille" als extrem voraussetzungsreiches Produkt der pharmazeutischen Industrie hätten wir dann nicht.

Ohne Wissenschaft hätten die Menschen freilich auch keine Möglichkeit, die Schöpfungsgeschichte als ein epochales Kunstwerk anzusehen, das ein sich über Jahrmilliarden hinziehendes Naturgeschehen auf eine knappe Erzählung verdichtet, die dem Menschen das Bewusstsein einer besonderen Verantwortung zu geben vermag. Dann wäre das erste Buch Mose, die Genesis, wörtlich zu nehmen und böte, angesichts der langen Erfahrung mit der Schrift, Grund, die eigene Freiheit eingeschränkt zu sehen.

Wäre der Glaube mit dem Aberglauben gleichzusetzen, könnte sich die Wissenschaft mit guten Gründen rühmen, ihm die Grundlage entzogen zu haben. Doch Glaube ist eben nicht mit Aberglaube zu verwechseln. Streng genommen hat er nicht das Geringste mit ihm zu tun, obgleich nicht bestritten werden kann, dass die Religionen in ihrer weit in die Geschichte zurückreichenden Entwicklung manche Elemente des Aberglaubens in sich aufgenommen haben. Doch davon können sie sich befreien, ohne dabei die Inhalte aufzugeben, die der zentrale Gegenstand ihres Glaubens sind.

Der Glaube ist weder an konkrete Ursache-Wirkung-Relationen gebunden noch überhaupt auf bestimmte physische Vorgänge in der Welt bezogen. Sein Element ist die Meinung, in der sich für den Menschen alles darstellt, was immer Gegenstand seines Wissens werden soll. Es ist eine Feststellung ersten Ranges, dass der Glaube dem Wissen nicht entgegensteht. Beide fordern sich wechselseitig und machen in ihrer sich gegenseitig ergänzenden Leistung bewusst, dass der Mensch schon lange in einer Wissensgesellschaft lebt.

Mehr noch: Das Wissen ist nicht nur die erste und vorrangige, sondern die einzige Bezugsgröße des Glaubens. Man müsste schon auf Meinen und Wissen überhaupt verzichten, wenn man dem Glauben seine Berechtigung entziehen wollte. Doch ein solcher Verzicht dürfte dem Menschen so lange unmöglich sein, wie er über Bewusstsein verfügt. Zum Glück gibt es nicht den geringsten Grund, Meinen und Wissen zu ächten. Denn die Tatsache, dass unablässig unzutreffende Meinungen vertreten werden, sagt nichts über den Wert der Meinung als solcher. Ohne sie könnte man sich weder mit anderen verständigen noch mit sich selbst einig sein. Der Weg zu Wissen und Wahrheit verläuft nur über sie.

Das Wissen könnte hier schon eher Kritik auf sich ziehen. Denn es ist ein dauerndes Ärgernis, dass sich niemand so sehr irrt wie einer, der auf Wissen Anspruch erhebt. Dabei ist es nicht nötig, einen speziellen Begriff des Wissens zu unterstellen. Gemeint ist alle in die Form bewusster Mitteilung gebrachte Auffassung von Sachverhalten, für die sich Gründe aus der alltäglichen Erfahrung, der eigenen Beobachtung, der beglaubigten Mitteilung oder der logischen Schlussfolgerung anbringen lassen.

Natürlich gehört auch das methodisch gesicherte Wissen der Wissenschaft dazu, ebenso der philosophische Systembegriff eines Wissens, das sich im Besitz der ganzen Wahrheit wähnt. Vorrangig aber ist, dass schon die elementaren Formen des alltäglichen Wissens ein Selbst- und Weltvertrauen in sich schließen, für das wir keinen besseren Begriff als den des Glaubens haben. Wer will, kann auch von einer grundlegenden Überzeugung sprechen. Das entspricht dem englischen belief, das immer auch mit Glauben übersetzt werden kann.

Der tiefe Sockel des Wissens

In allen genannten Fällen des Wissens ist es dem Menschen gar nicht möglich, einfach nur als dessen neutraler Träger tätig zu sein. Das informationstheoretische Schema von „Sender" und „Empfänger", das den Erwerb und die Weitergabe von Wissen illustrieren soll, setzt auf beiden Seiten nur Antennen voraus. Tatsächlich aber gibt es auf jeder Seite eine Rückkoppelung. Das heißt: Der Mensch hat ein Verhältnis zum Wissen und in diesem Wissen ein Verhältnis zu sich selbst. Er wird von seinem Wissen in Anspruch und in Beschlag genommen; es berührt ihn affektiv und intellektuell.

Man sagt nicht zu viel, wenn man behauptet, dass die Fähigkeit, zu wissen tief in der organischen Natur des Menschen verankert ist. Unablässig werden Reize aufgenommen, in physiologisch wirksame Empfindungen übersetzt, in gruppen- und rollenspezifischen Sinn übertragen, individualpsychologisch aufgeladen und semantisch (das heißt mit sprachlich-zeichenhafter Bedeutung) auf Sachverhalte bezogen, deren Beachtung logisch kontrolliert werden kann. Die evolutionären Wurzeln des Wissens schließen die Beteiligung gesellschaftlicher und seelischer Anteile nicht aus und tragen am Ende auch den existenziellen Charakter des Wissens. Auch wenn wir meinen, es fände sich in Büchern, Bibliotheken oder elektronischen Speichern, kommt es - als Wissen - nur im Bewusstsein von Individuen vor. Das erklärt seine Nähe zu den lebensleitenden und lebensentscheidenden Fragen des personalen Bewusstseins.

In der Regel hat sich der Mensch um sein Wissen bemüht. Gewiss ist ihm vieles auch einfach zugefallen, manches hat sich ihm aufgedrängt. In so gut wie allen Fällen aber hat es Bedeutung für sein Selbstwertgefühl, für die Bewältigung der Situation, in der er sich gerade befindet, für künftige Handlungslagen, die er sich vorstellen kann, für seine Geschichte, an die er sich erinnert, oder allgemein für das Leben, auf das er sich einstellt und das von Erwartungen und Ängsten erfüllt ist.

Mit alledem ist aber noch nicht gesagt, wie der Mensch mit seinem Wissen umgeht. Er kann es für fraglos und selbstverständlich halten, er kann es planvoll erweitern wollen, kann es gelegentlich mit dem Bewusstsein der Überlegenheit einsetzen, aber auch ratend und helfend zum Einsatz bringen. Wir dürfen überdies nicht vergessen, dass Wissen auch ratlos machen kann - entweder weil einer zu viel zu wissen glaubt oder zu wenig. Dann hat er Grund, zögernd und zaudernd mit seinem Wissen umzugehen. Und wenn ihn eine Mitwisserschaft belastet oder er mit einem Widerspruch nicht fertig wird, kann er daran auch verzweifeln.

Wissen schließt Vertrauen ein

So vielgestaltig und gegensätzlich das Wissen sein mag: Es ändert nichts daran, dass der Mensch, wann immer er sich suchend, fragend, erzählend, behauptend oder zweifelnd mit seinem Wissen zur Geltung bringt, an das Wissen glaubt. Er kann nichts von dem, was ihm bewusst ist, für Wissen halten, ohne davon überzeugt zu sein, dass es den Sachverhalt, auf den es sich bezieht, erfasst. Mit dem Wissen, das einer hat (oder zu haben meint), verbindet sich in jedem Fall das Vertrauen, dass darin ein Aufschluss über die Verhältnisse liegt, in denen er lebt.

Das Wissen hat, terminologisch gesprochen, eine „propositionale“ Verfassung. Es bezieht sich (nach Art einer Feststellung) auf etwas, das nicht nur dem jeweils Wissenden, sondern auch anderen bewusst werden kann. Diese anderen müssen ebenfalls über die Fähigkeit verfügen, etwas zu wissen. In dieser strukturellen Ausrichtung auf etwas Bestimmtes vor anderen Menschen, die damit als meinesgleichen angesprochen sind, liegt ein unvordenkliches Vertrauen in ein Gemeinsames, das man nicht nur einfach meint, sondern das einen mit anderen verbindet und das alle bereits im möglichen gemeinsamen Wissen trägt. Es ist das Wissen, das die Welt, zu der alles gehört, erschließt.

Jedes Wissen drückt eine Beziehung zu etwas Gewusstem aus, das in dieser Beziehung als ein Sachverhalt erscheint, der als solcher auch anderen bewusst werden kann. Damit ist jedes Wissen nicht nur ursprünglich auf seinen Gegenstand, sondern zugleich auch auf das Bewusstsein anderer gerichtet, von denen jeder Wissende erwartet, dass sie den Sachverhalt ebenfalls als Gegenstand ihres Wissens aufnehmen können.

Diese soziale Dimension des Wissens wird nur zu leicht übersehen: Wissen ist niemals bloß durch die demonstrative Beziehung zum gewussten Gegenstand charakterisiert, sondern zugleich durch die kommunikative Leistung, die in der Erwartung liegt, andere möchten den Sachverhalt genau so erkennen wie man selbst. Jedes Wissen hat daher die Struktur einer mehr oder weniger ausdrücklichen Mitteilung.

Das gilt selbst für Fälle, in denen einer gar nichts sagt und sein Wissen für sich behält. Er schweigt dann über das, was ihm in der Form einer Mitteilung im Bewusstsein ist. Er könnte es sagen, und nur sofern er es sagen könnte, hat er das Wissen, auch wenn er es, aus welchen Gründen auch immer, für sich behält. Diese Eigenart des Wissens nenne ich „soziomorph“. Kant aber hatte noch einen besseren Begriff, als er alles Wissen, ja, schon alles Denken als „communicabel“ bezeichnete (Immanuel Kant, „Brief an Jakob Sigismund Beck vom 1. Juli 1794“; Akademie-Ausgabe Bd. 13, S. 545). Es gibt heute Theoretiker, die meinen, dass die ursprüngliche Mitteilbarkeit des Wissens bereits eine elementare Form der Verantwortlichkeit der kommunizierenden Individuen voraussetzt.

In dieser Sozialität und Kommunikabilität, die dem radikalen Skeptiker noch nicht einmal die Chance lässt, seinen Zweifel an der Außenwelt widerspruchsfrei vorzutragen, vertraut der Wissende nicht nur darauf, dass er etwas weiß, sondern auch darauf, dass er selbst es weiß und dass es von anderen verstanden werden kann. Und dies nicht zuletzt deshalb, weil jeder sich im Wissen auf eine Welt bezieht, die allen gemeinsam ist und die allen etwas bedeutet. - Damit lässt sich das Ergebnis der skizzierten Analyse formulieren: Glaube ist Einstellung zum Wissen.

Glaube ist Einstellung zum Wissen

Sofern wir Wissen haben, haben wir auch den Glauben, der sich mit der Hoffnung auf seine sachliche Bedeutung, seinen persönlichen Wert und seine praktische Wirksamkeit verbindet. Und da es, zumindest unter den Kritikern des Glaubens, niemanden gibt, der nicht überzeugt ist, etwas zu wissen, kann auch niemand bestreiten, dass er selbst den Glauben nötig hat.

Also glaubt jeder Mensch, der etwas weiß, und er glaubt ausnahmslos, dass ihm dieses Wissen etwas bedeutet. In diesem Glauben verlässt er sich auf sein Wissen und vertraut darin zugleich sich selbst - zumindest sofern er sein Wissen (suchend, fragend, behauptend) zur Geltung bringen kann. Das aber kann er nur, solange er glaubt, auch von anderen verstanden werden zu können. Damit setzt er auf ein Minimum sozialer Verbindlichkeit: Er hat die Hoffnung, dass sein Wissen auch anderen etwas bedeutet - zunächst und vor allem als Wissen von Sachverhalten, die auch von anderen erkannt werden können. Darüber hinaus kann das geäußerte Wissen als Selbstaussage begriffen werden, in denen ein Individuum über sich selbst Auskunft gibt, indem es über Dinge und Ereignisse spricht.

Diese auf Sachverhalte gestützte Möglichkeit zur Verständigung mit sich und seinesgleichen bietet das Wissen unter allen vorkommenden Fällen. Die Dreiheit aus Selbst, Gemeinschaft und Welt gehört zur Struktur des Wissens, die sich bei allen Menschen findet. Nur die Art, in der sie ihr Vertrauen in das Wissen zum Ausdruck bringen, variiert mit den Kulturen und den Individuen, die sich durch ihr Wissen zu verbinden, aber auch zu unterscheiden suchen. Die grundlegenden Elemente eines jeden Wissens aber - das Vertrauen in die zum Gegenstand gemachte Welt, in die Verständlichkeit innerhalb der menschlichen Gemeinschaft sowie in den Wissenden selbst - sind in allen Fällen gegeben.

In diesen drei sich allererst im Wissen eröffnenden Dimensionen kommt das Wissen zur Geltung. Es stammt aus einer Anteilnahme an den Dingen, aus dem Bedürfnis nach Mitteilung sowie aus dem Verlangen nach Selbstbestätigung des Wissens. Das Interesse an der Welt, die einem in der Erkenntnis gegenübersteht, an der Gemeinschaft, zu der man selbst gehört, und am Selbst, das man erhalten und entfalten möchte, ist die Triebkraft, aus der die stets gesuchte objektive Sicht der Dinge hervorgeht. Und in allen drei Motivkomplexen wirkt ein starker Glaube an die Verbindlichkeit im Wissen selbst.

Durch die bloße Tatsache des Wissens wird die gleichermaßen kindliche wie vernünftige Erwartung, dass sich im Leben alles zusammenfügt, gestärkt. Wenn sich, wie es im Wissen der Fall ist, alles mit allem in einen begrifflichen Zusammenhang bringen lässt, hat der Wunsch nach Einheit in der Vielfalt einen logischen Anhaltspunkt. So gewinnt das Selbst- und Weltvertrauen einen rationalen Charakter, der durch Einwände aus dem Arsenal des Wissens nicht erschüttert werden kann. Denn wie will man Wissen durch Wissen entkräften?

Die Gewissheit im Wissen

In der unvermeidlichen Vielfalt des Wissens, das unablässig seine eigenen Grenzen sprengt, gibt es drei Garanten seines inneren Zusammenhalts, die das Vertrauen in das Wissen stärken: erstens die Einheit des Wissenden mit sich selbst, zweitens seine sachhaltige Verbindung mit seinesgleichen und drittens die begriffliche Verknüpfung mit seiner Welt. Das sind die tragenden Elemente unserer Gewissheit im Wissen. Sie begründen die durch kein Argument abzuschwächende Überzeugung von der Tragfähigkeit des Wissens. Denn jeder Einwand muss sich, wie gesagt, auf ein Wissen stützen.

Damit sehen wir genauer, worin der Glaube an das Wissen, der, genau besehen, ein Glaube im Wissen ist, besteht: nämlich in dem Vertrauen auf die jedes Wissen tragende Verbindung von Ich, Wir und Welt, die uns in der Form eines begrifflich zugänglichen Sachverhalts gegenübersteht. Alles, was wir erkennen (oder auch nur zu erkennen meinen), wird als Einheit nach Art eines Ganzen gefasst. Sie wird im Wissen gewahrt. Da sie sich uns aber nur unter der Bedingung von Mitteilung erschließt, hat sie eine Bedeutung für die Gemeinschaft, in der wir uns über sie verständigen. Auch darauf ist der Glaube im Wissen gegründet. Schließlich hat er darin ein besonderes Gewicht, dass jeder Einzelne in der kommunikativen Anteilnahme überhaupt erst seine eigene Bedeutung erfährt.

Im Wissen verlassen wir uns sowohl auf die innere Stimmigkeit wie auf die äußere Fasslichkeit der Welt, in der wir allein dadurch, dass wir sie zu erfassen glauben, eine für unser Selbstverständnis erhebliche Rolle spielen. Hinzu kommt, dass wir dieser Welt als eine sich über sie verständigende Gemeinschaft von Menschen gegenüberstehen.

Als eine durch keine Leistung des Wissens zu schwächende Überzeugung vertraut der Glaube im Wissen somit auf die Einheit, die sich im Wissen immer wieder von neuem herstellt. Im Vertrauen auf die nachvollziehbare Verknüpfung von Ich, Wir und Welt setzt er auf die Beziehung der Teile zum Ganzen des Wissens. Darin ist er rational, und er ist in dieser Rationalität von der Erwartung getragen, im Wissen die Elemente einer Welt aufzufinden, in der das Selbst, die Gemeinschaft und die erkannten Dinge selbst Teile eines Ganzen sind, zu dem alles gehört.

Diesen das Wissen zwangsläufig begleitenden Glauben kann man eine epistemische Überzeugung nennen. Der Ausdruck nimmt den griechischen Terminus für Wissen (episteme) auf, das schon Platon nicht von der Überzeugung (doxa) trennen konnte. Eine epistemische Überzeugung ist die sich im Medium des Wissens ausbildende affektive Anteilnahme am Wissen, genauer: ein intellektuell grundiertes, zugleich aber emotional fundiertes Interesse an der Leistung des Wissens. In der erhofften Klarheit und Sicherheit des Umgangs mit Dingen und Ereignissen wollen wir uns in ein Verhältnis zu unseresgleichen setzen, in welchem wir selbst zur bestmöglichen Wirkung finden.

Dieses Streben bleibt an das Wissen gebunden, kommt aber aus den organischen, sozialen und psychischen Tiefen unseres Selbst und kann daher als Gefühl erlebt werden. Es ist ein rationales Gefühl, das Einheit in der Unterscheidung sucht, die in jeder Leistung des Wissens liegt und dennoch in jeder Leistung des Wissens überwunden werden soll. Man greift heraus, trennt und grenzt ab, wenn man etwas weiß, sucht sich aber eben darin mit seinesgleichen zu verbinden, indem man sich (im Vorgriff auf ihr Verständnis) auf etwas bezieht, das den Wissenden gemeinsam vor Augen steht.

Vom Selbst- und Weltvertrauen zum Glauben an Gott

Wie kommt man vom Glauben als einer epistemischen Überzeugung, die zwangsläufig zur Dynamik des Wissens gehört, zum Glauben an Gott? Antwort: indem man offenlegt, worauf der im Wissen liegende Anspruch zielt und welches Bedürfnis sich damit verbindet.

Die skizzierte Analyse hat deutlich gemacht, dass die Tragweite des Vertrauens in das Wissen nicht auf einzelne Erkenntnisleistungen beschränkt werden kann. Zwar mag es erst in bestimmten Situationen bewusst werden, was einem das Wissen von der eigenen Lebensgeschichte bedeutet, wie wichtig im Notfall die Kenntnis des behandelnden Arztes sein kann oder wie befreiend es ist, in einer Verlegenheit das treffende Wort zu finden. Aber das Vertrauen in das Wissen ist von grundsätzlicher Art. Es erstreckt sich auf das ganze Dreieck aus Ich, Wir und Welt und setzt auf den Erfolg des Wissens überhaupt. Man kann es daher gar nicht anders (selbst wenn der Begriff noch so verdächtig erscheint) denn als metaphysisch bezeichnen.

Da es nun einmal nicht zu bestreiten ist, dass sich das menschliche Selbst- und Weltverhältnis wesentlich auf das Wissen gründet, kann man die auf das Wissen gerichteten Erwartungen nicht ermäßigen. Sie sind auf das Ganze des erlebten und erfahrenen Weltzusammenhangs bezogen, den man sich nicht anders erklären kann als durch das uns selbst und unser Wissen ermöglichende Zusammenspiel der natürlichen Kräfte. In dieser Erklärung liegt die Leistung einer Metaphysik, die vom Gelingen des Wissens und des mit ihm verknüpften Handelns auf den unterstellten Funktionszusammenhang des Daseins schließt.

Von der metaphysischen Anlage des Glaubens an das Wissen zum religiösen Verständnis dieses Glaubens scheint es nur ein kleiner Schritt zu sein. An die Stelle des Vertrauens in den im Wissen angenommenen rationalen Zusammenhang der Welt braucht, so möchte man sagen, eigentlich nur ein ausdrückliches Bekenntnis zum Grund des Ganzen zu treten. So gesehen hebt der religiöse Glaube die stets mitlaufende Überzeugung in die Tragfähigkeit des Wissens auf das Niveau einer ausdrücklichen Gewissheit.

Das Ausdrückliche dieser Gewissheit liegt darin, dass sie sich nicht einfach auf die Stimmigkeit im Zusammenspiel von Ich, Wir und Welt verlässt, sondern in ihr selbst wiederum einen Ausdruck einer die Welt umspannenden Ordnung anerkennt, einer Ordnung, der sich der Mensch selbst verbunden weiß.

So gesehen macht der religiöse Glaube aus der im Wissen unterstellten funktionalen Bedingung von Ich, Wir und Welt den bejahten Grund, dem sich der Einzelne persönlich verpflichtet weiß. Ihm genügt es nicht, das Zusammenspiel von Mensch und Welt als gegeben hinzunehmen. Er will ihn vielmehr von sich aus anerkennen; er glaubt, in ihm einen Grund zu haben, der seinen eigenen Gründen entspricht. Im religiösen Glauben setzt sich der Mensch, so wie er es im Verhältnis zu sich und seinesgleichen tut, in eine persönliche Beziehung zur Welt und sucht im Grund des Ganzen sein Gegenüber auszumachen.

Zweifel im Glauben

Die Überlegungen zeigen, dass der Schritt von der funktionalen Metaphysik zur rationalen Theologie keine Kleinigkeit ist. Es gibt keinen Automatismus im Übergang vom Vertrauen auf das Wissen zum Glauben an eine göttliche Macht, und es steht jedem frei, im Ganzen seines Daseins einen ihm entsprechenden Sinn anzunehmen oder es lediglich als ein mehr oder weniger zufälliges Geschehen sich wechselseitig bestimmender Abläufe abzutun.

Wem es genügt, alles einfach so hinzunehmen, wie es faktisch ist, dem kann man weder eine Inkonsequenz noch ein Desinteresse an spekulativen Fragen zum Vorwurf machen. Er nimmt sich und den Menschen nur nicht so wichtig. Was immer das Ganze auch sein mag: Er kann in ihm keinen exklusiven Bezug zum Zweck des menschlichen Daseins erkennen. Zwar kann er die Wirksamkeit eines Gottes nicht leugnen. Aber da man sie ihm auch nicht beweisen kann, hat er sich in seinem Agnostizismus einzurichten - mit allen Konsequenzen, die das für sein Verhältnis zu sich selbst und zu seinesgleichen hat. Von Wert oder Sinn kann dann nur noch in der relativen Bilanzierung von Vor- und Nachteilen die Rede sein. Auch Wahrheit und Freiheit können bestenfalls als nützliche Illusionen gelten. Utilitarismus, Relativismus und Materialismus sind natürliche Konsequenzen aus dem Verzicht auf eine theologische Deutung der Einheit von Ich, Wir und Welt.

Das Individuum hingegen, dem es gelingt, im Ganzen des Daseins einen Sinn zu erfahren, welcher seinem eigenen Lebensanspruch entgegenkommt, wahrt seine Eigenständigkeit als Person nicht nur vor seinesgleichen, sondern auch gegenüber dem Ganzen der Welt. Es vertraut auf sein Wissen und setzt seine Freiheit darein, auch dem Verborgenen mit dem Selbstbewusstsein zu begegnen, das es in allen ihm wichtigen Zusammenhängen seines Lebens zu beweisen sucht. Die Souveränität, die von ihm im Umgang mit dem Wissen erwartet wird, gibt es gegenüber den Grenzerfahrungen des Lebens nicht auf und vertraut auch hier auf eine Stimmigkeit, in der Natur und Vernunft nicht auseinanderfallen.

Vor Zweifeln kann sich das souveräne Individuum damit allerdings nicht bewahren. Sie können es jederzeit befallen, sobald sich ein Widerspruch zwischen seiner Einsicht und der unterstellten Vernunft des Ganzen auftut. Das ist im Glauben an einen göttlichen Grund nicht anders als im Vertrauen auf das Wissen.

Gleichwohl bietet es, wie schon betont, keine Garantie gegen den Irrtum. Im Gegenteil: Nur wo Wissen beansprucht wird, lässt sich die Wahrheit verfehlen. Das Gleiche gilt für den Glauben an Gott: Wer im Ganzen des Daseins nichts erwartet, wem es sinnlos erscheint, nach einem Sinn zu fragen, und wem es gleichgültig ist, ob es einen uns Menschen entsprechenden Zusammenhang aller Dinge gibt, der braucht weder über die Existenz Gottes zu streiten noch können ihn Zweifel an einer im Ganzen wirksamen Güte befallen. Nur wer im Verlangen nach einer ihm nicht verschlossenen Einheit des Daseins einen göttlichen Ursprung und eine alles ausgleichende Ordnung annimmt, kann verzweifeln, wann immer er den Eindruck hat, dass sie sich ihm versagt.

Also gilt: Die Irritierbarkeit des Menschen, die eine Voraussetzung für seinen Glauben ist, bleibt. Aber er hat die Chance, sich auch gegenüber dem Ganzen des Daseins als „vernünftiges Wesen“ zu verhalten. Das geschieht, wenn er mit Blick auf die Welt auf deren Einheit hofft, die er in jedem Segment seines Erkennens und Handelns unterstellt, sobald er sich als Person begreift, in der die Menschheit exemplarisch wird. Eine solche Person nenne ich, mit Nietzsche, ein „souveränes Individuum“, das seine Verantwortlichkeit selbst gegenüber dem nicht aufgibt, das eindeutig zu verstehen seine Kräfte übersteigt.

Die Souveränität des Glaubens

Wenn ich abschließend ein Wort Nietzsches aufnehme, dann in dem Bewusstsein, dass dieser schärfste Kritiker des jüdischen und des christlichen Glaubens auch das tiefste Verständnis für die Bedeutung Gottes im Dasein des Menschen bewiesen hat - ganz unabhängig davon, dass es ihm selbst nicht gelungen ist, wirklich vom Glauben loszukommen. Deshalb tut man ihm auch keine Gewalt an, wenn man die Rede vom „souveränen Individuum“ auf den Glauben überträgt.

Der sich selbstbewusst zu seinem Glauben bekennende Mensch hat seine Souveränität darin, dass er trotz der Grenzen des Wissens vor dem Ganzen des Daseins zu bestehen sucht. Denn im Bekenntnis zu einem göttlichen Grund gibt er Auskunft über den Ursprung einer Gewissheit, die er trotz allem hat. So kann er, selbst angesichts der durch das Wissen noch vermehrten Ungewissheit über sein Schicksal, Achtung vor der Welt und Vertrauen in sein Handeln bewahren. Im Glauben kann auch sein Wissen gerechtfertigt erscheinen, etwa als das, was ihn mit seinem Gott verbindet. Damit erhält auch das Wissen einen Grund im Ganzen des Daseins.

Der so bewundernswert aufrichtig erscheinende Agnostiker kann hier nur mit den Achseln zucken. Er muss die Dinge nehmen, wie sie sind. Auch der die Ablehnung Gottes zur Lebensmutprobe stilisierende Atheist kann sich lediglich den Üblichkeiten unterwerfen. Beide sind, sofern sie der Frage nach der Rechtfertigung ihrer Lebensziele überhaupt etwas abgewinnen können, an die Tatsächlichkeit der Tatsachen gebunden. Im Kleinen wie im Großen ist alles, wie es ist.

Wer so denkt, ist dem Wissen gegenüber nicht souverän. Nur wer sich zu einer alles Wissen übersteigenden, gleichwohl alles Wissen umfassenden, letztlich nicht anders als vernünftig begriffenen und sinnvoll empfundenen göttlichen Macht bekennt, kann diese Souveränität für sich in Anspruch nehmen, auch wenn er sich darin eingesteht, dass er der ihm grundsätzlich überlegenen Macht nicht gebieten kann. Souverän ist, wer im Bewusstsein seiner Grenzen das ihm selbst Mögliche tut und darauf vertrauen kann, dennoch das im Ganzen Angemessene zu tun. Zu diesem in sich gerechtfertigten, das menschliche Dasein mitsamt seinem Wissen tragenden Begriff des Ganzen kann nur der Begriff eines Gottes verhelfen.

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