Arabischer FrühlingDie "Arabellion" frißt ihre Kinder

Der sogenannte arabische Frühling wurde im Westen als bedeutende Rebellion für Freiheit und Demokratie enthusiastisch begrüßt. Nun aber zeigt die „Arabellion" ihr dunkles Gesicht - für die Christen.

Bei Redaktionsschluss war noch nicht klar, wer für die brutalen Übergriffe von Militär und Polizei gegen christliche Demonstranten in Kairo verantwortlich ist, bei denen Dutzende Menschen ums Leben kamen. Bekannt ist, dass den Protesten der Kopten ein Brandanschlag auf Kirchen in Assuan und Sohag vorausging. Junge Muslime, von radikalen Imamen und dem örtlichen Gouverneur aufgestachelt, hetzten seit langem und seit der arabischen Rebellion verstärkt gegen die christlichen Ureinwohner des heute überwiegend islamischen Landes.

Ein koptisches Jugendbündnis wollte ganz in der Nähe des Tahrir-Platzes, auf dem die neue „Freiheit" erkämpft worden war, mit Gesängen für ein friedliches Zusammenleben der Religionen und für Religionsfreiheit demonstrieren. Mehrere zehntausend Personen, überwiegend Christen, folgten dem Aufruf. Darunter waren auch etliche nachdenkliche, tolerante und ge­bildete Muslime, die in Sympathie mit den Christen endlich ein demokratisches, rechtsverbindliches Staatswesen wollen. Dann eskalierte die Situation, wobei die Ursachenforschung nicht abgeschlossen und immer noch unklar ist, ob Schläger des alten Regimes oder der auf die Machtübernahme hoffenden radikalen Muslimgruppierungen mit Provokationen die Gewalt heraufbeschworen.

„Spiegel Online" berichtete: „Mit Tränengas und Schlagstöcken gingen Soldaten auf Demonstranten zu. Ein Armeefahrzeug stieß mehrmals mit hohem Tempo in die Menge - vorwärts, zurück, im Zickzack - und überfuhr zahlreiche Menschen. Das zeigen auch Fernsehbilder." Soldaten schossen in die Versammlung. Demonstranten konnten einzelnen Militärs Waffen abnehmen „und feuerten zurück, Armeefahrzeuge brannten". Zitiert wird der Kopte Alfred Raouf: „Wir waren nicht bewaffnet, wir demonstrierten ja gegen Gewalt."

Als Beweis einer womöglich von islamischen Extremisten oder von der militärischen Übergangsregierung gelenkten Gewalt mit dem Ziel, selber die Macht für sich zu reklamieren, gilt etlichen Beobachtern, dass das staatliche Fernsehen einen Aufruf „an alle ehrbaren Bürger" sendete, der Armee beizustehen, weil Christen randalierten. Christliche Geschäfte wurden geplündert und verwüstet. Vor dem koptischen Krankenhaus schlug ein Mob auf geparkte Autos ein. Andere Fahrzeuge mit koptischen Insassen rasten durch die Straßen, um muslimischen Randalierern zu entkommen. Viele Kopten fühlten sich mit Schrecken an die fürchterlichen Ereignisse zur Jahreswende erinnert, als in Alexandria bei einem Attentat extremistischer Muslime auf eine Gottesdienstgemeinde in der Allerheiligenkirche zwanzig Menschen ums Leben kamen (CIG Nr. 2, S. 22, und Nr. 3, S. 29).

Verbündet: Armee und Extremisten

Mitten im sogenannten arabischen Frühling wird die christliche Minderheit in Ägypten, etwa ein Zehntel der knapp achtzig Millionen Einwohner, brutal eingeschüchtert und drangsaliert. Die koptischen Gemeinden sprechen von einer gezielten Kampagne des Militärrats gegen die Christen. Samia Sidhom, leitende Redakteurin der Kairoer Wochenzeitung „Watani International", die vor allem von Kopten gelesen wird, beklagt, die derzeit mächtigste Institution am Nil, das Militär, habe sich klar auf die Seite der islamischen Extremisten gestellt. Beide seien jetzt, unmittelbar vor den Parlamentswahlen, die für den 28. November angesetzt sind, starke Verbündete. „Für uns ist das eine furchtbare Nachricht."

Will das Militär den Gottestaat?

Die Gefahr ist groß, dass alte Seilschaften aus der Zeit Mubaraks, die auch jetzt noch die Fäden ziehen, die Spannungen zu ihren Gunsten nutzen. Schon früher hatte das Militär Provokateure in Zivil eingesetzt, um - wie jetzt wieder - eigene Gewaltanwendung zu rechtfertigen und sich zum eigentlichen Hüter der Ordnung gegen Chaos zu stilisieren. Die „Süddeutsche Zeitung" vermutet dahinter System: „Ägyptens Militärherrscher drucksen bei der Machtübergabe herum, suchen Komplizen, um ihre Privilegien in die Demokratie hinüberzuretten, und möchten sich so lange den Zugriff auf die rustikalen Herrschaftsinstrumente - Notstandsgesetze, Militärjustiz, vielleicht Kriegsrecht - offenhalten. Die Kopten als neues Feindbild kommen ihnen da gerade recht."

Der koptische Bischof für Deutschland, Anba Damian, bestätigt das: Der Militärrat sei von islamischen Radikalen „infiltriert", wolle einen islamischen Gottesstaat, in dem es für Christen keinen Platz mehr gibt. Martin Lessenthien, Vorstandssprecher der „Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte", wies darauf hin, dass die ägyptischen Christen inzwischen massenhaft zu Sündenböcken gestempelt wurden. Sie müssen für gesellschaftliche Fehlentwicklungen büßen.

Im Land am Nil hat die Diskriminierung der Christen, die sich ethnisch wie sprachlich als die eigentlichen Nachfahren der alten Ägypter verstehen (das Wort „Kopten" kommt vom griechischen egyptoi), eine lange traurige Tradition. Das aktuelle Erstarken radikaler islamischer Kräfte, vor allem der fundamentalistischen Muslimbrüder sowie - noch schlimmer - der Salafisten, einer Strömung, welche die theologischen und moralischen Auffassungen der islamischen Frühzeit gestärkt sehen möchte, bedroht das bisherige mehr oder weniger konfliktfreie beziehungsweise konfliktbehaftete Zusammenleben mit den Kopten zusehends. Bei Wahlen könnten laut dem Sozial­geografen Fouad Ibrahim radikalislamische Strömungen jetzt womöglich siebzig Prozent der Stimmen auf sich vereinen. An eine angemessene koptische Vertretung im Parlament sei beim Stand der Dinge nicht zu denken, weil man die Wahlkreise vergrößert habe, „damit die Stimmen der kleinen christlichen Wohngebiete untergehen".

Gerade die gut gebildete Generation junger Kopten, die intellektuell den gleichaltrigen Muslimen oftmals überlegen ist, will die ständige Gängelung nicht weiter hinnehmen. Eine beträchtliche Zahl wandert bereits nach Amerika und Europa aus, seit Frühjahr allein 100 000 Personen. Sie sind über die im Westen so enthusiastisch begrüßte und wohl auch recht naiv beurteilte arabische Rebellion ernüchtert. Sie glauben nicht daran, dass in einem derart muslimisch dominierten Staatswesen reli­giö­se Toleranz, Freiheit und Demokratie einziehen - mit entsprechend etwas Wohlstand. Die „Arabellion" frisst ihre Kinder?

Viele haben die trostlose Situation der christlichen Glaubensgeschwister im Irak vor Augen, die nach der Invasion des Westens und dem Sturz Saddam Husseins in einer „herrschaftsfreien Zone" nun der Willkür islamischer Extremisten ausgesetzt sind. Von daher ist auch die Skepsis vieler Christen in Syrien zu verstehen, die fürchten, dass ein Sturz des Autokraten Baschir al-Assad auch dort nur muslimischen Radikalen die Macht in die Hand gibt.

„Erdogan" oder „Bin Laden"?

In Ägypten hatte der koptische Patriarch Schenuda III. die Gläubigen vor Protesten gegen Mubarak gewarnt, sie zur Zurückhaltung aufgefordert, was auf vielfaches Unverständnis stieß, aber vielleicht doch weitsichtiger und realistischer war als westliche Einschätzungen. Vor allem die jungen Leute aus den koptischen Gemeinden schlossen sich dennoch den Protesten an. Ihnen reicht es nicht mehr, in der Nische einer stillen ­Parallelgesellschaft darauf zu hoffen, möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, meint der seit langem in Kairo lebende Theologe Frank van der Velden. Für die jüngere Generation der Kopten war es ermutigend, dass die Revolution keine religiöse Zielrichtung hatte und dass alle demonstrierenden Ägypter damals als Gleiche unter Gleichen auftraten, die schlichtweg eins wollen: Freiheit. Die Jüngeren wehren sich deshalb, wenn staatlich von außen die Religionsausübung bestimmt wird.

Ob wirklich eine Demokratisierung der arabischen Staaten möglich ist, wird zunehmend kritisch beurteilt. Wolfgang Günter Lerch, Fachmann für die islamische Welt, erklärte in der Zeitschrift „Die politische Meinung" (Mai 2011): „Arabien hat keine demokratischen Traditionen im modernen Sinne. Das alles Öffentliche prägende und überwölbende Gottesgesetz der Scharia sowie indigene (auf den Clanstrukturen aufbauende, d. Red.) Machtfaktoren haben ihre Herausbildung verhindert. Der geistige Unterbau für Pluralismus und Individualismus fehlt." Es werde Generationen dauern, bis der Aufbruch in tragfähige, von weiten Teilen der Bevölkerung akzeptierte Strukturen übergegangen sein wird. Auch Otmar Oehring, Leiter der Fachabteilung Menschenrechte beim Hilfswerk „Missio" in ­Aachen, dämpft in der „Herder-Korres­pondenz" (September) allzu optimistische Gedankenspiele. Die Bevölkerungsmehrheit in den arabisch-islamischen Ländern, die von Revolten betroffen sind, habe kaum eine Vorstellung von dem, „was da gerade in der arabischen Welt vor sich geht".

Viel wird davon abhängen, ob die islamischen Gesellschaften im Maghreb, am Persischen Golf, in der Sahara und auf der arabischen Halbinsel eine Trennung von Staat und Religion anstreben. Zwar wächst im arabischen Raum die Zahl derer, die weltlich - säkular - denken. Aber sie befinden sich als winzige Minderheit immer noch in einer islamisch geprägten Mehrheitskultur.

Allerdings ist selbst die islamische Geistlichkeit keineswegs einer Meinung. Während sich zum Beispiel der ägyptische islamische Rechtsgelehrte Ali Gomaa hinter die Rebellion des Frühjahrs stellte, erklärte die geistliche Führung der für Sunniten maßgeblichen Al-Azhar-Universität, darunter Großscheich Ahmad Muhammad at-Tayyip, die Proteste gegen die Staatsspitze für haram, also für verboten, weil sie sündhaft seien.

Die „New York Times" berichtete über die einflussreichen Islamgelehrten Azzam Tamimi aus Ägypten und dessen Lehrer Rachid Ghannouchi aus Tunesien, welche die Frontlinien im muslimischen „Kampf der Zukunft" weniger zwischen Säkularen und Religiösen als zwischen gemäßigten Ansichten und sehr radikalen verlaufen sehen. Es stehe das „Modell Erdogan" gegen das „Modell Bin Laden", das „Modell Indonesien" gegen das „Modell Taliban". „Der echte Kampf der Zukunft wird darum gehen, wer es schafft, die religiösen Sehnsüchte einer frommen Öffentlichkeit zu erfüllen", sagte Tamimi. Modern sei - so seine Auffassung - ein demokratisch legitimierter islamischer Staat, der von einer tief religiösen Partei gelenkt wird, die zugleich persönliche Freiheiten schätzt und schützt. Ob das auch die Menschenrechte einschließt? Die Christen der arabischen Welt werden solche religiöse Dominanz nicht befürworten.

Der Irak ist das negative Beispiel für das, was geschehen kann und vermutlich überall geschehen wird, wo ein Macht­vakuum entsteht, das radikale islamische Kräfte besser nutzen können als andere - und sei es durch Terror. Auch im Irak ist und bleibt das Ziel dieser Gruppen die Einführung des islamischen Rechts, der Scharia, als „beste aller Verfassungen" - nicht die Demokratie. Wer in dieser Gemengelage an Demokratie nach europäischem Modell denkt, hat keine Ahnung von der Realität, meint der chaldäische Erzbischof Louis Sako von Kirkuk, der im Westen als einer der wichtigsten Verteidiger der Christen im Nahen Osten gilt.

Arabische Identität

Sako befürchtet, dass sich infolge des „arabischen Frühlings" die Völker und Religionen des Nahen Ostens weiter zersplittern. Das Mosaik eines jahrhundertealten Pluralismus der Völker und Kulturen in der Region werde zerstört. Er plädiert für eine Rückbesinnung auf die gemeinsame arabische Mentalität, was etwas anderes sei als die Fixierung auf die Religion, den Glauben als Identität. In einem Artikel der Nachrichtenagentur „AsiaNews" schreibt der Erzbischof: „Wir Christen müssen unseren muslimischen Nachbarn und Mitbürgern in der Region deutlich machen, dass wir ein integraler Bestandteil der arabischen Bevölkerung sind. Denn wir trugen während der Kalifate der Omajjaden und Abbassiden entscheidend zur Bildung der Kultur bei. Wir spielten eine Hauptrolle bei der Geburt der arabischen Nationen im achtzehnten Jahrhundert. Heute möchten wir diese Aufgabe fortführen, Seite an Seite mit den Muslimen."

Im Vatikan herrscht große Besorgnis über die Ereignisse in Kairo. Der Nuntius, Erzbischof Michael Fitzgerald, hielt sich dennoch mit Kritik zurück, da eine neuerliche diplomatische Eiszeit zwischen Kairo und dem Vatikan vermieden werden soll. Anfang des Jahres hatte die Führung der Al-Azhar-Universität den Dialog mit den Katholiken - wie sie es nannte - „eingefroren". Weil Benedikt XVI. den koptischen Angehörigen der Opfer des Anschlags radikaler Muslime in Alexandria seine Anteilnahme ausdrückte und zur Achtung der Religionsfreiheit aufrief, wurde dies von den islamischen Geistlichen, die sich beleidigt gaben, so gedeutet, als ginge der Papst davon aus, alle Muslime unterdrückten Nichtmuslime. Außerdem habe sich der Papst in innere Angelegenheiten Ägyptens eingemischt.

Dass islamisch-christliche Kontakte unter Menschen guten Willens auch in unsicheren Zeiten möglich sind, zeigte kürzlich ein kaum beachteter religiöser Gipfel in Beirut. Der syrische Großscheich Ahmad Hassoun, ein Anhänger der islamischen Mystik und engagiert im interreligiösen Dialog, kam mit dem griechisch-melkitischen Patriarchen Gregorios III. Laham, der in Damaskus residiert, zusammen. Sie berieten über die dramatisch sich zuspitzende Lage in Syrien, wo das Assad-Regime die Opposition weiter brutal niederknüppeln lässt. Beide religiösen Führer befürchten, dass nach einem Sturz des syrischen Regimes die gut organisierten islamischen Extremisten in der gesamten Region das Ruder übernehmen und dass das Klima völlig intolerant wird. Gregorios III. hatte sich zuletzt für Assad ausgesprochen.

Ähnlich argumentiert der neue maronitische Patriarch des Libanon, Bechara al-Raï. Man müsse dem syrischen Staatschef „eine neue Chance und genug Zeit geben, um die Reformen in Gang zu bringen, die er angekündigt hat … Wir sehen aber nicht tatenlos auf das syrische Regime. Allerdings fürchten wir das nachfolgende, wenn das jetzige stürzt." Auch im Libanon wird täglich demonstriert.

Dass unter syrischen Christen nicht allein Angst das Handeln bestimmt, berichtete die „International Herald Tribune". Sie erwähnte die Christen Michel Kilo und Fayez Sara, zwei Journalisten, die zu den prominenten Führern der Aufstände gehören, bei denen nach Angaben der Vereinten Nationen bisher mehr als 2600 Menschen ums Leben kamen. Die Zeitung erzählt auch von einem Christen, der an einem Protestmarsch gegen das Assad-Regime teilgenommen hatte und in ein benachbartes Wohnhaus flüchtete, als Sicherheitskräfte auf die Leute schossen. Der Besitzer des Hauses, ein Muslim, fragte nach dem Namen des unverhofften Gastes. „Ängstlich dachte dieser für einen Augenblick daran, zu lügen." Man hätte leicht an seinem Vornamen erkannt, dass er Christ ist. Doch blieb er ehrlich. „Zu seiner Überraschung begannen der muslimische Gastgeber, dessen Familie und alle, die dort Zuflucht gefunden hatten, freudig zu jubeln." Er war willkommen.

Der algerische Schriftsteller Boualem Sansal, der jetzt den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhält, erklärte: Wenn die arabischen Rebellionen scheitern, werde die gesamte Region zu einem neuen Irak, einem neuen Afghanistan, einem neuen Somalia. „Diesen Revolutionen zum Erfolg zu verhelfen, ist Sache aller: der Völker des Südens in erster Linie, aber gleichermaßen auch der demokratischen und entwickelten Welt. Diesmal kämpfen wir gemeinsam …, für neue Zivilisationen, … für eine weltweite Versöhnung, die allein die Wiederkehr der Barbarei zu verhindern mag."

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