Burkhard Spinnen im InterviewWir stehen vor einem Babel

Bei den "36. Tagen der deutschsprachigen Literatur" in Klagenfurt äußerte sich der Münsteraner Schriftsteller und Germanist Burkhard Spinnen, Jury-Vorsitzender des Ingeborg-Bachmann-Preises, in einem Gespräch mit dem CIG über Literatur, Glaube - und was sie verbindet.

CIG: Herr Spinnen, viele Kritiker und Intellektuelle, ob im Literaturbetrieb oder an universitären Einrichtungen, sind der Meinung, dass die literarischen Klassiker im Grunde hinreichend besprochen sind. Was ist für Sie das Interessante am Ingeborg-Bachmann-Preis, also an bisher unveröffentlichten literarischen Texten von häufig sehr jungen Autoren?

Spinnen: Literatur gibt Auskunft über Dinge, die ich möglicherweise gar nicht hören möchte. Zeitgenössische Literatur muss überraschen, muss ergründen, auf was ich noch nicht gestoßen bin. Man kann als Kritiker auf die jungen Autoren herabschauen und sagen: Das sind die, die es noch nicht so richtig können. Aber das ist eine blödsinnige patriarchalische Haltung. Es sind Schriftsteller einer Generation, die Dinge wahrnehmen, für die mein Sensorium schon nicht mehr ausreichend ist. Literatur, das ist ein Seismograf der Gegenwart.

Das Religiöse in der Literatur

CIG: Da bemühen Sie ein großes Bild. Aber an welchen Stellen des diesjährigen Literaturwettbewerbs haben Sie wirklich gedacht, dass die Autoren etwas in der Gegenwart beobachtet haben, was Sie vorher so nicht gesehen haben?

Spinnen: Solche Momente gab es, auch wenn ich nicht immer in Welten geführt wurde, die mir völlig unbekannt sind. Das ist auch selten der Fall. Aber die unterschiedlichen Bewertungen von menschlichen Grunderfahrungen wandeln sich. Ein plakatives Beispiel ist der Umgang mit Kindheit. Das hieß für eine deutsche Nachkriegsgeneration einmal, die Eltern anzuklagen wegen ihrer Verstrickung in den Nazismus. Da wurde man mit den Verwüstungen der dreißiger und vierziger Jahre konfrontiert - ein großes Thema in der Literatur. Heutige Kindheitszeiten sind nicht mehr so sehr von den Unterschieden zu den Eltern geprägt. Das Leben spielt sich eher in einer Einheitskultur ab. Aber auch da gibt es Verwerfungen. Deshalb gab es in den letzten Jahre viele Bücher, in denen sehr harsch mit den Eltern der antiautoritären Bewegung abgerechnet wurde.

CIG: Die von den Vorkriegs- und Kriegsjahren geprägten Eltern waren zumeist noch religiös sensibel. Zeigt sich das gesellschaftlich erlebbare Ende der Volkskirche auch in der Literatur?

Spinnen: Ja. Wir hatten zwar in den letzten Jahren mit der massiven Kritik an der katholischen Priesterschaft noch einmal so etwas wie eine folkloristisch aufflackernde Institutionskritik. Aber es geht nicht mehr darum, dass man die „Macht der Kirche“ brechen will.

CIG: Weil sie längst gebrochen ist?

Spinnen: Weil sie längst nicht mehr existiert. Mit dem Ende der DDR stießen noch einmal viele Millionen Menschen, die schon in der Wolle atheistisch oder - man würde besser sagen - agnostisch gefärbt sind, zum deutschen Alltag. Das prägt das Soziale wie das Politische. Wie die Literatur darauf reagiert, bleibt abzuwarten. Spiritualität und Religiosität waren in den letzten Jahrzehnten immer eng verknüpft mit der Institutionskritik, ja erschöpften sich häufig darin. Die Esoterik baute quasi einen transzendenten Nebenschauplatz auf.

CIG: Sie würden Institutionskritik und den Abbruch von religionsgeschichtlichen Schablonen und Motiven in der Literatur also nicht trennen?

Spinnen: Das ist lange parallel gelaufen. Eigentlich müsste der Raum jetzt frei sein für eine unbelastete Aufarbeitung des Christlichen und eine Bestandsaufnahme des agnostischen Ist-Zustandes. Eigentlich. Das braucht aber ein großes Herz und einen langen Atem. In dem Roman „Gottesdiener“ von Petra Morsbach entwickelt sich ein bayerischer Landpfarrer in einen solchen agnostischen Raum hinein. Da ist keine Hoffnung zu sehen, da ist auch für den Pfarrer nichts mehr zu gewinnen. Eine Märtyrergeschichte. Aber solche Texte sind selten. Momentan sehe ich als Thema eher den gesellschaftlichen Umstand, dass wir hierzulande auf eine muslimische Parallelgesellschaft, auf stark religiös fundierte Menschen treffen. Das geschieht aber aus einer eher agnostischen Position heraus. Wir sagen zum Muslim weniger: Wir können nicht so richtig mit dir, weil du nicht den „richtigen“ Gott hast. Sondern: Wir können nicht mit dir, weil du „überhaupt“ einen Gott hast, den du über die Gesetze und die Alltagskonventionen stellst.

CIG: Hat diese Angst das Kölner Landgericht zu seinem Verbot der Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen getrieben?

Spinnen: Das Urteil zur Beschneidung ist womöglich eine Parabel auf die eigentliche Auseinandersetzung. Und die findet nicht zwischen Christen und Muslimen statt, sondern zwischen einer rechtlich fundierten Zivilgesellschaft und einer religiösen Gesellschaft. Jahrhundertelang war der Staat für Recht und Gesetz zuständig, aber die Religionen prägten den Lebensalltag der Menschen. Das ist zumindest bei uns zusammengebrochen. Wir haben praktisch alles Regelwerk dem Staat überantwortet, daneben bestehen wir auf große individuelle Freiheiten. Jetzt werden wir mit Migranten konfrontiert, die ihr Leben sehr stark religiös ausrichten. Ein Muslim feiert in der Regel wie ein Muslim. Ein Kölner ist mit einem Kölner - auch wenn sie beide katholisch getauft sind - nicht identisch. Wenn die Kölner heiraten, diskutieren sie darüber, wie das gehen soll. Wenn Muslime heiraten, halten sie sich an Regeln.

CIG: Schlagen sich diese Unterschiede und Konflikte in den Texten der Klagenfurter Literaturtage nieder? Waren die Werke nach dem 11. September 2001 etwa sehr politisch oder religiös?

Spinnen: Wenn sie das tun, fallen sie hier durch und zwar zu Recht.

CIG: Warum?

Spinnen: Weil selbst so ein Ereignis wie der 11. September auch Jahre danach noch kein Material für eine Literatur ist, die ihren Zweck erfüllen soll, über den unmittelbaren Gegenstand ihrer Beschreibung hinauszuwachsen. Es gibt eine Tendenz, von der Literatur einen ästhetisch überhöhten, aber im Grunde journalistischen Aufschluss über die Gegenwart zu gewinnen. Ganz ohne Zweifel wird der 11. September auf ewig eine Zäsur bilden in unserem politischen Denken. Verglichen mit dem Zusammenbruch der ideologischen Systeme aber ist er ein Nebenphänomen.

Die BRD ist kein Gottesstaat

CIG: Für den Berliner Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme ist Literatur von allem Anfang an der Versuch, Sprache und Haltung zu gewinnen angesichts von Katastrophen und Schmerz, von Chaos und Krise. Welche Sprache geben aktuelle Texte etwa der Euro-Staaten-Krise, der Krise in Syrien oder auch den Glaubens- und Kirchenkrisen? Hat moderne Literatur eine Haltung in diesen chaotischen Zeiten?

Spinnen: Durch den Zusammenbruch der Ideologie, des Überbaus über die politischen und ökonomischen Phänomene, ist es schwierig geworden für Literatur, an die aktuelle Ereigniswelt nah heranzugehen. Es fehlen einfach die alten Deutungsmuster. Schon die Behandlung eines Themas wie die muslimische Integration lässt praktisch jeden Schritt im Fettnäpfchen enden, weil aktuelle Grundprinzipien wie die Verteidigung der Demokratie und das Toleranzgebot einander widersprechen. Parteiprogramme, die alle Widersprüche aufheben, gibt es nicht mehr.

CIG: Ist die Welt also zu komplex geworden, um sie in Literatur zu packen?

Spinnen: Ich würde mal anders herum sagen: Die Welt wird zu komplex, um sie in Politik und Gesetze zu packen. Ich würde mir tatsächlich wünschen, dass mehr Literatur das anfasst. Nehmen wir die Beschneidungsfrage. Ich habe mir bislang keine Gedanken darüber gemacht, dass eine Beschneidung in unserem Rechtsstaat Körperverletzung sein könnte. Aber unsere Gesetze lassen offenbar eine solche Auslegung zu.

CIG: Aber für jüdische Gläubige fordern die Tora-Gesetze diese Beschneidung. Da gibt es eine Macht der Worte.

Spinnen: Richtig, aber die Bundesrepublik ist kein Gottesstaat. Unsere Rechtsprechung orientiert sich an weltlichen Kategorien. Religiosität hat sie zur Privatsache erklärt. Gesetze versuchen, die Interessen aller, die auf diesem Territorium leben, unabhängig von ihrer religiösen Herkunft unter einen Hut zu bekommen. Die Unverletzlichkeit des Körpers haben wir über alles gestellt. Doch offenbar ist damit den Ansprüchen einer multikulturellen Gesellschaft nicht Genüge getan. Das ist ein Dilemma.

CIG: Sie haben anlässlich des Internationalen Tages der Muttersprache gesagt: „Menschen, die Sie nicht verstehen können, deren Freund werden Sie nicht.“ Gilt das auch für die jahrtausendealten Metaphern und Symbolwelten der Bibel?

Spinnen: Mehrere Jahrhunderte lang haben biblische Geschichten Menschen auf ein gemeinsames Weltbild und die gemeinsame Gestaltung ihres Lebens einzustimmen und einzuschwören versucht. Das Christentum war unter anderem der ungeheure Versuch, über Länder und Sprachgrenzen hinweg Menschen auf einen Text und seine Vorstellungswelt zu konzentrieren. Das ist sicherlich keine so ganz dumme Idee. Die Muslime praktizieren das bis heute in hoher Intensität und verstärken es noch. Wir stehen dagegen vor einem Babel der Individualsprachen - Jargons, Fachsprachen, milieuspezifisches oder ökonomisches Reden…

CIG: …und das religiöse Sprechen ist schon untergegangen …

Spinnen: Weitestgehend. Ich musste schon in den frühen neunziger Jahren Germanistikstudenten bei der Lektüre älterer Texte dringend auferlegen, sich eine Basiskenntnis der Bibel zu verschaffen, um die Metaphorik dieser Texte zu verstehen.

CIG: Ist das die eigentliche Religionskrise? Dante oder Boccaccio, Heinrich Heine oder Philip Roth werden nicht mehr verstanden, weil man die Bibel nicht kennt?

Spinnen: Da geht der Literatur des Abendlandes in der Tat eine gemeinsame Basis verloren. Aber das ist ein Prozess, der schon vor langer Zeit eingesetzt hat. Die deutschen Naturalisten haben am Ende des 19. Jahrhunderts noch mit religiösen Symbolen um sich geworfen. Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg haben wir eine große agnostische Unterströmung. Es ist also gar keine individuelle Schlamperei, wenn man damit nicht groß wird. Religiöses Gedankengut ist aus dem Alltag weitestgehend verschwunden. Die permanente Identifizierung etwa von Todesgeschichten mit der Leidensgeschichte Jesu, die hinter jeder individuellen Sterbensgeschichte als metaphysisches Muster stand, ist weggefallen und wird auch nicht wiederkommen.

CIG: Vermissen Sie Texte, die religiöse Texte inhaltlich im Hintergrund, im Subtext, mitführen?

Spinnen: Nein, wie sollte ich auch? Solche Texte könnten ja sinnvoll nur existieren, wenn es eine breite Kenntnis der biblischen Schriften gäbe. Es ist ein Merkmal unserer Gegenwart, dass die Anspielungsräume hingegen hochgradig differenziert und voneinander getrennt sind. Der Umstand, dass jetzt alle zwei Jahre so extensiv über Fußball gesprochen wird und alle mitmachen, zeigt die große Sehnsucht nach kompatiblen und allgemeintauglichen Anspielungskontexten.

CIG: Und das Religiöse gehört nicht mehr dazu?

Spinnen: Kaum. Leider.

Das Gespräch führte Christoph Schulte.

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