Kirchliches LehramtMacht, Vollmacht und Ohmacht in der Kirche

Über kaum ein anderes Thema wird in der katholischen Kirche momentan derart heftig diskutiert wie über lehramtliche Autorität.

Papst Benedikt XVI. ist zurzeit der fünftmächtigste Mann der Welt. Das hat neulich das amerikanische Wirtschaftsmagazin „Forbes“ bekanntgegeben. Die vier mächtigsten Persönlichkeiten sind demnach US-Präsident Barack Obama, Bundeskanzlerin Angela Merkel, Russlands Staatspräsident Wladimir Putin und der „Microsoft“-Gründer Bill Gates. Was aber heißt „mächtig“?

Die lateinische Sprache unterscheidet potentia für Macht von potestas für Vollmacht. „Macht“ bezeichnet das Vermögen, bestimmte Anliegen, Forderungen, Interessen mit Zwang oder sogar mit Gewalt durchzusetzen, wenn Überzeugungsarbeit und/oder geschriebenes Recht nicht ausreichen. „Vollmacht“ hingegen hat ein Mensch oder eine Institution, wenn es nicht des Zwangs bedarf, wenn vielmehr Überzeugungskraft genügt, um Zustimmung zu erreichen. Das Neue Testament hebt die Vollmacht (exousía) Jesu von Nazaret hervor: „Als Jesus diese Rede beendet hatte, war die Menge sehr betroffen…; denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten“ (vgl. Mt 7,28f; Mk 1,22f; Lk 4,32). Von vornherein könnte man annehmen, dass in der Kirche einzig aus Vollmacht gehandelt wird. Mit Macht oder Zwang darf unter Christen nichts geschehen, weil es der Botschaft Jesu Christi widerspricht. Tatsächlich aber wird nicht nur in der Kirche, sondern sogar durch die Kirche Macht ausgeübt. Das Verhältnis von Macht und Vollmacht in der Kirche ist nicht nur eine pragmatische und kirchenrechtliche Frage, sondern sie ist zuerst ein theologisches Problem.

Die Kaiser wollen Konzilien

Im Lauf der ersten vier Jahrhunderte wuchs der Kirche Macht zu. Soziologisch betrachtet, hatte die Glaubensgemeinschaft anfangs den Status einer Sekte. Es waren zunächst Hausgemeinden unter Leitung des Familienvaters. Ziemlich bald kam es zum Zusammenschluss von Hausgemeinden, wobei im zweiten Jahrhundert bereits in einfachen Umrissen das spätere Bischofsamt erkennbar wird. Trotzdem waren es immer noch Kleingruppen innerhalb einer halb heidnischen, halb säkularen, jedenfalls verständnislosen Umwelt, welche die Christen zeitweise misstrauisch betrachtete und verfolgte. Zugleich waren die Christen aber aufs Höchste motiviert, ihre Botschaft möglichst vielen Menschen überzeugend mitzuteilen.

Bereits im dritten Jahrhundert war der christliche Glaube weit verbreitet, bis hinein in Kreise des Militärs, der Politik und der Intellektuellen. Es kam zu ersten literarischen Disputen. Das bekannteste Beispiel ist der Schlagabtausch zwischen dem Christentumskritiker Kelsos und dem griechischen Theologen und ersten „Bibelforscher“ Origenes. Wirkliche Macht bekam die Kirche, als nach dem sogenannten Mailänder Edikt 311 die Christenverfolgung aufhörte und das Christentum im Römischen Reich Staatsreligion wurde. Fortan waren Bischöfe Staatsbeamte.

Die neue Situation bedeutete für die Kirche, dass dem Kaiser daran gelegen sein musste, religiöse Unruhen und Spaltungen zu vermeiden. Dazu brauchte er die Bischöfe als ordnende Kräfte. Innerkirchliche theologische oder strukturelle Konflikte waren nun zugleich politische Konflikte. Konnten sie gelöst werden, wurde das Ergebnis mit Macht durchgesetzt. Diesem Zusammenhang verdankt sich die „Erfindung“ der ökumenischen Konzilien beziehungsweise der regionalen Synoden. Diese sind eben keine Erfindung der Kirche. Vielmehr musste der Kaiser, gelegentlich unter Zwang, die Bischöfe dazu bringen, einen theologischen Streit so zu lösen, dass das Ergebnis als Reichsgesetz verkündet werden konnte.

Das Konzil von Nizäa 325 war die erste derartige Versammlung. Es legte verbindlich fest: Der ewige, mit dem Vater wesensgleiche Sohn Gottes sei in Jesus Christus wirklich Mensch geworden. Seitdem durfte durch Reichsgesetz niemand mehr im Römischen Reich behaupten, Jesus sei ein bloßer Mensch und nur irgendwie besonders mit Gott verbunden, wie es die Anhänger des Arianismus vertraten.

Manche dieser Entwicklungen entbehrten nicht einer gewissen Ironie: Wenn zum Beispiel der auch nach dem Konzil von Nizäa weitergehende Streit um die Gottessohnschaft Jesu auf einer - später widerrufenen - regionalen Synode sich doch noch einmal für die in Nizäa abgewehrte Irrlehre der sogenannten Arianer starkmachte und der Kaiser sich davon überzeugen ließ, war plötzlich durch Reichsgesetz jeder römische Bürger Arianer, hing also einer Irrlehre an.

Die Machtausübung durch die Kirche und das Interesse von Kaiser und Fürsten daran hielten sich auch nach der Trennung zwischen Ostkirche und Westkirche 1054. Nur vollzog sich jetzt dasselbe Spiel parallel in Ost und West, in Konstantinopel und in Rom. Je weiter das ursprünglich gemeinsame Interesse an der Macht zeitlich zurücklag, desto schwächer wurde die Verbindung. Das Verhältnis verkam zum bloßen Machtspiel. Auch die Reformation hat daran grundsätzlich nichts geändert. In diesem Bereich verlagerte sich das Ringen um die Macht auf das einzelne Territorium, wurde zusätzlich dadurch verkompliziert, dass Martin Luther die Fürsten zu „Notbischöfen“ und damit zu Herren über ihre Territorialkirche ausrief, weil in Deutschland kein Bischof zur Reformation übertrat und damit in der Lage war, lutherische Bischöfe zu ordinieren.

Seit der Säkularisation 1806 waren beide Seiten nicht mehr aneinander interessiert. Staat wie auch Kirche verbaten sich jede Einmischung der Gegenseite. Macht konnte die Kirche nun einzig noch ausüben durch Mobilisierung des Kirchenvolks und entsprechenden Druck auf die politischen und gesellschaftlichen Instanzen - bis hin zur Gründung „katholischer“ Parteien.

Welche Macht aber hat die Kirche heute? Welche Macht haben die Amtsträger? Allem voran hat die Kirche Macht über ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sei es über die Laien oder über die Kleriker. Das Lehramt mit seinen Behörden prüft, soweit feststellbar, die Rechtgläubigkeit und die christliche Lebensführung von Menschen, die ein kirchliches Amt ausüben oder in einer Einrichtung der Kirche mitarbeiten.

Das fängt an bei der Erzieherin im katholischen Kindergarten, der gekündigt wird beziehungsweise die gar nicht erst eingestellt wird, wenn sie zum Beispiel sich öffentlich gegen verbindliche Lehren der Kirche äußert, wenn sie geschieden und wieder verheiratet ist oder wenn sie ohne kirchliche Trauung mit einem Partner zusammenlebt. Es betrifft die Mitarbeiter der kirchlichen Verwaltung. Entsprechendes gilt auch für die vergleichsweise selbstständigen kirchlichen Institutionen wie etwa die Hilfswerke. An deren Spitze steht zwar nach wie vor ein priesterlicher „Präsident“, die tägliche Arbeit aber wird von Laien verrichtet.

Nihil obstat?

Erst recht und verstärkt gilt die kirchliche Macht für das sogenannte Nihil-obstat-Verfahren („Es bestehen keine Bedenken“) bei Berufungen auf ein kirchengebundenes Lehramt an Hochschulen. Nachdem eine katholisch-theologische Fakultät eine Berufungsliste aufgestellt hat, muss sie über den Ortsbischof bei der vatikanischen Glaubenskongregation eingereicht werden. Dort werden Gutachter bestimmt, die die Rechtgläubigkeit der Kandidaten aufgrund ihrer Veröffentlichungen und ihrer bisherigen öffentlichen Wirksamkeit überprüfen. Je nach den Bestimmungen der einschlägigen Staat-Kirche-Verträge müssen sie sogar die Reihenfolge auf der Berufungsliste bewerten und das Ergebnis dem Ortsbischof übermitteln. Verläuft alles positiv, teilt der Bischof dem zuständigen Minister mit: Nihil obstat. Dieser kann daraufhin den Ruf aussprechen. Wird das Nihil-obstat jedoch verweigert, muss der Bischof das ebenfalls dem Minister mitteilen, und das Verfahren muss von vorn beginnen. Dieser Ablauf gilt hierzulande für jede Erstberufung.

Ein ähnliches Verfahren ist auch bei der Anstellung von Religionslehrern fällig. Denn um den von den Gesetzen vorgeschriebenen konfessionellen Religionsunterricht erteilen zu können, bedürfen diese der „kanonischen Sendung“, der Missio canonica, die vom jeweiligen Bischof erteilt wird. Das Gleiche gilt bei der Einstellung von Pastoralreferenten, die heute in vielen Seelsorgebereichen die Funktion ausüben, die früher den Kaplänen zukam, ausgenommen die Sakramentenspendung.

Alle genannten Personen müssen außerdem wie jeder Kandidat vor der Diakonen- oder Priesterweihe das Glaubensbekenntnis ablegen und den sogenannten „Treueid“ schwören. Er besagt, dass sie auch den nicht-dogmatisierten, aber letztverbindlich („definitiv“) vorgelegten Lehren des Papstes inneren und äußeren Gehorsam leisten. Wer sich weigert, wird nicht angestellt oder im Falle einer Zuwiderhandlung entlassen. Allerdings gibt es auch Bischöfe, die mit Rücksicht auf Gewissensbedenken gegenüber diesem „Blanko-Scheck-Eid“ insbesondere bei nichtpriesterlichen Mitarbeitern auf die Abnahme des Eids verzichten.

Die Kirche übt eine erhebliche Macht aus über die berufliche Existenz ihrer Mitarbeiter. Wer sich hingegen nicht an die Regeln hält, gegen den werden ebenfalls Machtmittel eingesetzt. Wenn zum Beispiel ein Priester die Zölibatspflicht verletzt hat, reichen die Maßnahmen von der Forderung der Trennung von der Partnerin - oder gegebenenfalls auch dem Partner -, über die Versetzung bis zur Suspension, also zum Berufsverbot. Wenn der Betroffene sich entschließt, standesamtlich zu heiraten, verstößt er gegen das kirchliche Recht und verliert automatisch sein geistliches Amt, wird exkommuniziert.

Geld, Verbote und Gebote

Wenn bekannt wird, dass kirchliche Amtsträger oder Mitarbeiter eine homosexuelle Neigung haben, reagieren die kirchlichen Vorgesetzten in aller Regel noch allergischer als bei der Verletzung der Zölibatspflicht - als ob man für die letztere noch ein gewisses Verständnis aufbringt, für die erstere aber nicht. Mitunter wird mittels der kirchlichen Haltung zur Homosexualität Druck auf Amtsträger und Mitarbeiter mit solcher Neigung ausgeübt, um deren Wohlverhalten zu erreichen.

Die Kirche kann auch Nichtpriestern eine Eheschließung verbieten, wenn ihr dies aus bestimmten Gründen des Ansehens der Kirche notwendig scheint. Dabei ist nach kirchlicher Lehre das Recht auf Eheschließung ein Naturrecht, also göttliches Recht, und unterliegt eigentlich nicht kirchlicher Macht. Die Kirche hat zudem die Möglichkeit, ihren Mitarbeitern bestimmte Berufe zu verbieten. Der spektakulärste Fall ist immer noch das Verbot für Priester, ein politisches Amt zu übernehmen, es sei denn um den Preis, das kirchliche Amt aufzugeben oder zumindest ruhen zu lassen.

Immer schon kennt die Kirche die Möglichkeit, Macht außerhalb ihrer selbst durchzusetzen, etwa in der Politik. In der Zentrumspartei im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert waren katholische Laien zwar die Wortführer. Doch befanden sie sich stets unter einer Art Aufsicht der Bischöfe. In der Weimarer Republik war der Zentrumsvorsitzende ein katholischer Prälat. Ähnliche Strukturen gab es auch in anderen Ländern, so in Italien, wo der politische Einfluss des Vatikans bis heute beträchtlich ist.

Im Deutschland der Nachkriegszeit gaben sich besonders die Unionsparteien offiziell interkonfessionell. Sie galten aber in der Öffentlichkeit nicht selten als „katholisch“ mit entsprechenden Wertevorstellungen. Derartige Verquickung gibt es auch auf anderen Ebenen. So gilt bis heute, dass für bestimmte denkmalgeschützte kirchliche Bauwerke - Kirchen und Kathedralen - Pfarreien und Bistümer Nutzungsrecht haben und der Staat für den Unterhalt aufkommt. Darüber hinaus zahlt hierzulande infolge der Säkularisation der Staat bis heute Gehälter der Bischöfe und der bischöflichen Ordinariate, was freilich soeben wieder hinterfragt wird.

Die bedeutendste Macht außerhalb ihrer selbst hat die Kirche dadurch, dass sie Institutionen in kirchlicher Trägerschaft gründen kann: Schulen, Krankenhäuser, Hilfswerke, Verlage, die nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten mit Gewinnerwartung arbeiten und zugleich, wenn sie dem Allgemeinwohl dienen, auch entsprechende Zuschüsse vom Staat bekommen. Wenn dies gelegentlich als rechtlich unzulässige Unterstützung der Kirche mit öffentlichen Mitteln kritisiert wird, sollte man be­denken: Würde die Kirche diese Institutionen in kirchlicher Trägerschaft aufgeben, könnte sie der Staat keinesfalls sofort auch nur annähernd in vollem Umfang ersetzen. Es besteht ein beiderseitiges Interesse aneinander. Freilich unter der Bedingung einer angemessenen Transparenz.

Im Licht neutestamentlicher Vorgaben ist es vor allem die mangelnde Transparenz, die bei der Machtausübung der Kirche Probleme aufwirft. Beim Nihil-obstat-Verfahren ist dies offenkundig. Die Betroffenen bekommen zwar die Gutachten zu lesen, aber anonymisiert. Und nur gelegentlich, wenn die Gutachter allzu unvorsichtig formuliert haben, kann man durch Stil und Sachvergleich den Namen des Gutachters erschließen und stößt dann häufig nicht gerade auf solche, die dem freien Wort in der Kirche und der offenen Diskussion uneingeschränkt das Wort reden.

Auch dem zuständigen Ortsbischof werden keine Gründe für eine Ablehnung mitgeteilt. Er ist dann in der misslichen Lage, dem Ministerium die Ablehnung einer von der Fakultät gewissenhaft erstellten Kandidatenliste mitteilen zu müssen und dafür nicht einmal Gründe angeben zu können. Nur in seltenen Fällen gelingt es, einen negativen Bescheid wieder zu ändern. Dann hat ein mutiger Bischof sich den römischen Bescheid nicht einfach gefallen lassen und begibt sich persönlich nach Rom, um direkt einzugreifen.

Vermisst: Transparenz

Dass bisweilen geschiedene Wiederverheiratete aus dem kirchlichen Dienst „entfernt“ werden, selbst wenn sie kompetent sind und sich beruflich ausgezeichnet verhalten haben, gehört zu den Problemen, die von der Kirchenleitung dringend näher angeschaut werden müssten. Gleiches gilt für das Verhältnis der Kirche zu Mitarbeitern, deren homosexuelle Neigung bekannt wird. Für eine glaubwürdige Ausübung kirchlicher Macht nach außen wäre es hilfreich, wenn die Bistümer die Verwendung der Kirchensteuer sowie die finanzielle Unterstützung kirchlicher Einrichtungen im Sozialbereich offenlegten. Womöglich trüge dies dazu bei, dass mancher Entschluss zum Kirchenaustritt hinfällig würde, weil sich die bis dahin so vermisste Transparenz nunmehr einstellte. Ein glaubwürdiger und transparenter Umgang der Kirche mit der ihr und den Amtsträgern geschichtlich zugewachsenen Macht wäre Ausdruck dessen, was tatsächlich Vollmacht ist. Die kann ihr niemand nehmen und bestreiten.

Ein Pfarrer kann eine höchst umstrittene Person in seiner Gemeinde sein. Er kann sogar menschlich und moralisch versagen und ein inakzeptables Leben führen. Sobald der Mann aber am Altar steht und die Liturgie, die Eucharistie feiert, schweigt die Kritik. Alle Gottesdienstteilnehmer wissen: Jetzt handelt er nicht als der einzelne problematische Christenmensch, sondern als Diener, als Bevollmächtigter und Repräsentant Jesu Christi. Wer aus seiner Hand das Sakrament empfängt, hat nicht den geringsten Nachteil dadurch, dass dieser Bevollmächtigte menschlich der wandelnde Widerspruch zum Glauben ist, den er verkündet.

Dieses Beispiel zeigt, was Vollmacht von bloßer Macht unterscheidet. Vollmacht wird nicht erobert oder von Natur aus mitgebracht. Vollmacht wird verliehen, auch dann noch, wenn sie wie ein Naturereignis auftritt wie bei Jesus und seiner „vollmächtigen“ Rede (vgl. Mt 7,28f). Oder sie wird von dazu Berechtigten für einen bestimmten Bereich verliehen.

Der klassische Fall in der Kirche ist darum die Vollmacht, „gültig“, also im Sinne Christi, die Sakramente zu spenden und die mit ihnen verbundenen gottesdienstlichen Riten auszuführen. Das geschieht ausschließlich durch Ordination. Wenn diese Vollmacht einem Christenmenschen einmal verliehen ist, kann sie nach dogmatischem Verständnis nie mehr zurückgenommen werden. Sie gilt lebenslang.

Was hält die Kirche zusammen?

Alle christlichen Kirchen betrachten die Ordination letztlich als eine Ordination durch Jesus Christus selbst. Sie wird durch den Bischof vermittelt. Idealtypisch hat Jesus im Abendmahlssaal durch die Aufforderung „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ die zwölf Apostel „zu Bischöfen geweiht“, die dieses Amt an die Nachfolger weitergaben. Das ist historisch jedoch ebenso schlecht zu belegen wie die anschließende Theorie, die Apostel hätten der Weisung Jesu gemäß ihre eigene „Ordination“ weitergegeben und damit eine nie unterbrochene Kette der Handauflegungen bis zum heutigen Tag begründet („apostolische Sukzession“). Sicher ist nur, dass es seit ältester Zeit die Weitergabe des kirchlichen Amts durch Handauflegung gegeben hat, mögen sich auch die allerersten Vorgänge im historischen Dunkel verbergen. Sicher ist ebenfalls, dass das Amt mit seiner Vollmacht immer in dem gläubigen Bewusstsein weitergegeben wurde, damit den Auftrag Jesu Christi zu erfüllen.

Im Licht des Missionsbefehls aus dem Matthäusevangelium „Geht hinaus in alle Welt, macht alle Menschen zu Jüngern und lehrt sie, alles zu halten, was ich euch geboten habe“ (28,19f) betrachtet die Kirche den Auftrag der Verkündigung und Lehre als ureigene Vollmacht, die sie sich nicht selbst verschafft, sondern empfangen hat. Im Unterschied zur Vollmacht Jesu heißt dies allerdings nicht, jedes Wort der kirchlichen Verkündigung sei damit auch unantastbar. „Wir tragen diesen Schatz in zerbrechlichen Gefäßen“, schreibt Paulus (2 Kor 4,7). Wie die Kirchengeschichte lehrt, ist die Verkündigung der Kirche nicht einfach gleichzusetzen mit der Verkündigung Jesu. Vielmehr ist sie in vielfältiger - oft auch fataler - Form vermischt mit menschlichen Eigeninteressen.

Die Vollmacht selbst wird nicht pauschal, sondern in verschiedenen Stufungen verliehen. Die Vollmacht zur Verkündigung - und zur Überwachung der Verkündigung - ist „natürlich“ im vollen Umfang dem Lehramt verliehen. Von daher haben geweihte Bischöfe, Priester und Diakone die Vollmacht zur Predigt im Gottesdienst. In rechtlich abgestufter Weise wird diese Verkündigungsvollmacht auch nicht-ordinierten Christen erteilt, was im deutschsprachigen Raum Pastoralreferentinnen und Pastoralreferenten betrifft. Allerdings dürfen sie offiziell in der sonntäglichen Eucharistiefeier, in der die Texte der Heiligen Schrift ausgelegt werden sollen, nicht predigen, weil sie nicht ordiniert sind. In vielen Fällen setzen sich Pfarrer jedoch mit stillschweigender Duldung der Bischöfe darüber hinweg. Denn sie möchten auf die Entlastung im Predigtdienst durch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nicht verzichten, die dieselbe theologische Ausbildung erfahren haben wie sie selbst.

Unproblematisch hingegen ist die Vollmacht, konfessionellen Religionsunterricht zu erteilen. Der Unterschied zur Verkündigungsvollmacht des ordinierten Amtes wird darin deutlich, dass den Pastoralreferenten sowie den Religionslehrerinnen die Vollmacht zur Verkündigung, die Missio canonica, jederzeit entzogen werden kann.

Theologisch betrachtet, besitzt die Kirche als Ganze die Vollmacht, die sie an einzelne Menschen weitergibt. Wie aber ist das zu verstehen?

Der übliche Sprachgebrauch verwendet für die Kirche den Begriff „Institution“. Doch ist damit keineswegs gemeint, dass die Glaubensgemeinschaft ihrem Wesen nach zuerst und zuletzt eine Behörde ist oder eine entsprechende Behörde hat, in der Menschen im Interesse der Kirche Macht ausüben. Soziologisch betrachtet, ist die Institution das Ganze eines Regelwerks, durch das eine Gruppe von Menschen zusammengehalten wird und ihr Zusammenleben verlässlich gestaltet. So ist zum Beispiel der Staat eine Institution auf der Basis der Verfassung, die Ehe ist eine Institution auf der Basis der mit ihr verbundenen rechtlichen Ansprüche. Was also hält die Gemeinschaft namens Kirche zusammen, und wie gestaltet sich ihr Gemeinschaftsleben beziehungsweise wie soll es sich gestalten?

In der Apostelgeschichte heißt es dazu schlicht: „Sie (die Christen) hielten an der Lehre der Apostel fest und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten“ (2,42). Wesentlich für die Kirche als Institution sind demnach die Lehre, das Gemeinschaftsleben, die Eucharistie und der Gottesdienst. Darin besteht die vorrangige und unveräußerliche „Institutionalität“ der Kirche. Alles, was nicht zu diesen vier Grundinstitutionen gehört, ist abgeleitet, also menschliche Einrichtung im Dienst der Institutionalität, und kann deshalb, wie das Zweite Vatikanische Konzil ausdrücklich festhält, geändert werden (vgl. Ökumenismusdekret, Art. 6).

Gott aber ließ wachsen

Das Wesentliche der Kirche ist streng zu unterscheiden von den technischen, institutionellen, bürokratischen Instrumenten, mit denen die Kirche sich im Laufe der Zeit ausgestattet hat oder auch von außen ausgestattet worden ist, was teilweise bereits im Neuen Testament erkennbar wird. Das reicht von der Ausgestaltung der kirchlichen Ämterstruktur über Eigentumsfragen, kirchliche Disziplin und deren Überwachung, Ausformulierung der Lehre im Hinblick auf neu aufkommende Fragen bis hin zu neuen, rein kirchlichen Ämtern und den ihnen zugewiesenen Kompetenzen. Zur bürokratischen Ausgestaltung gehört beispielsweise auch der ganze Apparat der zentralen Kirchenleitung in Rom. Nichts davon ist unveränderlich. Kein theologischer Grund hindert daran, das alleinige Recht zur Ernennung von Bischöfen durch den Papst wieder zu ändern und in geeigneter Form die Vertreter der betroffenen Diözese einzubeziehen, wie es bereits in der Geschichte verschiedentlich der Fall war.

Eine alles bedrohende grundsätzliche Krise der Kirche ist gegeben, wenn ihre Verkündigung, ihr Zeugnis, das Ideal ihres Gemeinschaftslebens, wenn Sakramente und Gottesdienst nur noch auf Verständnislosigkeit stoßen. Allerdings wirft die gegenwärtige Praxis der Kirche mitunter die Frage auf, ob sie nicht selbst ihren Anteil hat an der mangelnden Überzeugungskraft ihrer „Grundidee“. Zudem erweisen sich die überkommenen bürokratischen Instrumente nicht mehr als hilfreich, um den Menschen die Anziehungskraft der kirchlichen Grundidee zu verdeutlichen. Wie will die Kirche ihre Botschaft von dem einen Gott, der alle Menschen ohne Ansehen der Person liebt, plausibel machen, wenn ihr Gemeinschaftsleben nicht nur faktisch, sondern sogar noch in ihrer rechtsförmigen Gestalt auf Zwang, Unterordnung und eben doch auf Ansehen der Person aufgebaut ist und die Kirchenleitung sich jede Kritik daran verbittet?

Im Bereich ihrer Macht wie auch ihrer Vollmacht unterliegt die Kirche einer grundlegenden Ohnmacht. Diese besteht darin, dass kein Amtsträger den Glauben auch nur eines einzigen Menschen „machen“ kann. Der Glaube ist ein Geschenk der Gnade. Die Gleichnisse Jesu von der selbstwachsenden Saat und von dem ausgestreuten Samen, der nur auf gutem Boden wächst, gaben ursprünglich Antwort auf das sogenannte vorösterliche Ärgernis. Dabei handelt es sich um die für die religiösen Autoritäten Israels anstößige Tatsache, dass Jesus behauptete, mit der kleinen, unansehnlichen Schar seiner Anhänger beginne das nahegekommene Reich Gottes. Die Evangelisten haben daraus für ihre bereits gläubigen Gemeinden eine katechetische Konsequenz gezogen: Sorgt dafür, dass ihr der gute Boden seid! Wachstum und Ernte besorgt allerdings ein anderer: Gott. Überdeutlich formuliert Paulus im ersten Korintherbrief: „Ich habe gepflanzt, Apollos hat begossen, Gott aber ließ wachsen. So ist weder der etwas, der pflanzt, noch der, der begießt, sondern nur Gott, der wachsen lässt“ (3,6f).

Diese Überzeugung zieht sich durch die ganze Theologiegeschichte bis heute: Dass ein Mensch zum Glauben kommt, ist das unerzwingbare und unverdienbare Werk der Gnade Gottes. Natürlich im Zusammenklang mit einer psychischen, geistigen Aktivität des Menschen - die ja schon damit anfängt, dass jemand sich entschließen muss, einem Prediger zuzuhören oder ein entsprechendes Buch über den Glauben zu lesen. Aber dass daraus bewusst gelebter und durchgehaltener Glaube wird, haben die Verkündenden, hat die Kirche nicht in der Hand. Hier ist sie ohnmächtig und kann nur Gott das Feld überlassen.

Nicht auszudenken wäre es, wenn die Rede vom Glauben, auch die in kirchlicher Vollmacht, allein dafür verantwortlich wäre, dass Menschen zum Glauben kommen. Man möchte - in Anspielung auf das Stichwort von der „seligen Schuld“ im Loblied auf die Osterkerze in der Osternacht - von einer geradezu „seligen Ohnmacht“ der Kirche sprechen, der zufolge sie zum Glauben nur einladen kann.

Die Kirche erwacht in den Seelen

Die Kirche hat leider lange gebraucht, um diese Einsicht in die Praxis umzusetzen. Alle, die heute in unseren Breiten Christen sind, sind mehrheitlich die Ur-Urenkel von Vorfahren, die mit Gewalt zum Christentum bekehrt wurden. Ohne Zwang und Gewalt hat die Kirche nur da missioniert, wo es das konfliktreiche Zusammenspiel zwischen geistlicher und weltlicher Macht nicht gab, zum Beispiel in den skandinavischen Ländern, in Asien. Aber auch da handelte man womöglich nach dem Grundsatz: Am besten zuerst die Mächtigen bekehren, dann wird das Volk schon folgen.

In Europa ist die Zwangsmitgliedschaft in der Kirche erst seit der Aufklärung zu Ende. Die Aufklärung ist allerdings nicht schuld an der Entchristlichung Europas, wie bisweilen behauptet wird. Sie war zunächst einmal eine dringend notwendige Notwehrmaßnahme, um die barbarischen Konfessionskriege zu beenden, in denen tatsächlich immer noch die Vollmacht der Kirche mit Machtmitteln durchgesetzt oder verteidigt werden sollte. Jetzt hieß es, gewiss etwas zu vertrauensselig: Nur noch solche religiösen Überzeugungen, die mit der Vernunft begründet werden können, sind allgemein verbindlich. Man konnte sich nicht mehr auf einen dogmatischen Standpunkt zurückziehen. Der Zwang zur Argumentation war geschaffen.

Noch für ein ganzes Jahrhundert und mehr war diese Argumentation beiderseits recht giftig und von Ignoranz geprägt. Aber langfristig säßen wir heute auch im ökumenischen Gespräch nicht so friedlich beieinander ohne die von manchen Kirchenleuten als „böse“ gescholtene Aufklärung. Ab diesem Zeitpunkt waren die Vollmacht der Kirche und ihre Amtsträger einzig dadurch glaubwürdig, dass sie die christliche Botschaft so überzeugend wie möglich vortrugen und sie selber vorlebten beziehungsweise die Gläubigen entsprechend anleiteten.

Die Folge war unter anderem der boshaft gemeinte Satz: „Religion ist Privatsache.“ Womit zunächst nur gesagt und praktiziert sein wollte: Religion und Religionsausübung gehen den Staat nichts an. Dieser muss aus Respekt vor den Menschenrechten und der Gewissensfreiheit den Freiraum dafür gewährleisten.

Schließlich setzte ein Prozess des Nachdenkens über die Bedeutung der Laien, der Nichtamtsträger, ein, wenn auch noch lange nicht in theologischer Hinsicht. „Laien“ blieben - vom Wortsinn her das „Volk Gottes“ - weithin Objekte der Kirche. Noch das alte kirchliche Rechtsbuch Codex Iuris Canonici von 1917 behandelte die Laien unter dem Gesichtspunkt, was sie alles nicht dürfen - abgesehen von ihrem posi­tiven Recht auf religiöse Unterweisung und die Sakramente.

Eine theologische Aufwertung der Laien ergab sich erst nach dem Ersten Weltkrieg, als ganz allgemein ein unerwartetes, neues, breites kirchliches Bewusstsein aufbrach, das sich vom rein juridisch-hierarchischen Verständnis der Kirche, wie es das Erste Vatikanische Konzil festgezurrt hatte, unterschied. Der Theologe und Religionsphilosoph Romano Guardini brachte es auf den Punkt: „Die Kirche erwacht in den Seelen.“ Laien wurde nun auch ohne Ordination die Vollmacht erteilt und zugetraut, in ihrem Umfeld durch Wort und Lebenszeugnis den christlichen Glauben, das Evangelium zu verkündigen und argumentativ plausibel zu machen. Kirchenpolitisch war es nun nicht länger möglich, die Laien zu unterdrücken und als bloße Objekte der Kirche zu behandeln. Es blieb freilich immer noch dabei: Die Laien hatten ihre Vollmacht nicht durch Taufe und Firmung, sondern durch die Sendung vonseiten des Amts. Die Wende brachte erst das Zweite Vatikanische Konzil.

Ursprünglich sollte dort ein eigenes Kapitel über die „Hierarchie“ und anschließend eines über das „Volk Gottes“ verabschiedet werden. So dachten sich das die konservativen Kräfte in den Vorbereitungsgremien. Erst während der Konzilsberatungen kam dann die Wende mit dem geradezu unschuldigen Argument: Auch die Träger des kirchlichen Amts seien erst einmal Laien gewesen, ehe sie Amtsträger wurden. Der Begriff „Volk Gottes“ schließe also auch die Amtsträger ein. So wurde „Volk Gottes“ der vorrangige Wesensbegriff für die Kirche.

Jetzt konnte auch ausdrücklich gesagt werden, dass das ganze Volk Gottes aufgrund von Taufe und Firmung teilnimmt am „prophetischen Amt“ Christi, das heißt: am Amt der Verkündigung, also an der Vollmacht der Kirche (vgl. Kirchenkonstitution „Lumen gentium“, Art. 12), aber selbstverständlich nicht gegen das kirchliche Amt und in entsprechenden Abstufungen gegenüber den geweihten Amtsträgern. Immerhin geht ohne Laien als eigenständige Zeugen des Evangeliums in der Kirche nicht nur faktisch, sondern jetzt auch theologisch nichts mehr.

Diesen Stand der Dinge kann keiner zurücknehmen, auch keine amtliche Vollmacht, die Misstrauen gegen kirchliche Gruppierungen und Vereinigungen hegt, welche sich auch die Freiheit nicht nehmen lassen, in voller amtlicher „Ohnmacht“ Forderungen in der Kirche in Worte zu fassen, die zu erfüllen die Vollmacht der Kirche jederzeit ausreicht. Allerdings können die Vollmachtträger der Kirche nach wie vor ihre Macht missbrauchen, zum Beispiel durch entsprechend eingestimmte Bischofs­ernennungen, restriktive Normen zur Mitarbeit der Laien und Ausgrenzung unbequemer Persönlichkeiten.

Aus und vorbei: „Von oben herab“

Viele Menschen hierzulande kehren der Kirche äußerlich den Rücken zu. Wie viele in die sogenannte innere Emigration gehen, lässt sich nur erahnen. Das hat verschiedenste Ursachen. Im Mittelpunkt steht allerdings nicht der gravierende Vertrauensverlust aufgrund kirchlicher Fehler. Im Mittelpunkt befindet sich der allgemeine gesellschaftliche Wandel, der mit einem entsprechend säkularen Zeitgeist verbunden ist. Ein bestimmter Stil kirchlicher Verkündigung „von oben herab“ ist dafür mitunter mitverantwortlich. Irgendwie werden nicht die rechten Worte für die Menschen gefunden, die Herz und Verstand überzeugen. Schon werden naive Stimmen laut, Europa müsse von Afrika her wieder missioniert werden.

Doch mit flammenden Reden ist die Lage nicht zu ändern. Was wir brauchen, sind charismatische Prediger und Seelsorger, Männer und Frauen, die vom kleinen Kreis aus mit wachsender Breitenwirkung das Evangelium als gute Botschaft für unsere Zeit und ihre Nöte vermitteln. Ferner brauchen wir Theologen, die mit allen wissenschaftlichen Mitteln auf die Nöte der heutigen Menschheit schauen und die gute Botschaft in Gedanken und Sprache aufbereiten; die den Mut, aber auch das Geschick haben, den Eindruck zu vermeiden, sie dächten bei jeder neuen Idee zunächst daran, in Rom nicht aufzufallen. Solche Prediger und Theologen kann man nicht aus dem Boden stampfen. Man kann nur um sie beten - das Weitere steht bei Gott.

In dieser Situation setze ich auf die zahlreichen kritischen Gruppen in der Kirche, die sich die Freiheit erlauben können, Reformforderungen zu erheben, die die Bedingungen dafür verbessern, dass eine charismatische, der Gegenwart zugewandte Theologie und Predigt in der Kirche wieder eine Chance bekommen. Das gilt ausdrücklich auch für „konservative“ Gruppen, solange sie sich im Dienst dieser Aufgabe verstehen und nicht andere Meinungen ausschalten möchten.

Paulus schrieb im Philipperbrief an seine in Konflikte verstrickte Gemeinde ein ohnmächtiges Wort, das in Fragen von Macht und Vollmacht in der Kirche weiter gilt: „Wenn nur auf alle Weise Christus verkündigt wird, ob in unlauterer oder lauterer Absicht, ich freue mich darüber“ (1,18).

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