Jean PaulHaben wir (k)einen Vater?

Über Gott und den Menschen, Trost und Erlösung - mit Texten des Dichters und Philosophen Jean Paul, der vor 250 Jahren geboren wurde.

Es gibt Orte, die verführen. Auch Augenblicke können verlocken. Gemeint ist keine erotische „Anmache“, sondern eine philosophische. Das griechische Wort protrepein bedeutet ebendieses Verlocken und Verführt-Werden. Den Philosophen gilt die „Protreptik“ als Aufmunterung zum Philosophieren. Anlass zur Verlockung gibt zum Beispiel das kleine Örtchen Todtnauberg im Südschwarzwald, das nahezu Weltbekanntheit erlangt hat, nachdem der Philosoph Martin Heidegger (1889-1976) den Lesern seines wichtigsten Werkes mitteilte, wo er es geschrieben hatte: „Todtnauberg in Baden, Schwarzwald zum 8. April 1926“, steht unter dem berühmten Buchtitel „Sein und Zeit“. Wer weiß, vielleicht hatte gerade die Einsamkeit des Schwarzwalds, wo man mit Glück die Alpen sieht und ansonsten nur die Tannen im Wind säuseln hört, Heidegger zum Nachdenken über die Existenz, das Verstehen, über das Sein und die Zeit „verführt“.

Rund vierzig Kilometer nördlich von Todtnauberg finden heutige Spaziergänger und Sinnsucher wieder einen Beweggrund zum Philosophietreiben. Oberhalb der Ortschaft Sankt Märgen, an einem Wanderweg mit Blick auf den Feldberg und bis tief hinunter ins Rheintal, hat man zwei Bänke aufgestellt und eine steinerne Stele mit der Aufschrift: „Nimm Platz / schau das Grün / der Bäume / rieche den Duft / der Blüten / lausche dem Gesang / der Vögel / fühle die Formen / des Lebens / genieße den / Geschmack / frischen Wassers // Unsere größten / Erlebnisse sind nicht / die lautesten / sondern unsere / stillsten Stunden“. Der Ausspruch stammt von dem Schriftsteller und Philosophen Jean Paul, der eigentlich Johann Paul Friedrich Richter hieß und vor 250 Jahren, am 21. März 1763, im Fichtelgebirge geboren wurde. Seine Texte stehen im literatur- und kulturgeschichtlichen Dazwischen des 18. und 19. Jahrhunderts, zwischen Weimarer Klassik und Romantik, Aufklärung und Idealismus. Die in der Sankt Märgener Stele eingemeißelten Gedanken über die Schöpfung sind ganz Ausdruck einer romantischen Sicht auf die Natur. Jean Paul zeigt sich „empfindsam“ für die Schöpfung und das menschliche Erleben in ihr.

Leerstelle Schöpfer

Wer den Denkspruch mit der jüdisch-christlichen „Brille“ liest, wird im Reden Jean Pauls über die Schöpfung aber ihren Urheber, den Schöpfer, vermissen. Die Auslassung des Gottesgedankens kann mit der Biografie des Pfarrerssohns gedeutet werden. Jean Paul rang bereits als junger Mann mit dem Glauben. 1781 hatte er in Leipzig begonnen, Theologie zu studieren. Doch „an der Leipziger Universität konnte man eher vom Paulus zum Saulus werden, als umgekehrt“, schreibt der Literaturhistoriker und Sachbuchautor Michael Zaremba in seiner Jean-Paul-Biografie. „Offenbarungsskeptiker, Bibelphilologen, Naturalisten und Atheisten waren allseits auf dem Vormarsch, nur die Professoren verhielten sich aus strafrechtlichen Gründen zurückhaltend.“ Jean Paul selbst erklärte einem ihm bekannten Pfarrer in einem Brief vom November 1781 die Distanz zur Glaubenskritik jenseits der Studentenschaft damit, dass in Sachsen „die Großen, die A(dligen) noch nicht aufgeklärt sind“. Das Studium in Leipzig wurde für Jean Paul zu einem Wendepunkt, in dem „die Skepsis gegenüber der Gotteslehre letztlich zur Gottesleere führte“, schreibt der Biograf Zaremba.

Und dennoch bleiben „Gott“, „Jesus Christus“, „Erlösung“ und „Auferstehung“ zentrale Themen in Jean Pauls umfangreichen schriftstellerischen Werken. Im Roman „Siebenkäs“ findet sich unter der Abteilung „Erstes Blumenstück“ die berühmte „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“ - „eines der unvergesslichsten Lesestücke in meinem Leben“, bekannte der Verleger Michael Krüger. Das lyrische Ich verweilt auf einer im Sonnenschein liegenden Wiese und schläft ein. Im Traum findet es sich auf einem „Gottesacker“, einem Friedhof, wieder. „Ich suchte im ausgeleerten Nachthimmel die Sonne, weil ich glaubte, eine Sonnenfinsternis verhülle sie mit dem Mond. Alle Gräber waren aufgetan, und die eisernen Türen des Gebeinhauses gingen unter unsichtbaren Händen auf und zu.“ Die Romanfigur träumt, wie sie plötzlich in einem Tempel steht und Jesus „mit einem unvergänglichen Schmerz“ aus der Höhe heruntersteigt. „Und alle Toten riefen: ‚Christus! ist kein Gott?‘ Er antwortete: ‚Es ist keiner.‘“

Die Ewigkeit auf dem Chaos

Darauf folgt bei Jean Paul ein Absatz, der einen dramatischen Höhepunkt der lyrischen Gott-Verneinung bildet und zu den anspruchsvollsten Stellen des literarischen Atheismus zählt. Darin berichtet Christus, dass er durch Welten, Universen und Himmel ging, aber keinen Gott fand. „Ich stieg herab, so weit das Sein seine Schatten wirft, und schauete in den Abgrund und rief: ‚Vater, wo bist du?‘, aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert… Und als ich aufblickte zur unermesslichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. - Schreiet fort, Misstöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!“ Und weiter berichtet das lyrische Ich vom Schrecken dieses Traumes: „Die entfärbten Schatten zerflatterten, wie weißer Dunst, den der Frost gestaltet, im warmen Hauche zerrinnt; und alles wurde leer. Da kamen, schrecklich für das Herz, die gestorbenen Kinder, die im Gottesacker erwacht waren, in den Tempel und warfen sich vor die hohe Gestalt am Altare und sagten: ‚Jesus! Haben wir keinen Vater?‘ - Und er antwortete mit strömenden Tränen: ‚Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.‘“

Der Bielefelder Literaturwissenschaftler Wolfgang Braungart bemerkt, dass dieser Text jeden Leser unterschiedlich betroffen macht, berührt, bedrängt oder gar regungslos lassen mag. „Dennoch kann man kaum bestreiten, dass diese Stelle und die ganze Rede … zu den eindringlichsten Zeugnissen des ‚poetischen Nihilismus der Romantik‘ zählen, die einen auch heute noch schütteln.“ Es klingt wie bitterer Spott, die Rede vom verzweifelten und gottverlassenen Gottessohn unter die Kapitelüberschrift „Blumenstück“ zu setzen.

Bleibt es dabei? Verharrt die Geschichte Jean Pauls in der Sinn-Sackgasse? Soll auch dem Leser im realen Leben mit auf den Weg gegeben werden, dass der Mensch herkunftslos ist? Das sichere Wissen um die biologischen Eltern, die eigene Abstammung verblasst zu einem kurzen Trost und wird letztlich bodenlos, wenn das Menschengeschlecht als Ganzes, die Tiere und das All ohne Schöpfer sind. Ein Abgrund unvorstellbaren Ausmaßes. Der Kulturhistoriker Zaremba hält - bei aller Tristesse dieser gottverneinenden Gedanken - einen hoffnungsvollen Spalt offen, wenn er in dem Text immerhin „ein verzweifeltes Lauschen auf eine Botschaft aus dem Jenseits“ vermutet.

Durch Vernunft zum Glauben

Die „Rede des toten Christus“ erinnert an das Buch „Die verfehlte Schöpfung“, in dem der französisch-rumänische Philosoph Emil Cioran (1911-1995) im Sinne der Ansprache des todunglücklichen Gottessohns bei Jean Paul mit der Welt und dem Christentum gnadenlos abrechnet. Cioran verneint nicht nur Gott, sondern stellt auch die messianische Hoffnung auf Christus hin in radikaler Weise bloß. Die Inkarnation, die Menschwerdung Gottes in Jesus, sei die „gefährlichste Schmeichelei“, die dem Menschen zuteilgeworden ist. „Sie hat uns ein maßloses Statut verliehen, das in keinem Verhältnis zu dem steht, was wir sind. Indem es die menschliche Anekdote zur Würde des kosmischen Dramas erhebt, hat es uns über unsere Bedeutungslosigkeit hinweggetäuscht, hat es uns in die Illusion, in einen krankhaften Optimismus gestürzt.“ Die Geschichte der Menschheit - ein Witz, eine belanglose, scherzhafte Erzählung?

In Jean Pauls „Siebenkäs“ erwacht das lyrische Ich schließlich aus dem Albtraum und ist befreit vom Grauen apokalyptischer Gedanken. Die erste Freude gilt aber nicht dem eigenen wirklichen Leben außerhalb des Traumes, sondern dem Gottesgedanken. Indem Gott ansprechbar bleibt, ist er und wird er auch Wirklichkeit. „Meine Seele weinte vor Freude, dass sie wieder Gott anbeten konnte - und die Freude und das Weinen und der Glaube an ihn waren das Gebet. Und als ich aufstand, glimmte die Sonne tief hinter den vollen purpurnen Kornähren…, und zwischen dem Himmel und der Erde streckte eine frohe vergängliche Welt ihre kurzen Flügel aus und lebte, wie ich, vor dem unendlichen Vater; und von der ganzen Natur um mich flossen friedliche Töne aus, wie von fernen Abendglocken.“

Für den Erlanger Theologen Walter Sparn zeigt sich Jean Paul in der 1796 geschriebenen „Rede des toten Christus“ als ein Interpret seiner Zeit. Die „innere Welt“ der Leser sei unsicher gewesen und habe einer Vergewisserung, einer neuen religiösen Ich-Findung bedurft. Die Dichtung als „Bildung zur Religion“. Jean Paul habe sich keine Illusionen darüber gemacht, dass die Zeit des unhinterfragten Glaubens unwiderruflich vorbei war, „dass ihr christlicher Horizont unsicher geworden und ihr geozentrisches Weltbild dahin“ war. In der Zeitschrift „Zeitzeichen“ (März 2013) schreibt Sparn: Jean Paul „glaubt aber weder, dass die dogmatische Orthodoxie den Verlust rückgängig machen kann, noch, dass die ‚Mystizisten‘ weltloser Innerlichkeit ihn ausgleichen können. Auch der fromm-aufklärerischen Theologie traut er in ihrer Anpassung an den moralistisch-rationalen Zeitgeist nicht so recht.“

Die Hoffnung auf ein belebbares Jenseits und den Schöpfer, die sich im „Siebenkäs“ in den „friedlichen Tönen“ der Natur und den „Abendglocken“ ausdrückt, war bei Jean Paul - trotz aller Glaubenszweifel - letztlich tief verankert. Er überwand die überhöhte Religionskritik seiner Studentenzeit, indem er einen für ihn plausiblen und philosophisch begründeten Weg zu Gott fand. Jean Pauls Denken wurde vor allem durch die Werke des Philosophen und Schriftstellers Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819) verändert, der Nüchternheit und Empfindsamkeit, Verstand und Gefühl, Vernunft und Glaube nicht getrennt betrachtete, sondern als aufeinander verwiesen dachte. Michael Zaremba schreibt: „Jacobis Philosophie, von der Unmöglichkeit der Beweisbarkeit Gottes ausgehend, weist dem Glauben den Rang unmittelbaren Wissens zu… Glaube und Gefühl wurden nicht mehr als erkenntnistheoretische Hemmschuhe, sondern als eigenständige Instrumente menschlichen Erkennens und Handelns verstanden. Jacobi war ja beileibe kein Irrationaler, sondern ein Vernunftgläubiger im wahren Wortsinn.“ Das Urvertrauen in den Schöpfer, das Jean Paul in seinem evangelischen Elternhaus mitbekommen hatte, sei nie verloren, sondern lediglich unterdrückt gewesen. „Die Schätze seines Inneren waren durch Zynismus und Zweifel verschüttet worden, nun kamen sie durch eine neu definierte rationale Vernunftgläubigkeit erneut zur Geltung.“

Neues Blumenstück: Trost

Und dennoch: Die „Rede des toten Christus“ lässt den Leser irritiert zurück in Angst und Schrecken. Sollen Erzählungen dem Menschen etwa Furcht einflößen, ihn in Verwirrung stürzen? Im Gegenteil: „Geschichten werden erzählt, um etwas zu vertreiben. Im harmlosesten, aber nicht unwichtigsten Fall: die Zeit. Sonst und schwererwiegend: die Furcht“, erklärte der Münsteraner Philosoph Hans Blumenberg (1920-1996) in seinem Buch „Arbeit am Mythos“. In ihrem bahnbrechend humoristischen und gleichsam lehrreich-unterhaltenden Roman „Blumenberg“ erzählt wiederum die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff von einer Universitätsvorlesung Blumenbergs, die von der „Trostbedürftigkeit des Menschen bei gleichzeitiger Trostunfähigkeit“ handelt. Der fiktive Blumenberg doziert im Roman: „Die Diskriminierung des Trostes schreitet unaufhörlich voran… Wir sind unfähig geworden, über das gewaltige Arsenal an Instrumenten für Trost und Vertröstung zu verfügen, das in der Geschichte der Menschheit aufgehäuft worden ist… Wenn der Tröster kommt…, werden wir ihn womöglich nicht einmal erkennen.“ Und je mehr die Menschen dem reinen Realismus - und damit der Abkehr von allem im Glauben Erdenklichen - huldigten, „seien sie zwar wie eh und je trostbedürftig, reell jedoch untröstlich“. In der Romanfigur scheint der echte Hans Blumenberg durch, der ein äußerst religiöser Mensch war. „Für alle Zwischentöne des theologischen Diskurses besaß er das absolute Gehör. Nichts trieb ihn so sehr um wie theologische Fragen“, schrieb der Journalist Ijoma Mangold in der „Zeit“.

Es ist der Blumenberg’sche Trost, den es zu bewahren gilt, bei allem Zweifel an der Welt, an Gott und der Erlösung. Der Traum des lyrischen Ichs in Jean Pauls „Rede des toten Christus“ ist eine „Diskriminierung des Trostes“. Haben wir keinen Vater? Als der Albtraum vorbei ist, betet die Romanfigur bei Jean Paul zu Gott - und findet darin Erleichterung, Schutz, Trost und Glaubensgewissheit.

Sowohl Sibylle Lewitscharoffs „Blumenberg“ als auch Jean Pauls „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“ sind der Versuch, Literatur als Sprachrohr und Vermittler metaphysischer Fragen auszutesten.

Orte verführen, Augenblicke verlocken. Vor allem aber sind es Worte, die zu religiös-philosophischen Fragen reizen. Wenn der Frühling kommt, können Wanderungen mit Zielen, die zum Nachsinnen führen, eine wahre „Protreptik“ sein. Und vielleicht passt in manchen Wanderrucksack noch ein Buch von Heidegger, Jean Paul, Blumenberg oder Sibylle Lewitscharoff. Was ist „Sein“? Was ist „Zeit“? Wie verleben wir „unsere stillsten Stunden“?

Literatur:
Jean Paul, „Siebenkäs“. In: Jean Paul, Sämtliche Werke, 1. Abteilung, Band II, hg. von Norbert Miller (Hanser Verlag, München 1987).
Michael Zaremba, „Jean Paul - Philosoph und Dichter“ (Böhlau Verlag, Köln 2012).
Wolfgang Braungart, „Stellen, schöne Stellen - Oder: Wo das Verstehen beginnt“ (Wallstein Verlag, Göttingen 2012).
Sibylle Lewitscharoff, „Blumenberg“ (Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Berlin 2013).

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