ÖkumeneZögern wir nicht…

Junge Christen können ökumenisch vereint die Idee eines offenen und versöhnten Europa neu auf den Weg bringen. Das schreibt der Leiter der Gemeinschaft von Taizé, Frère Alois, in seinem Brief „Zögern wir nicht länger, uns unter dasselbe Dach zu begeben“.

Zweifellos erlebt Europa gerade eine nie da gewesene Periode des Friedens. Dennoch bestehen auch lange nach dem Fall der Mauer im Bewusstsein der Menschen in Ost und West noch viele Blockaden. Die jungen Menschen, die zum Jahreswechsel zum 36. Europäischen Treffen unserer Communauté de Taizé nach Straßburg gekommen waren, wollen ein offenes und solidarisches Europa: Solidarität zwischen allen Ländern des Kontinents, aber auch Solidarität mit den ärmsten Ländern der Erde. Deshalb fordern sie eine neue Wirtschaftsordnung, in der die Globalisierung auch weltweite Solidarität bedeutet. Sie erwarten von den reichen Ländern eine größere Bereitschaft zu helfen, zum einen durch Investitionen, die wirklich zu einer gerechteren Verteilung der Güter in den sich entwickelnden Ländern beitragen, und zum anderen durch eine verantwortliche Aufnahme der Zuwanderer aus diesen Ländern, die die Würde dieser Menschen garantiert.

Diese jungen Menschen sind sich bewusst, dass sie als Christen ganz vorne stehen müssen, wenn es um Versöhnung und Miteinanderteilen geht. Die Wunden der Geschichte heilen oft nur langsam und prägen das Bewusstsein und die Mentalität ganzer Generationen. Dennoch führen erlittene Demütigungen nicht notwendigerweise zu Gewalt. Sie sind heilbar. Um dazu beizutragen, können junge Menschen zunächst eines tun: Sie können sich weigern, der nächsten Generation Feindschaft und Verbitterung, an denen sie selbst bisweilen noch leiden, weiterzugeben. Es geht nicht darum, die leidvolle Vergangenheit zu vergessen, sondern die Kette der Feind­seligkeiten zu durchbrechen und dadurch allmählich die Erinnerung an die Vergangenheit durch Vergebung zu heilen. Ohne Vergebung haben unsere Gesellschaften keine Zukunft. Diese Überzeugung gab den entscheidenden Anstoß für den Aufbau eines gemeinsamen Europas.

Unter einem Dach

Mit Jugendlichen der verschiedenen christlichen Konfessionen haben wir uns in Straßburg erneut bewusst gemacht, dass unsere Suche nach Versöhnung zwischen Christen uns nicht dazu verleiten darf, um uns selbst zu kreisen. Die Suche nach Versöhnung soll vielmehr ein Zeichen des Evangeliums sein und zu einem Ferment der Annäherung von Menschen und Völkern werden. Damit eine gerechte Zukunft in Frieden entstehen kann, ist unsere Welt auf Vertrauen angewiesen. Und was uns das Evangelium diesbezüglich zu sagen hat, wird aus dem Mund versöhnter Christen wesentlich überzeugender angenommen.

In der gegenwärtigen Situation laufen wir Christen Gefahr, uns mit einem friedlichen Nebeneinander zu begnügen. Welche Möglichkeiten haben wir, um über diese Situation hinauszugehen? In Taizé machen die Jugendlichen, die einige Tage gemeinsam auf unserem Hügel verbringen, ungeachtet der Tatsache, dass sie aus verschiedenen orthodoxen oder evangelischen Kirchen oder aus der katholischen Kirche kommen, die erstaunliche Erfahrung einer tiefen Einheit. Dabei reduzieren sie ihren Glauben nicht etwa auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner oder ebnen ihre Wertvorstellungen ein. Ganz im Gegenteil, sie vertiefen ihren eigenen Glauben. Die Treue zu ihrer Herkunft geht mit einer Offenheit gegenüber denen einher, die anders sind als sie. Wie ist dies möglich? Dadurch, dass sie bereit sind, unter einem Dach zu leben und sich gemeinsam Gott zuzuwenden. Wenn dies in Taizé möglich ist, warum dann nicht auch woanders?

Ich weiß nicht, ob ich die richtigen Worte finde, aber ich möchte den Christen der verschiedenen Kirchen folgende Frage stellen: Müssen wir nicht zur gegebenen Zeit unseren ganzen Mut zusammennehmen und „unter ein Dach“ ziehen, ohne noch länger zu warten, bis in allen theologischen Fragen eine Einigung erreicht ist? Können wir unsere Einheit in Christus - der selbst nicht geteilt ist - nicht konkret zum Ausdruck bringen, weil wir feststellen, dass die Unterschiede, die im Ausdruck des Glaubens immer noch bestehen, uns nicht trennen? Es wird immer Unterschiede geben; sie sind eine Herausforderung, offen miteinander zu sprechen, aber sie stellen sehr oft auch eine Bereicherung dar.

Unter einem Bischof von Rom?

Tun wir von jetzt an mit den Christen der anderen Konfessionen alles gemeinsam, was gemeinsam getan werden kann, und unternehmen wir nichts mehr, ohne auf die anderen Rücksicht zu nehmen! Ich möchte hierzu einige Beispiele anführen: Einmal im Jahr beten wir während der Gebetswoche für die Einheit der Christen zusammen. Dies ist nicht genug, sondern kann sogar zu einem reinen Formalismus werden. Warum nicht öfter gemeinsam beten? In manchen Bereichen besteht bereits eine interkonfessionelle Zusammenarbeit, so zum Beispiel bei der Gefängnis- und Krankenhausseelsorge. Warum kann diese Zusammenarbeit nicht ausgebaut werden, um nicht länger auf parallelen Gleisen neben­ein­anderher zu fahren? Das Gleiche wäre in sensibleren Bereichen möglich, wie dem Religionsunterricht und der Jugendarbeit.

Ich möchte hier noch einen der heikelsten Punkte ansprechen: Könnten nicht alle Christen die Berufung des Bischofs von Rom anerkennen, Verantwortung für die Gemeinschaft unter allen zu tragen, einer Gemeinschaft in Christus, in der auf manchen Gebieten Unterschiede im theologischen Ausdruck weiterbestehen können? Gibt Papst Franziskus nicht uns allen dadurch die Richtung vor, dass er der Verkündigung der Barmherzigkeit Gottes die höchste Priorität einräumt? Versäumen wir diesen uns geschenkten Moment nicht! Ich bin mir dessen bewusst, dass ich damit ein heißes Eisen anfasse und mich vielleicht auch unbeholfen ausdrücke. Dennoch sehe ich keinen anderen Weg, um in Richtung einer versöhnten Verschiedenheit weiterzugehen.

Am Ende des Treffens in Straßburg sind viele Jugendliche mit der Absicht nach Hause gefahren, Frieden und Versöhnung weiterzugeben. Sie wissen, dass jeder Einzelne seinen Beitrag zu einer Gesellschaft leisten kann, in der nicht mehr Misstrauen, sondern Vertrauen herrscht. Bisweilen hat es in der Geschichte nur einiger weniger Menschen bedurft, um den Ausschlag zum Frieden zu geben.

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