DemenzDie Vergessenden

Rund 1,5 Millionen Menschen sind hierzulande an Demenz erkrankt, weltweit sind es 44 Millionen, zwei Drittel davon in Entwicklungs­ländern. Wie wollen, wie sollen wir mit ihnen leben?

Demenz - schon das Wort, das vom lateinischen dementia (Wahnsinn, Unsinn) abgeleitet ist, löst bei vielen Unbehagen aus. Als Krankheit ist sie unter den über Sechzigjährigen mittlerweile so weit verbreitet, dass jeder fünfte Deutsche laut einer neuen Untersuchung des Vereins „Alzheimer Forschung Initiative“ mittlerweile einen Angehörigen mit Alzheimer oder einer anderen Demenzerkrankung in der Familie hat. Jedes Jahr werden mehr als 200000 Neuerkrankungen festgestellt. Die Vergessenden, ob in Pflegeheimen, in der Nachbarschaft oder zu Hause, sind eine Realität, die mehr und mehr die sich stets so „jugendlich“ inszenierende Gesellschaft wie jeden Einzelnen herausfordert.

Ärzte verstehen unter Demenz eine fortschreitende, in der Regel unheilbare Erkrankung des Gehirns - eine Person, deren geistige und verstandesmäßige Verfassung rapide abnimmt (de-mens). Im Endstadium werden die betroffenen Personen von außen so wahrgenommen, als ob sie in eine andere Welt hinübergegangen seien. War der Begriff im 18. Jahrhundert zunächst allgemein als juristische Bezeichnung für jede Form von - wie man einst sagte - Geistesgestörtheit geläufig, versteht man nunmehr darunter spezielle Erkrankungen. Sie sind verbunden mit Verlusten des Erinnerns, der Gefühle und des „normalen“ Sozialverhaltens. Bei nicht wenigen verändert sich auch die Persönlichkeitsstruktur.

Das ist vielleicht die massivste Infragestellung des Menschseins und des Menschenbildes: wenn jemand nicht mehr als der erkannt wird, der er oder sie einmal war. Die Krankheit wirft Fragen auf, die in die Tiefe ausgreifen: Was ist Identität? Was Personalität? Wie wirkt sich das krankhafte Vergessen auf das Verständnis vom Menschen aus? Theologisch wird die Erschütterung bemerkbar, wo der Mensch als Ebenbild Gottes gerade nicht mehr „gut“ ist. Die Schöpfung wird durch Krankheit „zerstört“, das Abbild Gottes ist stark verändert, ja behindert, was Rückschlüsse auf das Gottesbild zulässt. Ist Gott womöglich selbst ein „Behinderter“? Das sind erschütternde Fragen, die einem kommen, wenn man die Veränderungen an einem demenzkranken Menschen wahrnimmt.

Wenn ich nicht mehr ich bin

Forscher, Biologen und Ärzte weltweit versuchen, dieser Krankheit auf die Spur zu kommen, allen voran Alzheimer, die häufigste Form der Demenz, von der in der Regel die über Sechzigjährigen betroffen sind. Mediziner unterscheiden davon noch andere Formen der Demenz, an der auch Jüngere leiden können, etwa Beeinträchtigungen des Gehirns aufgrund von Gefäßerkrankungen oder die sogenannte Pick-Krankheit, bei der besonders Stirn- und Schläfenlappen des Gehirns erkrankt sind.

Wie sehr Demenz gefürchtet wird, ließ sich gerade an der öffentlichen Reaktion auf die Selbsttötung des erfolgreichen und angesehenen Journalisten und ehemaligen MDR-Intendanten Udo Reiter ablesen. Dieser hatte in seinem Abschiedsbrief, den der Journalist Günther Jauch in seiner Livesendung vorlas, mitgeteilt: Er beobachte an sich ein Nachlassen seiner geistigen Fähigkeiten, „das wohl kürzer oder später in einer Demenz enden wird“.

Die Selbsttötung Reiters wegen vermuteter Demenz ist wohl die extremste Form des Umgangs mit der Krankheit. Die Erkrankungen, die öffentlich werden - unter anderem bei Karlheinz Böhm, Rudi Assauer, Walter Jens - verbreiten Angst. Die Krankenkasse DAK stellte soeben aufgrund einer Umfrage fest: Während in der Gesellschaft die Sorge vor Krebs, Unfall oder Herzinfarkt allmählich zurückgeht, nimmt die Furcht vor Demenz zu, was wohl auch mit der medialen Aufmerksamkeit und ständigen Thematisierung auf allen Kanälen zusammenhängt. Jedenfalls besteht eine Verbindung mit der höheren Lebenserwartung. In dem Maß, in dem unsere westlichen Gesellschaften „altern“, steigt die Wahrscheinlichkeit, von der „Krankheit des Vergessens“ getroffen zu werden. Heute leben hierzulande etwa 1,5 Millionen Menschen mit Demenz unter uns, etwa zwei Drittel haben Alzheimer. Weltweit sind vermutlich mehr als vierzig Millionen betroffen, Tendenz steigend. Der Bundestagsabgeordnete und Gesundheitspolitiker Jens Spahn spricht vom „gesellschaftlichen Mega-Thema der nächsten zwanzig Jahre“.

Viele denken: „Hoffentlich trifft es mich nicht“. Bilder von altersverwirrten Männern und Frauen, die ziellos durch die Gegend irren, die selbst ihre engsten Angehörigen nicht mehr erkennen und ständige Betreuung nötig haben, stehen uns vor Augen. Ebenso geläufig sind Pflegeeinrichtungen, in denen Demenzerkrankte in einer eigenen Abteilung abgeschirmt und versorgt werden. Demenz erfasst die Person so vollständig, dass sich am Umgang mit ihr gesellschaftliche Muster - wie auch Mängel - ablesen lassen.

In den Krankenhäusern ist nach Angaben des „Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung“ schon jetzt jeder vierte Patient von Demenz betroffen. Die meisten Kliniken sind darauf aber nicht eingestellt. „Acht von zehn befragten Stationen geben an, dass die Versorgung von demenzkranken Menschen vor allem nachts unzureichend gesichert ist. Diese Mangelsituation führt nicht selten zu unnötiger Verabreichung von Schlafmedikamenten und häufig zu fragwürdigen Fesselungen“, sagte der zuständige Kölner Pflegeforscher Michael Isfort. Außerhalb der Hospitäler haben die steigenden Erkrankungszahlen zum Umdenken geführt - wenn auch längst noch nicht mit ausreichender Konsequenz, wie Fachleute mahnen.

Was heißt „pflegebedürftig“?

Die jüngst verabschiedete Änderung des Pflegegesetzes beispielsweise sieht einen Umbau der Pflegeversicherung zugunsten der Demenzkranken vor. Doch trotz vieler politischer „Reförmchen“ des Gesundheitssektors in der jüngeren Vergangenheit ist immer noch nicht ein menschlich-ganzheitliches Verständnis von Pflegebedürftigkeit verbreitet. Einzig die Minuten der Pflegetätigkeiten werden gezählt und in erster Linie körperliche Gebrechen mit Pflegebedürftigkeit gleichgesetzt. Für die pflegenden Angehörigen von Demenzkranken ergeben sich durch die neue Re­gelung, die ab 2015 gilt, bloß leichte Ent­lastungen. Das sogenannte Pflegestärkungsgesetz sieht unter anderem vor, dass Demenzkranke, die nicht auf körperliche Pflege angewiesen sind, einmalig 2500 Euro erhalten. Pflegende Angehörige können künftig sechs statt vier Wochen im Jahr pausieren, falls sie selbst krank werden oder Urlaub brauchen. Sozialverbände haben das als unzureichend zurückgewiesen.

Große Hoffnungen werden in die Wissenschaft gesetzt. Weltweit suchen Biomediziner, Neurologen und Pharmakologen nach wirksamen Medikamenten vor allem gegen Alzheimer. Noch bevor Symptome sichtbar werden, lagern sich Eiweißmoleküle im Gehirn an. Dieser Prozess scheint - soweit die gängigste Hypothese - die Krankheit auszulösen. Klumpen die Eiweiße zusammen, werden die Nervenzellen - Neuronen - unter Stress gesetzt. Die Protein-Ablagerungen lassen die Nervenzelle mehr und mehr absterben.

„Schutzengel“-Anlagen

Den amerikanischen Genetikern Doo Yeon Kim und Rudolph Tanzi von der Harvard-Universität gelang es, aus menschlichen embryonalen Stammzellen im Labor ein Nervengeflecht in der Petrischale zu entwickeln, in das sie zwei Erbanlagen einbauten, die die familiär weitergegebene Form der Alzheimer-Demenz auslösen. Die künstlich erzeugte Erkrankung hat den Beweis für die Vermutung geliefert. Nun wollen die Forscher neue Medikamente gegen die genetischen Defekte beziehungsweise die Protein-Ablagerungen entwickeln.

Einig sind sich die Mediziner, dass eine Therapie frühzeitig ansetzen muss. Zum Zeitpunkt der Diagnose ist oft schon so viel Nervengewebe abgestorben, dass die Hirnfunktionen, die Informationen aufnehmen und verarbeiten, bereits unumkehrbar verlorengegangen sind. Womöglich lässt sich einmal durch eine Vorsorgeimpfung diesem Abbauprozess vorbeugen. Über einen entsprechenden Stoff forschen weltweit mindestens drei Projektgruppen, wie Jörg Schulz, Direktor der neurologischen Klinik am Universitätsklinikum Aachen, der „Stuttgarter Zeitung“ sagte.

Wie aber geht man mit Menschen um, bei denen die Erkrankung begonnen hat oder sogar weit fortgeschritten ist? Die Pflegeheime müssen sich verstärkt darauf einstellen. Bei einer Tagung in der katholischen Akademie Freiburg wurde darauf hingewiesen, dass inzwischen viele technische Innovationen den Umgang mit altersverwirrten Menschen erleichtern. Fachleute sprechen von „Ambient assisted Living“, also von einer assistierenden Unterstützung des Lebens durch Technik, die jedoch bis heute von keiner gesetzlichen Krankenkasse bezahlt wird. Zum Beispiel geht es um eingebaute Sensoren, die Bewegungen von Demenzkranken des Nachts melden. Oder es werden sogenannte Schutzengel-Anlagen eingesetzt, die desorientierte Menschen daran hindern, dass sie versehentlich auf die Straße laufen und sich gefährden. Die Rede ist auch von Sturzmeldern, einem Ortungssystem mittels Handy-Einsatz und der „intelligenten“ Toilette, die nach Benutzung gleich den Urin untersucht.

Die „Stuttgarter Zeitung“ hatte anlässlich des Welt-Alzheimertags aufgelistet, wie Pflegeeinrichtungen bereits mit Technik das Zusammenleben mit Demenzkranken regeln. So gibt es im Stuttgarter Seniorenzentrum Schönberg für Bewohner mit Demenz eine Digitaluhr mit Ortungsfunktion und Notfallknopf. In einem Pflegeheim in Bietigheim-Bissingen wird die Roboterrobbe Emma eingesetzt. „Das sensorgesteuerte Plüschtier gibt wohlige Fiepslaute von sich, wenn es gestreichelt wird, quietscht, wenn man es an den Schnurrhaaren zieht, und wackelt mit den Flossen. Der ‚emotionsstimulierende‘ Roboter gibt vor, selbst Gefühle zu haben, und regt sie so bei Menschen an. Damit soll er Demenzkranke von ihrer Teilnahmslosigkeit befreien.“

In Leonberg nutzt man Schafe. Zwei Wohngemeinschaften, in denen demenzerkrankte Menschen mit ausgeprägten Fluchttendenzen leben, haben an den umzäunten Garten der WG eine Schafweide angeschlossen mit „Franzi“ und „Sternchen“. Ein hüfthoher Holzlattenzaun trennt die zwei Schafe von den Bewohnern. Wenn es diese nach draußen zieht, begreifen sie den Zaun nicht als freiheitsberaubende Begrenzung, sondern als zur Weide gehörig. In Ludwigsburg wiederum wurde in einem Pflegeheim ein Wohnraum eingerichtet, der aussieht wie ein Zugabteil der Bundesbahn. Die Bewohner sitzen in Erste-Klasse-Sesseln und schauen statt aus dem Fenster auf einen Film in Endlosschleife, in dem Landschaft „vorbeizieht“.

Aber: „Oberste Maxime muss sein, dass eine noch so ausgefeilte Technik niemals Ersatz für persönliche Zuwendung und Hilfe sein darf“, gab Heike von Lützau-Hohlbein zu bedenken. Die Vorsitzende der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft, die selbst ihre Mutter und ihre Schwiegermutter, beide von Demenz betroffen, bis zum Tod gepflegt hat, sprach von einem schmalen Grat zwischen Unterstützung und Überwachung. Der Gerontologe Thomas Klie setzte sich kritisch mit der Meinung auseinander, dass es ein Grundrecht auf Sicherheit gäbe und entsprechend Kontrolle über alles geben müsse. Das sei „verfassungsrechtlich und anthropologisch Unsinn“, zeige jedoch, „wie sich unser Rechtsempfinden und unsere Kultur ändern und globale Sicherheitsideologien bis ins Private hineinwirken“.

Insbesondere in der häuslichen Pflege - zwei Drittel der ­Demenzerkrankten werden von Angehörigen oder Pflegediensten zu Hause versorgt - wird es jedoch als große Hilfe und Beruhigung empfunden, wenn technische Hilfsmittel zur Verfügung stehen. Aber: „So hilfreich es für pflegende Angehörige etwa ist, über ein GPS den Aufenthaltsort des demenziell erkrankten Vaters schnell herausfinden zu können, so problematisch ist gleichzeitig das sich immer weiter ausbreitende Sicherheitsdenken. Es schlägt schnell in Überwachung und Disziplinierung um und verändert damit Lebensgefühl und Entscheidungsfreiheit.“ Thomas Klie benannte die Chancen wie die Grenzen des Technikeinsatzes. Er ermögliche das Sein in der Welt und eine mitverantwortliche Lebensführung, indem die Technik Kommunikationsmöglichkeiten erweitert, Kom­munikation auch über weite Distanzen eröffnet und das in der Jetztzeit. Sie könne aber auch dazu dienen, die personale Verantwortung in eine Verantwortung der Technik umzuwandeln beziehungsweise diese an sie zu delegieren.

Um eine menschenwürdige Versorgung und Pflege ihrer Angehörigen zu gewährleisten - und weil die Kosten für eine Heimunterbringung zu hoch sind -, bevorzugen viele Ehepartner, Söhne und Töchter, Neffen und Nichten die häusliche Pflege. Nicht selten geraten die Pflegenden mit dieser Aufgabe jedoch an die psychischen wie physischen Grenzen ihrer Belastbarkeit.

Heimat und Beschleunigung

Der Soziologe und Theologe Reimer Gronemeyer schlägt vor, eine neue Kultur des Helfens und der Nachbarschaft für Demenzkranke und deren Angehörige zu entwickeln, gerade auch zur Entlastung der Pflegenden. In der Zeitschrift „Universitas“ (September) schreibt Gronemeyer: „Man könnte auch sagen, wir brauchen eine Erwärmung in unserer Gesellschaft…, dass Menschen mit Demenz länger in unserer Mitte bleiben können.“ Der Autor erinnert an den Wiener Kulturwissenschaftler und Philosophen Egon Friedell (1878-1938). Dieser habe einmal provozierend festgestellt, dass jede Zeit die Krankheiten und Beschädigungen hervorbringt, die zu ihr gehören. Die Demenz, so Gronemeyer, passe ins soziale Gefüge unserer Zeit. „Wir sind eine Gesellschaft der Beschleunigung, das ist auch etwas Positives, dass wir so schnell und beweglich geworden sind … Aber für alte Menschen oder für solche, die sich nicht mehr so gut in der Welt zurechtfinden, ist das eine schwierige Lage. Vielleicht sollten wir das mal so betrachten, dass nicht die Menschen mit Demenz sich von der Gesellschaft entfernen, sondern dass wir - die Gesellschaft - uns immer rascher von denen entfernen, die nicht mehr so schnell sind und nicht mehr alles behalten können.“

Gronemeyer ist unter anderem tätig in der „Aktion Demenz“ der Robert-Bosch-Stiftung. Das Projekt möchte Gemeinden und Städte motivieren, ihre Einrichtungen und sozialen Angebote so zu gestalten, dass altersverwirrte Menschen länger an ihrem angestammten Wohnort leben können, also „daheim“, in der „Heimat“. Die Bundesregierung versucht derzeit, solche Initiativen zu vernetzen und zu fördern. Eine Pflegerin erklärte aus ihrer Praxis: „Wenn die altersverwirrten Leute bei uns lostigern und sagen ‚Ich will nach Hause‘, bringt mich das nicht aus dem Konzept. Ich weiß, dass sie das suchen, womit sie ihr Zuhause verbinden. Unser Heim ist ja nur ein Behelf, selbst wenn sie schon Jahre bei uns sind. Ich versuche, mit ihnen zu reden, dem Gefühl auf die Spur zu kommen, womit sie Heimat, Zu-Hause-Sein verbinden.“

Auch die Würde des befristeten und beschädigten Menschenlebens ist unantastbar. Der Tübinger Theologe Eberhard Jüngel erklärte dazu einmal: „Wer das beschädigte menschliche Leben nicht erträgt, der erträgt in Wahrheit die Würde nicht, die der Mensch auch in den erbärmlichsten Lebensumständen unwiderruflich hat.“

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