Juden und ChristenZwei Glaubensweisen, eine Hoffnung

Auschwitz, Judenmission, Karfreitagsfürbitte: Der seit mehr als vierzig Jahren bestehende Gesprächskreis „Juden und Christen“ hat turbulente Zeiten erlebt. Wie aber wird sich der Religionsdialog entwickeln, wenn immer mehr Menschen religiös gleichgültig sind?

Der amerikanische Rabbiner Jeffrey Salkin, der als geistlicher Leiter der Temple-Beth-Am-Gemeinde in Bayonne im Bundesstaat New Jersey vorsteht und ein prominenter Publizist seines Landes ist, hat neulich einen energischen, hierzulande aber kaum bekannt gewordenen Aufruf in der „Washington Post“ veröffentlicht: Es sei an der Zeit für Rabbiner wie auch für jüdische amerikanische Synagogen-Gemeinden, eine „Solidarität des Glaubens“ mit den vom radikalen Islam bedrängten Christen des Nahen Ostens zu zeigen. Überhaupt sei das Christentum die zurzeit wohl „am meisten bedrohte Glaubensgemeinschaft“. Wenn Juden erwarten und hoffen, „dass sich christliche Führer zu Wort melden, wenn Juden gefährdet werden, wie können Juden weniger tun, wenn Christen in Gefahr sind?“

Siebzig Jahre nach dem Holocaust und trotz wieder zunehmender antisemitischer Übergriffe und Ausgrenzung dürften Juden nicht nur ihre eigene Situation betrachten. Sie dürften auch nicht schweigen, wenn sich Gewalt im Namen der Religion gegen Christen richtet. „Wenn Christen überall in der Welt verzweifeln, lasst ihnen unsere Hände und Herzen unterstützend nahe sein.“ Der jüdische Gelehrte bekräftigte damit eine Forderung von Ronald S. Lauder, des Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses. Dieser hatte bereits Ende letzten Jahres einen vernehmbaren Aufschrei der Weltgemeinschaft gegen die Hinrichtungen von Christen gefordert (CIG Nr. 50/2014, S. 566).

Heil auch außerhalb

Solche Schulterschlüsse jüdisch-christlicher Solidarität sind - auch wenn es lediglich einzelne Stimmen sind - keineswegs nur Randerscheinungen. Vielmehr kommt darin ein erneuerter Geist zwischen den Gläubigen beider Religionen zum Ausdruck, was so noch vor fünf Jahrzehnten kaum denkbar war. Es ist eine Haltung religiös-sozialer Übereinstimmung erkennbar, die man getrost als Frucht der Versöhnungsbemühungen bezeichnen kann - jener Versöhnung, die in der katholischen Kirche mit der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über das Verhältnis zu den Juden „Nostra aetate“ vor fünfzig Jahren energisch amtlich bekundet wurde. Mit vielen Veranstaltungen wird derzeit europaweit an das kürzeste Dokument des Konzils erinnert, das zugleich eines seiner bedeutendsten Ergebnisse enthielt. Darin wird besonders dem Judentum, aber auch allen anderen Weltreligionen eine Hochachtung entgegengebracht, auf die viele Christen seither in Religionsdialogen aufbauen. Damit rückte die Kirche vom jahrhundertelangen Dogma, wonach „außerhalb der Kirche kein Heil“ sei, ab.

Anlässlich des Jubiläums jenes bedeutenden Textes hat das Zentralkomitee der deutschen Katholiken nun eine Sonderausgabe seiner Publikation „Salzkörner“ vollständig dem jüdisch-christlichen Dialog gewidmet. Es ist die erste Sonderausgabe seit 21 Jahren. In der 32-seitigen Schrift finden sich Stellungnahmen von 29 Juden und Christen zur Frage: „Warum ist mir der jüdisch-christliche Dialog wichtig?“ (unter www.zdk.de <http:>/veroeffentlichungen/salzkoerner/ausgabe/21-Jg-Sonderausgabe-107D).</http:>

Gewidmet ist das Dokument dem Augsburger Theologen Hanspeter Heinz, der neulich für sein herausragendes Engagement, insbesondere in der Leitung des Gesprächskreises Juden und Christen beim Zentralkomitee, mit der angesehenen Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet wurde (CIG Nr. 11, S. 122). Seit mehr als vierzig Jahren treffen sich da Juden und Katholiken zu einem beständigen Austausch über grundlegende und aktuelle theologische Themen.

Dialog auf dünnem Eis

In dem Sonderheft finden sich teilweise sehr persönliche Äußerungen, die die Entwicklung würdigen und nachzeichnen, unter anderem von Walter Homolka, Micha Brumlik, Ilse Müllner, Werner Trutwin und Hans Hermann Henrix. Gemeinsam ist allen, dass es zu diesem Gespräch, das Streit und Aspekte der Uneinheitlichkeit bei gleichzeitigem Respekt vor den Andersdenkenden einschließt, keine Alternative gibt.

Der inzwischen nicht mehr dem Gremium angehörende Bonner Theologe Wilhelm Breuning, mit 94 Jahren der älteste Autor der Schrift, hat die Motive mit Blick auf die christliche Nach-Konzilsgeneration so zusammengefasst: „Wir, die Christen, fürchteten nach allem, was in der Nazizeit geschehen war, dass es zum völligen Verstummen zwischen Juden und Christen kommen würde, eine Belastung, die vor allem uns Deutsche betraf.“ Der Regensburger Dogmatiker Erwin Dirscherl betont: Die Frage nach dem Verhältnis von Juden und Christen gehört zur Identität des christlichen Glaubens und ist beileibe keine vorübergehende Modeerscheinung. „Es gibt eine bleibende Bindung, die sich im Judesein Jesu ebenso zeigt wie im Ursprung der Kirche und den Schriften der Bibel.“ Und die Judaistin Edna Brocke aus Krefeld fordert, dass die neu gewonnenen theologischen „Einsichten“ an jüngere Christen beziehungsweise an sehr viele Menschen weitergegeben werden sollen, „um sie vor einer Trägheit des Bequemen zu bewahren“. Dass das im Dialog mühsam Erreichte nun auch in Kirche und Gesellschaft ankommt, müsste eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein.

Ist es aber nicht. Eine der jüngeren Autorinnen, die Bamberger Judaistin Susanne Talabardon, meint, die Gesprächspartner befänden sich unterwegs „auf dünnem Eis“ - trotz der vielen Tagungen, Bücher, Akademien, Katholikentage, Kirchentage, die sich mit dem jüdisch-christlichen Verhältnis befassen. Wer häufig Vorträge in den Pfarreien besucht, erlebe, dass Erkenntnisfortschritte aus dem jüdisch-christlichen Dialog leider „keinerlei Einfluss“ auf kirchliche Amtsträger oder die Gläubigen habe. Zwischen den „Profis“ und den „Menschen da draußen“ werde der Unterschied zwischen dem, wie man sich selbst als Christ oder Jude versteht, und dem, was dazu gelehrt wird, „nicht geringer“.

Die Judaistin beobachtet außerdem, dass sich am Dialog inzwischen weitgehend nur noch Ältere beteiligen. Das einstmals Revolutionäre von „Nostra aetate“ werde von den meisten Nicht-Fachleuten allein schon sprachlich nicht mehr verstanden. Das Schicksal der Überalterung teilt der jüdisch-christliche Dialog mit dem üblichen Gemeindeleben, mit dem Klerus, mit der katholischen Reformbewegung „Wir sind Kirche“ sowie mit der ökumenischen Bewegung, die einmal hoffnungsvoll begonnen hatten, nun aber wegen der allgemeinen religiösen Erosion in den nachwachsenden Generationen in die Jahre gekommen sind. Die Debatten verharren in den ewig gleichen Thesen und wiederholen sich oftmals nur noch. Alles ist schon tausendmal gesagt - nur vielleicht noch nicht von jedem.

Verweigerung als Treue

Es gibt darüber hinaus Anzeichen, dass sich die Ungleichheit der zwei Religions-„Geschwister“ Judentum und Christentum eher verstärkt als abschwächt, dass man besonders - wie in der Ökumene - wieder abgrenzend das je eigene Besondere betont. Der Londoner Rabbiner Jonathan Magonet, einer der großen „alten“ Fachleute des Judentums im interreligiösen Dialog, rief energisch dazu auf, am Thema „dranzubleiben“.

Nicht nur die Kirchen leiden unter der religiösen Auszehrung. Auch in den jüdischen Gemeinden sinkt laut „Jüdischer Allgemeine“ die Mitgliederzahl - nachdem sie vor der Jahrtausendwende durch Zuwanderung aus Osteuropa noch stark angewachsen waren. Viele Juden verstehen sich als nichtreligiös. Was aber macht dann ihre Identität aus? Nur - negativ bestimmt - die Schoah, ein politischer Zionismus oder eine bestimmte kulturelle Prägung, die in Amerika eine ganz andere ist als in russischen Kleinstädten?

Manche wünschen als Ausweg aus gewisser Stagnation die Ausweitung zu einem Trialog, also die Einbeziehung der Vertreter des Islam. Etliche Mitglieder des Gesprächskreises Juden und Christen jedoch warnen davor. Der Augsburger Rabbiner Henry G. Brandt erklärte in der „Jüdischen Allgemeinen“: Ein Trialog könnte alles verflachen, unverbindlich machen. „Die Gemengelage zwischen Judentum und Christentum ist völlig anders als beim Islam. Die Stufe des Vertrauens zwischen Juden und Christen, die wir erreicht haben, aber auch die Themen sind so unterschiedlich, dass ein Trialog nicht dasselbe leisten kann. Es geht ja nicht nur um aktuelle Probleme, sondern wir arbeiten eine 2000 Jahre alte Geschichte mit tiefen theologischen Wurzeln auf.“

Ein wichtiger Diskussionsgegenstand ist die Asymmetrie der Religionen. Sie zeigt sich darin, dass Christen zwar den besonderen Heilsweg Gottes mit seinem Volk Israel anerkennen, dass aber für Juden das christliche Heil, der Erlöser und Messias Jesus Christus, theologisch faktisch keine Bedeutung hat. Hanspeter Heinz hat das bei der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille angesprochen: „Vom selben Gott Israels bekommen Juden offenkundig anderes zu hören als Christen. Gott mutet uns zu, dieses Paradox im Vertrauen auf seine Treue sowohl zu Israel als auch zur Kirche auszuhalten… Das verweigerte Ja Israels zu Jesus von Nazaret kann auch von Christen als Treue zur jüdischen Tradition gewertet werden.“

Aber auch im Christentum wird die Relevanz der jüdischen Traditionen für den eigenen Glaubensweg unterschiedlich eingeschätzt. Die Theologin Uta Zwingenberger vom Haus Ohrbeck des Bistums Osnabrück weist darauf hin, dass vielfach das Neue Testament doch gegenüber dem Alten als „das eigentlich wichtige“ betrachtet wird. Das sei kein Ausdruck von Antijudaismus, zeige aber die unterschiedlichen Verstehenshorizonte auch unter Christen auf.

Auch auf fachlich-theologischer Ebene herrscht Streit, was etwa die Verbindlichkeit der alttestamentlichen oder ersttestamentlichen Texte für Christen betrifft. Soeben kritisierte Friedhelm Pieper, evangelischer Präsident im Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, den Berliner Theologen Notger Slenczka. Dieser bezweifelt - in einer ausdrücklich als Provokation bezeichneten Schrift - in Anlehnung an evangelische Theologen des 19. Jahrhunderts (Harnack, Schleiermacher, Bultmann) die kanonische Geltung, also den kirchlich verbindlichen Rang des Alten Testaments, weil darin „in keinem möglichen Sinn“ Jesus von Nazaret und „das in ihm liegende Heil“ angezielt sei. Dabei geht es Slenczka keineswegs darum, das Alte Testament aus der Bibel zu entfernen. Dessen Texte seien vielmehr erst einmal Äußerungen „einer Fremdreligion“, hier des Judentums. Das schließe nicht aus, dass sie für die christliche Gemeinde „nützlich und gut zu lesen“ seien. Faktisch würden sie in Liturgie oder in Gesangbüchern ja auch nur selektiv verwendet. Pieper sieht in Slenczkas Vorstoß „eine Kehrtwende in die theologischen Sackgassen der letzten Jahrhunderte“. Bereits im zweiten Jahrhundert hatte der von der römischen Gemeinde ausgeschlossene Theologe Markion die alttestamentlichen Schriften aus dem entstehenden Kanon der kirchlichen Bibel ausschließen wollen.

Die notwendige Ent-Täuschung

Wie konfliktreich Debatten über das eigene Selbstverständnis im Gesprächskreis Juden und Christen sein können, davon erzählt der Bonner Neutestamentler Martin Ebner. „Die jüdischen Gesprächspartner waren gebeten worden, auf eine theologisch höchst tiefgründige Stellungnahme zur ‚Einzigartigkeit des christlich-jüdischen Verhältnisses‘, insbesondere zur Frage, ob es auch ihrerseits ein entsprechend einzigartiges jüdisches Interesse an Christentum und Kirche gibt, Stellung zu nehmen. Zunächst beredtes Schweigen im Raum. Dann erste Reaktionen, die mehr als verblüfften“: Da hieß es, um miteinander sprechen zu können, brauche man nicht „beste Freunde“ zu sein. Oder: Ich würde das Judentum nie als Mutterreligion mit Blick auf das Christentum bezeichnen. Oder: Ich kann nur für mich selber sprechen: Das Judentum gibt es nicht. Jeder hat seine eigenen Vorstellungen, die sich nicht auf einen Nenner bringen lassen. Ebner schreibt weiter: „In diesen Reaktionen kam etwas zum Vorschein, was von christlicher Seite kaum wahrgenommen und oft überblendet wird, vermutlich weil wir alle von den Geleisen der eigenen Konfessionalität aus denken. Unsere Gesprächspartner haben sich zu Recht gewehrt.“ Das Erlebnis sei für ihn eine „höchst notwendige“ Ent-Täuschung gewesen. „Wäre nicht fern aller gewichtigen theologischen Fragen von unseren jüdischen Gesprächspartnern zunächst vor allem zu lernen, dass es eine Zugehörigkeit zu einer Traditions- und Glaubensgemeinschaft geben kann - bis in unsere Tage -, ohne dass ‚Einheit‘ in Lehre und Organisation, Denken und Handeln besteht? Ja, dass gerade diese hartnäckige Abwehr gegen jegliche von außen verordnete Einheit das Merkmal ausmacht, an dem sich diejenigen erkennen, die in diesem jüdischen Traditionsstrom stehen?“

Die Versuchung freilich ist nicht gering, angesichts des Zusammenpralls der - auch religiösen - Kulturen zu sehr harmonisierend, damit aber oberflächlich und verharmlosend von den Religionen zu reden und die tiefgreifenden Ungleichheiten wie Ungleichzeitigkeiten auszublenden. Das aber dient weder der Verständigung noch der Erkenntnis des je Eigenen, Besonderen. Wer jedoch der Gefahr eines religiösen Niemandslandes entgegenwirken will, kann nicht anders, als das Gespräch der Religionen zu stärken. Da ist zwischen Christen und Juden Bedeutendes geleistet worden, wohinter der Islam leider noch weit zurückbleibt.

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