Big Data in der MedizinDer Patient als Datensatz

Wie "Big Data" - gemeint ist die Vermessung menschlichen Lebens rundum und dessen statistische Auswertung - sowie Risikovorhersagen die Medizin verändern.

Als Frau M. den Behandlungsraum betritt, ist ihr Arzt bereits im Bilde. Über Sensoren lässt sie fortlaufend Herzfrequenz, Blutdruck, Körpertemperatur und Atemfrequenz messen - ihre sogenannten Vitalparameter. Ein Bewegungssensor überwacht ihre körperliche Aktivität und ein Depressions-Frühwarnsystem den Klang ihrer Stimme sowie ihre soziale Kontaktbereitschaft. Ein Gesundheits-Analyseprogramm auf dem Computer des Arztes wertet diese Daten in Echtzeit aus - ein andauernder Gesundheits-Check. Beim Joggen hatte ihr Minicomputer am Handgelenk auffällige Werte gemessen und in Rückkopplung mit dem ärztlichen Überwachungsprogramm Alarm geschlagen: Erhöhte Gesundheitsrisiken!

Bereits vor Jahren hatte ein genetischer Test Frau M. erhöhte Risiken für Depression und Herz-Kreislauf-Erkrankungen bescheinigt. Aufgrund ihrer Vitaldaten und ihres Stimm-Musters waren die rechnerischen Erkrankungswahrscheinlichkeiten nun angestiegen und hatten einen Schwellenwert überschritten. In seinem Behandlungszimmer schließt der Arzt Frau M. an weitere Messgeräte an, um ihr Datenprofil zu ergänzen. Er blickt gebannt auf den Bildschirm, der sichtbar macht, wie das Programm die Risiken neu kalkuliert und ein darauf abgestimmtes Präventionsprogramm vorschlägt. Krank fühlt sich Frau M. nicht, aber sie ist beunruhigt. Ein wichtiges Ziel der digitalen Datensammlung ist damit schon erreicht: Frau M. sorgt sich um ihre Gesundheit.

Gemessenes Risiko

Frau M. ist fiktiv - die verschiedenen Zutaten für ihre Geschichte, nämlich medizinische Risikoorientierung, technische (Selbst-)Überwachung und computergesteuertes Zukuftsmanagement jedoch nicht. Bereits die heutige Medizin ist eine Risikomedizin, die Menschen dazu ermuntert, regelmäßige Gesundheits-Checks durchführen zu lassen. Zahlreiche Routine-Untersuchungen - von vorgeburtlichen Tests über die kinderärztliche Vorsorge bis hin zum Mammographie- oder Prostata-Screening - richten sich nicht an Kranke, sondern an Gesunde. Sie dienen nicht der Krankheitsdiagnose, sondern der Risikovorbeugung. Technische Selbstüberwachung mittels Sensoren und Mini-Computern ist zwar noch keine alltägliche medizinische Maßnahme, aber in der Quantified Self-Bewegung bereits ein neuer Lebensstil. „Quantified Self“ heißt so viel wie „Selbst-Vermessung“ und wird von Mitgliedern der wachsenden Bewegung als Form der Selbsterkenntnis und Selbstoptimierung kultiviert.

Die ersten Versicherungsunternehmen versprechen finanzielle Vorteile für diejenigen, die ihr Gesundheitsstreben durch Selbstvermessung überwachen lassen und ihre Daten an das Unternehmen weiterleiten. Unter dem Schlagwort „Big Data“ läuft Forschung, die das menschliche Leben rundum erfasst und statistisch auswertet, auf Hochtouren. Das deutsche Großprojekt mit dem Namen „Nationale Kohorte“ beispielsweise hat das Ziel, „effektive Strategien für die Prävention chronischer Krankheiten“ zu entwickeln und die Medizin dadurch kostengünstiger zu machen. Forscher wollen bei 200 000 Männern und Frauen Daten sammeln zu Blutdruck, Fitness, geistiger Leistungs- und Wahrnehmungsfähigkeit, Lebensgewohnheiten und „psychosozialen und sozioökonomischen Faktoren“. Dazu kommen die Ergebnisse genetischer und molekularbiologischer Tests sowie, über viele Jahre hinweg, Daten über Erkrankungen, Lebensstiländerungen und so weiter. Da eine solche medizinstatistisch beobachtete Menschengruppe in der Fachsprache „Kohorte“ genannt wird und das bundesweite Projekt einen natio­nalen Beitrag zur internationalen Forschung leisten soll, hat das Vorhaben den Namen „Nationale Kohorte“ erhalten.

Gesundheit als Verheißung

Statistische Analyseprogramme durchforsten dieses Datenmeer nach Mustern und Wechselwirkungen zwischen biologischen Eigenschaften, Lebensgewohnheiten und verschiedenen Gesundheitszuständen, und das sicherlich mit Erfolg: Wenn genug Daten vorhanden sind, lassen sich immer sogenannte Korrelationen finden. Eine Korrelation misst die statistische Beziehung zwischen zwei Ereignissen oder Merkmalen. Sie sagt jedoch nichts darüber aus, ob es einen Ursachen- oder Wirkungszusammenhang gibt: Auch Schuhgröße und Einkommen können zum Beispiel miteinander in Verbindung gebracht werden oder die menschliche Geburtenrate und die Anzahl von Störchen in einer Gegend. In der Medizin werden solche Korrelationen schnell als Risikofaktoren gedeutet, anhand derer sich mögliche Erkrankungen vorhersagen lassen. Doch: Wofür sind solche Vorhersagen gut? Und: Was wissen wir dann?

„Gesundheit“ ist das Ziel, das Datensammler, Biostatistiker, Mediziner und Selbstvermesser verfolgen. Auch Frau M. war über die veränderten Datenwerte beunruhigt, weil sie ihre Gesundheit bedroht sah. Wie der Freiburger Sprachwissenschaftler Uwe Pörksen feststellt, ist „Gesundheit“ heute ein „geheiligter Begriff“. Einst bezeichnete das Wort eine Leerstelle. Es bedeutete nichts anderes als „unversehrt“, „am Leben“. Wer gesund war, dem fehlte nichts. Aufklärung und Säkularisierung haben das christliche Heilsversprechen jedoch ins Diesseits verlegt und „Gesundheit“ zu einem höchsten Wert gemacht: „Wenn - sehr idealtypisch gesprochen - ‚Gott tot ist‘, beginnt der Bürger des späten 18. Jahrhunderts sein Leben auf das Diesseits auszurichten und die Gesundheit, das Wohlergehen, die Schönheit und den Genuss des Körpers als oberste Werte und Ziel seines Lebens anzunehmen“, fasst der Historiker Philip Sarasin zusammen.

Die moderne Medizin verspricht, diesen obersten Wert „Gesundheit“ sicherzustellen - und noch zu steigern. Antibiotika, Organtransplantationen, künstliche Befruchtung, genetische Analysen: Tatsächlich ist heute technisch machbar geworden, was noch vor wenigen Generationen als undenkbar galt. Nun versprechen Forscher sogar, Krankheiten vorhersagen und verhindern zu können, bevor sie überhaupt aufgetreten sind. „Big Data“ soll den Blick in die Glaskugel möglich machen: „Die Verfügbarkeit riesiger Datenmengen und der statistischen Hilfsmittel, die man braucht, um die Zahlen feinzumahlen, versetzen uns in die Lage, die Welt auf eine vollkommen neue Weise zu verstehen. Korrelationen machen Kausalitäten (Ursächlichkeiten; d. Red.) überflüssig“, bringt es Chris Anderson, ehemaliger Chefredakteur des Technologie-Magazins „Wired“, auf den Punkt.

Allerdings führt es in die Irre, hier von „verstehen“ zu sprechen. Ziel ist es, die Zukunft vorausberechnen zu können: „Raus mit all den Theorien des menschlichen Verhaltens! Vergessen Sie Taxonomien (wissenschaftliche Einordnungen; d. Red.), die Ontologie und die Psychologie! Wer weiß schon, warum Menschen sich so verhalten, wie sie sich gerade verhalten? Der springende Punkt ist, dass sie sich so verhalten und dass wir ihr Verhalten mit einer nie gekannten Genauigkeit nachverfolgen und messen können.“

Auch in der heutigen Medizin ist das zentrale Ziel nicht mehr, Krankheiten zu verstehen, sondern sie statistisch vorauszusagen. „Big Data“ sucht Muster und Korrelationen, die rein statistisch sind und mit Krankheitsursachen, ärztlicher Erfahrung und dem „gesunden Menschenverstand“ nichts zu tun haben müssen. „Um Kranken kompetent zu helfen, muss man nicht mehr genau verstehen, welche Krankheiten sie haben“, prophezeite der Mathematiker Christian Hesse in der „Süddeutschen Zeitung“. Es reicht, findet er, wenn das Datenprofil des Kranken mit anderen verrechnet wird, um aufgrund von Korrela­tio­nen auf den vorliegenden Fall zu schließen. Verfechter der digitalisierten Medizin schwärmen vom Zugewinn an Objektivität und Genauigkeit, wenn die menschliche Urteilskraft durch Computer ersetzt wird. „Ärzte können einpacken“, so prognostiziert Hesse begeistert, da in Zukunft „der Computer … zum Leibarzt werden“ wird.

Der Mensch unter Dauerverdacht

Ob „Big Data“ und statistische Risikovorhersagen die Medizin tatsächlich effektiver und kostengünstiger machen, ist heftig umstritten. Abzusehen ist jedoch, dass digitalisierte Zukunftsvorhersagen nicht nur das Gesundheitswesen verändern, sondern auch unser Sozialgefüge, unsere Selbstwahrnehmung und unser Verhältnis zueinander. Um diese Veränderungen einschätzen zu können, lohnt ein Blick auf die Anwendung von „Big Data“ und vorhersagende Analysen in Lebensbereichen, in denen sie bereits routinemäßig zum Einsatz kommen - beispielsweise in der Kriminalitätsbekämpfung. In Zürich, München und Nürnberg arbeitet die Polizei mit der Software „precobs“ (Pre Crime Observation System, etwa: vorkriminelles Beobachtungssystem), die auf der Grundlage von Polizeidaten die Wahrscheinlichkeit kalkuliert, dass in den nächsten drei bis sieben Tagen in bestimmten Straßenzügen eingebrochen wird. Markiert das Programm eine Gegend rot, verstärkt die Polizei dort ihre Präsenz. „Die Polizei überwacht die Zukunft“, so betitelte die „Süddeutsche Zeitung“ ihre Reihe zum Thema „vorhersagende Polizeiarbeit“.

In anderen Ländern identifiziert die Polizei nicht nur risikoträchtige Straßenzüge, sondern auch risikoträchtige Personen. In den Vereinigten Staaten etwa werden neben Polizeidaten auch Daten aus sozialen Netzwerken und aus Überwachungsgeräten in die Risiko-Kalkulations-Programme eingespeist. Städte wie Oklahoma City sind bereits mit einem dichten Netz aus Überwachungskameras und Überwachungssensoren überspannt. Das europäische Forschungsprojekt „Indect“, das 2014 abgeschlossen wurde, strebte eine ähnlich umfassende Datenerfassung und Überwachung zur Identifizierung „abnormalen Verhaltens“ in Europa an (vgl. www.indect-project.eu/).

Wer sich der Zukunft bemächtigen will, muss die Gegenwart kontrollieren. Daher verallgemeinert die Sicherheitsgesellschaft den Verdacht - eine folgenreiche Verkehrung der rechtsstaatlichen Unschuldsvermutung. Wenn Vorbeugung das Ziel der Justiz wird, muss nicht mehr Schuld, sondern Unschuld bewiesen werden. Niemand ist heute mehr davor gefeit, aufgrund bestimmter Merkmale als potenzieller Krimineller oder Terrorist zu gelten und möglicherweise sogar in präventive Sicherheitshaft zu kommen.

Auch in der Medizin führt der Versuch, potenzielle Erkrankungen vorwegzunehmen, zur umfassenden Überwachung der Gesunden. Die teilweise sehr umstrittenen Screening-Maßnahmen in der Schwangerenvorsorge, bei der Krebsfrüherkennung und bei Neugeborenen-Untersuchungen werden immer engmaschiger und umfangreicher.

Genauso wie die vorhersagende Polizeiarbeit den Kriminalitätsverdacht universalisiert, so verallgemeinert die Überwachungsmedizin den Krankheitsverdacht. Der britische Medizinsoziologe David Armstrong nennt die Risikomedizin daher ausdrücklich „Überwachungsmedizin“. Wie die Geschichte von Frau M. zeigt, macht dieser Dauerverdacht kerngesunde Menschen davon abhängig, sich von Fachleuten und technischen Apparaten regelmäßig versichern zu lassen, dass sie - wahrscheinlich - nichts haben.

Der Computer berechnet Straftaten

Welche Werte bei der Risikoeinstufung als „auffällig“ beziehungsweise als „erhöht“ gelten, entscheiden zunehmend nicht mehr Menschen, sondern - im Namen der Objektivität - Computer. Auch hier ist der Blick auf automatische Entscheidungsprogramme jenseits der Medizin lehrreich. An der mexikanischen Grenze haben die Vereinigten Staaten beispielsweise das System AVATAR installiert. Der „Automatisierte Virtuelle Agent für Wahrheitsbeurteilung in Echtzeit“ befragt Einreisende und screent sie nach Verhaltensauffälligkeiten. Das Risikoprogramm FOTRES wiederum ist in der Schweiz im Einsatz. Es ermöglicht, durch die Eingabe von Daten und das Anklicken von vorgegebenen Antworten eine Entscheidung über das Schicksal eines Gefängnisinsassen zu treffen. Kalkuliert das Programm eine hohe Wahrscheinlichkeit für zukünftige Straftaten, ist das ein Grund, den Inhaftierten in vorbeugenden Gewahrsam zu stecken - gegebenenfalls unbegrenzt.

Nicht ein Vergehen, sondern eine kalkulierte Risikovorhersage bringt ihn weiter hinter Gitter: Er wird einer Straftat beschuldigt, die er in Zukunft - vielleicht - begehen wird. Weder für die Betroffenen noch für die Anwender ist wirklich nachvollziehbar, aus welchen Gründen jemand als risikoträchtig eingestuft und aussortiert wird. Gründe beziehungsweise Ursachen kennt ein statistisches Analyseprogramm sowieso nicht. Es kennt nur berechenbare Muster und Korrelationen.

Die Soziologen Zygmunt Bauman und David Lyon werfen der hochtechnisierten Überwachungsgesellschaft daher organisierte Verantwortungslosigkeit im eigentlichen Wortsinne vor: Niemand antwortet mehr. Niemand übernimmt mehr die Verantwortung dafür, wie über Menschen geurteilt und was ihnen angetan wird.

Ende traditioneller Heilkunst?

Traditionell stand der einzelne konkrete Mensch im Zentrum medizinischer Heilkunst. Der Hippokratische Eid verpflichtet den Arzt auf das Wohl des Einzelnen, und die christliche Armen- und Krankenfürsorge, die die ersten Hospitäler, also Gästehäuser für Bedürftige, hervorgebracht hat, versteht ihren Dienst als Ausdruck gelebter Nächstenliebe. Der medizinische Versuch, nicht (nur) Kranke zu heilen, sondern sich der Zukunft zu bemächtigen, bedroht diese jahrhunderte-, ja jahrtausendealte Tradition. Die Voraussetzung dafür, Krankheiten vorherzusagen, besteht darin, den Menschen aus Fleisch und Blut in der Masse aufzulösen. Der Tod, die Geburt, der Unfall und die Erkrankung gerinnen erst auf der Ebene der Masse zur berechenbaren Regelmäßigkeit, also zur bezifferten Sterblichkeit, Geburtenrate und Erkrankungshäufigkeit. Für den Einzelnen bleiben sie unvorhersehbarer Schicksalsschlag und einzigartige Lebensgeschichte. Eine Medizin, die nicht Heilung, sondern Risikoprävention zum Leitziel erhebt, behandelt Menschen daher unvermeidlich als statistische Fälle, als gesichtslose Risikoprofile. „Wir stehen auf dem Sprung“, klagt ein Arzt daher auf einem Medizinkongress, „die Grafiken zu behandeln und nicht die Menschen.“

„Führe uns nicht in die Diagnose“

Das Schicksal lässt sich nicht vorausberechnen. Auch, wenn die Datensätze und Risikovorhersagen durch „Big Data“ immer feingliedriger und, wie es irreführend heißt, „personalisierter“ werden: Zwischen einem statistisch kalkulierten Zukunftsszenario und der persönlichen Lebensgeschichte, zwischen einem berechenbarem Datensatz und dem einzigartigen „Du“ liegt eine unüberbrückbare Kluft. Diese Erkenntnis könnte Christen eine neue Freiheit verschaffen gegenüber den Denkweisen, Sachzwängen und Verheißungen einer Medizin, die es sich zur Aufgabe macht, das Menschsein zu optimieren.

Wegweisend dabei kann vielleicht das Stoßgebet von Ivan Illich sein, eines Priesters und Philosophen, der entgegen medizinischer Vorhersagen mehr als anderthalb Jahrzehnte mit einem unbehandelten Tumor unter dem Ohr lebte - und schließlich nicht aufgrund der Geschwulst, sondern überraschend aus dem Leben schied - beim Verfassen einer Kritik am „Zahlenzauber der Statistik“: „Und führe uns nicht in die Diagnose, sondern erlöse uns vom Streben nach Gesundheit.“

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