Poetik-Vorlesung von Thomas HürlimannDer große Pan ist tot

Das Wiener Institut für Systematische Theologie hat eine Poetik­dozentur eingerichtet, um das Verhältnis von Literatur und Religion neu auszuloten. Jetzt sprach Thomas Hürlimann über Glaubens­distanz und Glaubenssehnsucht.

Das literarische Werk des Schweizer Schriftstellers Thomas Hürlimann streift viele Welten: die Welt der eigenen Familie, die Welt des Politischen, die Welt des Jüdischen, die Welt des Katholischen. Und selbstverständlich sind alle diese Welten miteinander vernetzt, so dass man von einem Hürlimann’schen Pluriversum reden könnte. Bei seiner Vorlesung im Rahmen der Wiener Poetik-Dozentur „Literatur und Religion“ spielte eine Welt eine besondere Rolle, die vielen jüngeren Zeitgenossen inzwischen unbekannt sein dürfte - eine Welt, die von Klostermauern umringt war, die zwischen Drinnen und Draußen eine scharfe Grenze zog. Dafür ragten die beiden Türme der Stiftskirche Einsiedeln hoch in den Himmel hinein und erinnerten daran, dass die Horizontale nicht alles ist. In dieser Welt gab es Mönche, die Namen wie Kassian, Odilo, Erlebald oder Walafried trugen - und eine Schwarze Madonna, die in der Gnadenkapelle unter einem marmornen Tempelchen täglich mit dem Marienhymnus Salve Regina verehrt wurde. Die Madonna selbst hatte eine dramatische Geschichte. Vor den Truppen Napoleons hatte sie fliehen müssen, sie war eine Zeit lang vor den Feinden der Religion sogar vergraben worden, konnte dann aber wie durch ein Wunder zurückkehren und hat seitdem manchen Seufzer der Mühseligen und Beladenen gehört.

Sieben Linden am Anfang

Die Welt des jungen Thomas Hürlimann kannte die Vertikale. Die Glocken im Turm gaben das Zeitmaß an, eine andere Zeit, die dem Gotteslob morgens, mittags und abends Raum gab. Laudes, Angelus, Vesper waren die Namen dafür. Die Wiederkehr des stets Gleichen sollte einen „Vorschein der Ewigkeit“ erfahrbar machen. Als Zögling der Klosterschule in Einsiedeln hat Hürlimann ab dem zwölften Lebensjahr eine schwarze Kutte getragen, die lateinische Liturgiesprache schärfte sein Sprachempfinden. Wie die anderen war Hürlimann Ministrant und wusste, was wann wie zu tun war, wenn das Geheimnis der Wandlung gefeiert wurde. Selbst wenn die Gedanken umherschweiften und der Geist abwesend war: Der Körper war anwesend. Er stand, saß oder kniete, wenn die anderen standen, saßen oder knieten. Im „Massenkörper“ der 200 Mönche, 300 Schüler und 50 Brüder gingen Gebete wie „Ave Maria“ und „Pater noster“ wie von selbst über die Lippen.

In dieser anderen Welt, in der es auch eine Bibliothek mit Hunderten von Handschriften und Tausenden von Büchern gab, die Wissen und Weisheit der Jahrhunderte speicherte, hat Thomas Hürlimann eine einschneidende Erfahrung gemacht, die er später, viel später als Initiation in das Schrei­ben gedeutet hat. Diese Erfahrung ist verbunden mit dem Subpräfekten Wala­fried. Der vertrat eines Morgens den erkrankten Pater Erlebald im Deutsch-Unterricht und führte die Schüler nach draußen ins Freie. Dort sollten sie ihre Eindrücke in einem Aufsatz festhalten. Der Zögling Thomas beschrieb die sieben Linden als „Naturkathedrale aus Licht und Luft“. Als Walafried den Aufsatz durchsah, traute er seinen Augen nicht. Das musste abgeschrieben sein. Er zitierte den Zögling und fragte scharf, wo er das herhabe. Das könne er unmöglich selbst geschrieben haben. Doch, das habe er selbst geschrieben, erwiderte der junge Hürlimann. Das sei eine Lüge, schrie Walafried. Als der Schüler bei der Wahrheit blieb, wurde er mit einem kantigen Lineal auf die Hände geschlagen. Immer fester. Das saß.

„Der Wille zum Winterschlaf“

Mit fünfzehn ist Thomas Hürlimann der Glaube an das Geheimnis der Wandlung nach und nach abhandengekommen. Das heilige Ritual erstarrte ihm zur leeren Routine. Das „Hoc est corpus meum“, das der Priester im Namen eines anderen über die Oblate spricht, erschien ihm als Hokuspokus. Er konnte den Einbruch des Heiligen in die Zeit nicht mehr mitfeiern. Seitdem hat er die Wandlung woanders gesucht, ist heimlich über die Klostermauern gestiegen, um Bier zu trinken oder Mädchen zu treffen - oder ist per Anhalter nach Zürich gefahren, um im dortigen Schauspielhaus das wiederzufinden, was er im Stift verloren hatte: Wandlungen. In dieser Zeit ist Thomas Hürlimann auch Mitglied im „Club der Atheisten“ geworden. Um Mitglied zu werden, musste er, wie er berichtete, eine delikate Probe bestehen. Sie bestand darin, während des sonntäglichen Hochamts in den Dachstuhl der Klosterkirche zu steigen und durch eine Luke einen Papierflieger mit einer provokanten Botschaft hinuntersegeln zu lassen. Hürlimanns Flieger trug die Aufschrift: „Religion ist der Wille zum Winterschlaf. (Nietzsche)“. Das Geschoss verfehlte seine Wirkung nicht und schlug bei den Patres wie eine Bombe ein. Die Mitglieder des Atheisten-Clubs aber hielten zusammen, Feuerbach und Sartre waren die Namen ihrer neuen Götter. Die Satzung verbot ihnen, weiter an der Messe teilzunehmen, Konflikte mit Eltern und Lehrern waren vorprogrammiert, die schluchzende Mutter bangte um das Seelenheil ihres Sohnes.

Später ging Hürlimann nach West-Berlin und studierte dort Philosophie an der Freien Universität. Als wacher Chronist der Ereignisse nahm er Verschiebungen wahr: „Religion existierte hier nur noch als vergleichende Religionswissenschaft, Philosophie nur noch als Gesellschaftswissenschaft - Gott, Metaphysik, Transzendenz: lauter alte Hüte.“ Bei Michael Landmann, einem Schweizer Philosophen jüdischer Herkunft, machte ihn die Diagnose eines „Risses“ hellhörig. Die gesellschaftlichen Unruhen, die in der Studentenrebellion von 1968 eine Zuspitzung erfuhren, wurden von Landmann als „Satyrspiel einer großen Tragödie“ bezeichnet. Die moderne Gesellschaft habe sich selbst von ihren Wurzeln, der griechisch-biblischen Kulturwelt, abgelöst und drohe daher steril zu werden. Auch der Student Hürlimann empfand bei allem jugendlichen Aufbruch dieser Jahre kein wirkliches Glück - und war ehrlich genug, sich dies einzugestehen. Das „Heimweh nach den verlorenen Ober- und Überwelten“ trieb ihn um, seine „metaphysischen Antennen zappelten ins Leere“. In der Erfahrung der Liebe, der „angewandten Unendlichkeit“, so der deutsche Schriftsteller und Pädagoge Jean Paul, glaubte er, das Religiöse neu zu streifen. Aber das Absolute blieb ihm unerreichbar und sank in den Hintergrund zurück. Die Sehnsucht blieb.

Was Thomas Hürlimann biografisch erfahren hat: einen doppelten Riss, der ihn zunächst zum Glauben seiner Vorfahren, dann aber auch zur vollmundigen Gottesbestreitung der Atheisten auf Distanz gehen ließ, das glaubt er auch in der Gesellschaft insgesamt wahrzunehmen. Das Verhältnis zur religiösen Überlieferung habe deutliche Risse bekommen - eine Erosion, die er durch den Satz „Der große Pan ist tot“ verdeutlichte. Diese Worte stammen aus einem Bericht des antiken Schriftstellers Plutarch. Als ein Schiff an der Insel Paxoi vorbeisegelte, sei Thamus, dem ägyptischen Kapitän, zugerufen worden, er solle, wenn er an der Insel Palodes vorbeisegele, laut rufen: „Der große Pan ist tot“. Thamus zögerte, entschied sich aber, den kühnen Auftrag auszuführen, wenn Windstille sei. Als das Schiff die Insel Palodes erreichte, regte sich tatsächlich kein Lüftchen, so dass der Kapitän sich an die Reling stellte und rief: „Der große Pan ist tot.“ Ein großes Wehgeschrei hallte von der Insel wider. Diese Szene, die zur Zeit des Kaisers Tiberius gespielt haben soll, ist von den Kirchenvätern als Untergang der heidnischen und Aufgang der christlichen Religion gedeutet worden. Die Geschichte zeige dem spätmodernen Beobachter aber auch, dass Götter sterblich sind, wie Hürlimann im Anschluss an seinen Berliner Lehrer Landmann sagte. Gilt das auch für den Glauben an Jesus Christus, den Gekreuzigten?

Kompassnadel Richtung Mekka

An dieser Stelle flocht Hürlimann erneut eine biografische Erfahrung ein. Er sei vor einigen Jahren mit einem Auswanderer-Schiff von Südafrika nach Indien gefahren. Für die Passagiere an Bord sei es nicht leicht gewesen, zu erkennen, ob das Schiff vorankomme. Aber neben den Navigationsgeräten der Schiffsbesatzung gab es ein anderes deutliches Zeichen. „Wenn die Moslems an Deck kamen, ihre Gebetsteppiche entrollten und sich gegen Mekka verneigten. Ein Schiffsoffizier mit gezücktem Kompass gab ihnen jeweils die Richtung vor, und da sich Mekka mit jeder Seemeile weiter nach Westen verschob, drehten sich die Betenden sukzessive mit, wie Kompassnadeln, von ihrem Heiligtum magnetisch angezogen.“ Die wenigen Nichtmuslime auf dem Schiff verstummten, wenn das ganze Schiff zum Gebetsraum wurde und die Rufe la ilaha il Allah („Kein Gott außer Gott“) auf dem Oberdeck, auf den Unterdecks, in den Sälen und Korridoren erschallten. Auf dieser Schiffsreise brach für Hürlimann, der nie aus der Kirche ausgetreten war, neu die Frage nach der Religion auf. „Mitten auf dem Indischen Ozean wurde mir klar, dass die Frage nach meiner Religionszugehörigkeit möglicherweise nicht mehr mir gehörte.“

Die Potenz des Islam - die Schwäche des Christentums, mit diesem Verweis auf die religionspolitisch gewiss heikle Asymmetrie endete der Wiener Vortrag. Dabei versuchte Thomas Hürlimann, der lange in Berlin-Kreuzberg gelebt und seine Erfahrungen dort in seinem Buch „Das Holzthea­ter“ eindrucksvoll beschrieben hat, die Fremdperspektive junger Muslime einzunehmen. Auch Muslime, die im Westen groß geworden seien, hätten „Heimweh nach einer Heimat“, die sie nie wirklich kennengelernt hätten. Das weite Land ihrer überirdischen Sehnsucht aber werde nicht selten durch ganz irdische Fernsehkanäle und entsprechende Prediger in Besitz genommen, ja geradezu erobert. Aus der Sicht vieler neu bekehrter Muslime, das habe er selbst erlebt, seien westliche Zeitgenossen und glaubensmüde Christen dekadent, ja gottlos. Nicht nur die Auslagen der Kioske, auch die leeren Kirchen und fast vergessenen Friedhöfe würden ihre Einschätzung bestätigen.

Diese Beobachtungen sind im Zusammenhang mit der heutigen Debatte um Integration gewiss provokant, zumal sich persönliche Erfahrungen nicht eins zu eins hochrechnen lassen und der Islam auch in Deutschland viele Gesichter hat. Aber ein Schriftsteller sagt, was er sieht, und Hürlimann hat erfahren, was er beschreibt. In seiner Diagnose flackerte auch Kritik am schwachen Erscheinungsbild der Nachkonzilskirche auf.

Kreuze, in den Köpfen abgehängt

Damit war ein umstrittener Punkt berührt. Thomas Hürlimann wird es dem Theologen sicherlich nicht als Anmaßung ankreiden, wenn dieser im Nachgang daran erinnert, dass es eine Stärke des Zweiten Vatikanischen Konzils gewesen ist, die Grenzen zwischen Drinnen und Draußen geöffnet und ein Reformprogramm erarbeitet zu haben, das den Brückenschlag zu den anderen mit einer geistlichen Selbst­erneuerung verbunden hat. Ein Zurück in die fromme schöne Welt des Stiftszöglings wird es nicht geben, ein Nostalgieprogramm ist auch von Hürlimann, der schon als Jugendlicher mit hohl gewordenen und autoritär verknöcherten Formen von Religion gebrochen hat, nicht beabsichtigt.

Andererseits legt der Schriftsteller den Finger in eine schmerzliche Wunde: Die Erinnerung des Konzils an die Quellen von Schrift und Tradition sowie das Programm der Erneuerung haben faktisch kaum zum gewünschten Neuaufbruch der Kirche geführt. Die Kirchen stehen - mit Johann Baptist Metz gesprochen - „wie entlaubte Bäume in der postmodernen Landschaft“ da. Mit dem dialogischen Brückenschlag zu den anderen war nicht selten eine verschämte Einklammerung des Eigenen verbunden, die viel geförderte Kultur der Gesprächsbereitschaft ließ häufig den Mut zur Differenz vermissen. Gerade in einer vorauseilenden Selbstdemontage, welche „die Kreuze schon in den Köpfen abhängt“, bevor sie aus dem öffentlichen Raum verschwinden, sieht Hürlimann eine verhängnisvolle Tendenz. Dabei weiß er, wie sein Roman „Fräulein Stark“ zeigt, sehr wohl um die Ambivalenz dieses Zeichens, das in der Geschichte des Christentums nicht selten auch missbraucht wurde, gerade auch gegenüber Juden. Aber eine Kirche, die das anstößige Todes- und hoffnungsstarke Lebenssymbol des Kreuzes nicht mehr ins Zentrum ihrer Verkündigung rücke, tue sich schwer, auf die dunklen Rätsel des Menschseins eine Antwort zu geben und den Durst nach Transzendenz zu stillen.

Ist aber die anhaltende Krise, die viele Ursachen hat, schon Anlass, den Ruf „Der große Pan ist tot“ auf das Christentum anzustimmen? Sind wir schon Zeugen der letzten Zuckungen einer altehrwürdigen Institution, die mit rückläufigen Gottesdienstbesucherzahlen zu kämpfen hat und deren Priesternachwuchs auf die „Null­linie“ zugeht, wie es der Regens des Münsteraner Priesterseminars, Hartmut ­Niehues, unlängst ausdrückte? Ist die orientierende Kraft der großen Worte des Glaubens verbraucht, ihr Sinn verdunstet? Oder müssten die verborgenen Schätze, die die Kirche in ihrem Elefantengedächtnis aufbewahrt, neu gehoben und den religiös suchenden Zeitgenossen in einer wirklichkeitsgesättigten und passgenaueren Sprache angeboten werden? Sicher genießt die Kirche durch ihren solidarischen Einsatz für Kranke, Arme und Migranten gesellschaftliche Anerkennung, und sicher gehört die diakonische Dimension zum Wesen der Kirche. Dennoch äußerte Hürlimann hier ein deutlich vernehmbares Unbehagen.

Metaphysische Antennen

Eine Kirche, die sich in der Öffentlichkeit vor allem über praktische Hilfsleistungen und gesellschaftliche Effizienz definiere und definieren lasse, verliere ihre Kernaufgabe aus dem Blick, den Glauben auch denen zugänglich zu machen, die ihre „metaphysischen Antennen“ neu ausgefahren haben. Ein Weniger an routinierter Sozialrhetorik und ein Mehr an nachdenklich ringender Glaubensvermittlung wäre für Hürlimann daher durchaus angezeigt. Am Ende seiner Wiener Poetik-Vorlesung wurde er gefragt, ob auf den von Nietzsche diagnostizierten „Winterschlaf“ nicht ein neues Erwachen folgen könne, das womöglich die „Risse“ heile. Thomas Hürlimann parierte die Frage, indem er sie an Kirche und Theologie zurückspielte. Beide werden sich in der Tat verstärkt darum bemühen müssen, dem Wort „Der große Pan ist tot“ bezüglich des Christentums den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dabei könnte schon die Erinnerung helfen, dass die Horizontale nicht alles ist.

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