HautDas Sakrament der Haut

Das wichtigste Sinnesorgan des Menschen, verletzlich und erregend schön, überzieht den ganzen Körper. Es ist ein Organ nicht nur des Leibes, sondern auch der Seele - und tiefster religiöser Erfahrung.

Im Karneval feiern die Begeisterten nicht nur ihre Lust auf Verkleidung, sondern auch ein Fest der Entkleidung. Jedenfalls wo es postwinterlich warm genug ist. In den Kampagnen-Sälen schwingen die Tänzerinnen ihre nackten Beine weit sichtbar hoch in die Luft. Im brasilianischen Hochsommer sollen die farben- und stilprächtig aufwendigen Kostüme nicht nur nebenbei die entblößten Hautpartien umso wundervoller erotisch strahlen lassen. Die sexuell anregenden Samba-Schritte, die vor allem Hintern und Busen in Bewegung versetzen, sind wie auch sonstige Tänze den kreisenden Balzritualen im Tierreich evolutionsbiologisch verwandt. Sie verstärken den Blick auf jene Körperpartien, von denen für das weiblich-männliche Paarungsverhalten stärkste Anziehungskraft ausgeht. So weit ist der Mensch in den Mustern seiner kulturellen Evolution eben doch nicht vom Tierreich entfernt. Am allerwenigsten mit der Haut, seinem bedeutendsten und erregendsten Sinnesorgan.

Die Haut ist mit ihren vielfachen biologischen Funktionen von der Wärmeregulierung bis zum Fühlen das Kommunikations- sowie Kontaktorgan schlechthin. Der Tastsinn spielt nicht bloß für die Wahrnehmung der Umwelt eine zentrale Rolle, sondern für das Leben überhaupt. Davon ist die Anthropologin Nina G. Jablonski, Direktorin eines Zentrums für Humanevolution und Diversität an der Evan Pugh Universität in Pennsylvania, überzeugt. Seltsamerweise werde er recht stiefmütterlich behandelt. Unter allen Säugetieren sind die Primaten diejenigen, „die sich am stärksten mithilfe von Berührungen orientieren“, so die Biologin in der „Frankfurter Allgemeinen“.

Sehr stark ausgeprägt ist dieser Sinn an den Händen und an den Füßen. Der Primatenfinger verdickt sich an seinen Kuppen zu höchster Empfindsamkeit und Empfindlichkeit. Physiologisch enden hier viele Nerven. Zahlreiche Blutgefäße und Schweißdrüsen treffen sich da auf dichtestem Raum. Hier befinden sich auch die Hautrillen mit dem einmaligen Muster eines jeden Individuums, ein Identitätsmarker, der über die Fingerabdrücke zum Beispiel zur Verbrechensbekämpfung genutzt wird. Die Haut an diesem Punkt macht den Unterschied.

Säugetiere erkunden ihre Umwelt üblicherweise mit Tasthaaren. Die Primaten hingegen, darunter der Mensch, erkunden die Welt über ihren Tastsinn in der Haut. Er dient allerdings nicht allein zur Informationsgewinnung über die äußerliche Beschaffenheit des Daseins, unter anderem zum Nahrungserwerb. Weitaus mehr wird über ihn die körperliche - und emotionale - Kontaktpflege organisiert: durch Berührung.

Streicheln gegen Stress

Über die Sinnlichkeit der Haut bildet sich Gruppenzugehörigkeit, Gemeinschaft. Beim Menschen entsteht so über Geselligkeit hinaus Gesellschaft. Die ursprünglichsten und bindungsstärksten Sozialkontakte inspirieren die Paarbildung und Paarbindung - Liebe und Fruchtbarkeit - dank Körperkontakt. Berühren, Streicheln, Umarmen, Küssen, Liebkosen wirken vermittels der Empfindsamkeit der Haut.

Neugeborene werden so in die raue Welt eingeführt, damit sie sich darin geborgen fühlen können, gesund wachsen und gedeihen an Leib und Seele. Die frühen Lebensphasen sind entscheidend. Durch die zärtliche Berührung der Haut wird körperliche Nähe erfahren, intensiver als durch wohltönende Laute oder beruhigende Worte der Mutter. Nina G. Jablonski sagt es deutlich: „Taktile Befriedigung während der frühen Entwicklung ist von kritischer Bedeutung für eine gesunde Verhaltensentwicklung: Jungtiere und Kinder, denen das vorenthalten wird, zeigen später im Leben nicht selten Verhaltensstörungen. In einfachen Worten: Das Ausbleiben von Berührung führt zu Stress. Hautkontakt hat nachweislich Vorzüge für Kinder während ihrer frühen Entwicklung. Das wird durch Studien von Kindern in Waisen- und Findelhäusern in den Vereinigten Staaten, Deutschland und Großbritannien zum Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts belegt. Zärtliches Berühren (zum Beispiel Massieren oder die gegenseitige Fellpflege von Primaten) reduziert den Stresshormonspiegel, und Individuen, die miteinander in zärtlichem Kontakt stehen, leiden weniger unter Nervosität und Depressionen als Individuen ohne Körperkontakt. Ein erhöhter Stresshormonspiegel aufgrund von Kontaktentzug wirkt sich dagegen negativ auf das Immunsystem aus.“

Das gilt vermutlich ebenso für das geistige Immunsystem. Jedenfalls sind diese wissenschaftlichen Erkenntnisse alles andere als belanglos für die Frage, inwiefern der frühe Entzug der Mutter vom Kind durch Berufstätigkeit womöglich doch verheerende Folgen haben kann. Die emotionale „Mangelerscheinung“ - vor allem in den drei ersten Lebensjahren des Kindes - bei oftmals materieller „Überfütterung“ als Zuwendungsersatz würde sich je länger je mehr irgendwann gesamtgesellschaftlich auswirken.

Mit dem Kuss vergeben

Eventuell hängen die erschreckend ausufernden Verhaltensauffälligkeiten und Verhaltensstörungen sowie die grassierende Disziplinlosigkeit von Schülern im Unterricht auch damit zusammen, wobei weitere Faktoren wie elterliche Erziehungsverweigerung, „erwachsene“ Disziplinlosigkeit und die vielen Scheidungen dazukommen. Zu unterschätzen ist es jedenfalls nicht, wenn Vater und Mutter wegen ihrer doppelten beruflichen Belastung für ihre Kinder daheim immer weniger in Erscheinung treten. Und selbst wenn sie körperlich - am Abend - anwesend sind, fehlt ihnen in ihrer Abgespanntheit häufig die Energie für eine zärtliche „Willkommenskultur“. Auch diese ist Arbeit, harte Arbeit. Der ganze Komplex wird gesamtgesellschaftlich allerdings hochgradig tabuisiert, weil der möglichst rasche Wiedereinstieg der Mütter ins Berufsleben nach einer Geburt aus emanzipatorischen, politischen und ökonomischen Gründen zur kollektiven Norm gemacht wurde und heutzutage die pure finanzielle Notwendigkeit ist.

Die Anthropologin zeigt sich beunruhigt über einen allgemeinen „Rückgang von direktem Kontakt im modernen Leben“. Für die Kontaktpflege ist nie nur die verbale Sprache bedeutsam, sondern mindestens ebenso die Sprache des Körpers, die Körpersprache. Aus guten Gründen hat der Mensch im Lauf seiner kulturellen Evolution diese entwickelt - bis hin zum Händeschütteln. Die ausladende Umarmung samt Schulter- und Rückenklopfen unter Männern deuten Verhaltensforscher zum Beispiel als ein menschheitsgeschichtlich übrig gebliebenes Ritual der Vergewisserung, ob der andere auch keine Waffen am Körper trägt, also vertrauenswürdig ist. Über das Betasten fremder Haut gewinnt der Mensch Sicherheit, kann er Konflikte bewältigen. Mit dem Kuss über die Haut der Lippen oder Wangen versichern sich Personen gegenseitig ihre Freundschaft. Auf intimster Ebene vergeben und versöhnen sich Paare küssend nach heftigem Streit. Auf kollektiver, politischer Ebene wird so Wohlwollen signalisiert. Inzwischen hat bei Konferenzen zwischen Staatsmännern und Staatsfrauen die Bussi-Kultur Einzug gehalten.

Unter jungen Leuten ist sie schon seit längerem üblich, auffällig vor allem bei Mädchen. Darin könnte sich unter anderem ein unbewusster Protest, eine Gegenbewegung gegen so manche Gefühlskälte in der anonymisierten Gesellschaft - wie im Elternhaus - ausdrücken. Jedenfalls versuchen Freundinnen in ihren Netzwerken unter sich das zu ersetzen, was ihnen fehlt. Die Bussi-Begrüßung und Bussi-Verabschiedung ist, bevorzugt in der eigenen Erfahrungsgruppe, zur Mode geworden, zum Selbstläufer - und findet wie jede Mode ihre Nachahmer.

Interessant ist ebenfalls, wie junge Männer untereinander das fast machoartige feste Händeschütteln wiederbeleben. Dabei berühren sich die Handflächen durch einen „Stellungswechsel“ besonders lange und intensiv. In Mode gekommen ist das „Abklatschen“ von Fußballspielern mit Trainer und Kollegen auf der Ersatzbank beim Verlassen des Spielfelds, bei der Auswechslung. Beliebt ist inzwischen auch das „Give me five!“: Voller Freude über eine gelungene Aktion schlagen zwei Personen möglichst fest ihre Hände - also mit den fünf Fingern - aufeinander. Sie bekunden sich so ihre Begeisterung und Zustimmung.

Die düstere Geschichte

Je unpersönlicher das gesellschaftliche Dahinleben, umso wichtiger wird die Haut. Sie kann die eigene Persönlichkeit darstellen, zum Beispiel durch ein ausgefallenes, einmaliges Tattoo. Frau oder Mann lassen es sich in die Haut stechen, um es bei gewissen Anlässen oder nur für bestimmte Personen stolz zu zeigen: „Das bin ich - und nur ich!“

Auch Schönheitsideale werden über die Haut transportiert. Hellhäutige lassen sich bereits im Winter per Solarium oder Cremes bräunen, im Sommer von der Sonne - Hautkrebs hin oder her -, um dunkler auszusehen. Für eher dunkelhäutige, für schwarze Frauen wiederum ist oft genau das Gegenteilige attraktiv: Sie wollen möglichst hell aussehen und benutzen dafür ebenfalls chemische Cremes, die nicht selten im Ruf stehen, die Gesundheit zu gefährden. Viele wollen anders sein, als sie sind, um so sie selber zu sein. Die Mittelchen zur Hautpflege, die meterweise die Regale in Drogerien füllen, sind inzwischen Legion. Längst haben nicht mehr nur Frauen, sondern auch Männer unzählige Tuben und Fläschchen zur Hautpflege in „ihrem“ Kosmetikschrank oder zumindest auf ihrem Kosmetikbrett deponiert. Die Haut macht den Menschen. Sie macht den Unterschied, das Individuum.

Allerdings gibt es ebenso die düstere, schreckliche Geschichte der Haut - bis hin zum Rassismus. Er meint, an der Hautfarbe ganzer Menschengruppen festmachen zu können, wer wieviel wert ist oder nicht, wer zum Herrsein bestimmt sei und wer zum Sklavesein. Nach wie vor sind derartige „Einteilungen“ der Menschheit aus dem Bewusstsein ganzer Kollektive nicht verschwunden.

Nicht wenige Menschen leiden an ihrer - „unreinen“ - Haut, an Geschwüren, Allergien, Verwundungen und Narben. Viele Verletzungen werden von anderen zugefügt oder durch Unfälle, Schicksalsschläge. Vereinzelt verwunden sich Menschen selber aus Vereinsamung. Es handelt sich um eine schwere seelische Erkrankung, wenn sich die Betreffenden „ritzen“ oder „brennen“, um sich, den eigenen Körper noch zu spüren. Solche Not kommt aus heftiger Verlusterfahrung. Niemand ist da, der einen tröstet, liebt, berührt, streichelt, umarmt und mit oder ohne Worte sagt: Es ist schön, dass es dich gibt, dass du da bist auf der Welt. Zudem geht es Menschen „unter die Haut“, wenn sie sehen, wie andere Menschen grausam leiden.

Auch Jesus kannte die Haut als wesentliches Organ, über das sogar das Heil Gottes den Menschen erreichen kann und erreicht. Offenbarung, die durch die Haut geht. Jesus scheint die Berührungen selbst von Fremden nicht gefürchtet zu haben. Er nimmt die Kinder in seine Arme, legt ihnen die Hände auf und segnet sie. Er wäscht seinen Jüngern die Füße. Er nimmt das gestorbene Mädchen bei der Hand und sagt zu ihm: „Talita kum!“ - „Mädchen, ich sage dir, steh auf!“ Er berührt die Augen der Blinden, damit sie wieder sehen. Die blutflüssige Frau berührt umgekehrt - aus Scheu - nur den Saum von Jesu Gewand und wird schon dadurch gesund. Nicht einmal vor dem Aussätzigen, um den alle aus Angst vor Ansteckung einen großen Bogen machen, scheut er zurück. „Jesus streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will es - werde rein!“ Den Taubstummen nimmt Jesus von der Menge weg, legt ihm die Finger in die Ohren und berührt die Zunge des Mannes mit Speichel…

Reste dieser sakramentalen Berührungskultur Jesu, die Gottes Heil durch Heilung zusagt, sind in einigen Ritualhandlungen der Kirche übriggeblieben, allerdings vielfach stark gemildert - ob bei der Salbung mit Chrisamöl zur Taufe, bei der Berührung des Gefirmten durch die Hand des Bischofs oder bei der Handauflegung zur Ordination ins geistliche Amt. Die Krankensalbung hat seit jeher den unmittelbarsten Bezug zum Wirken Jesu bewahrt - einschließlich der „Versiegelung“ des Gestorbenen mit dem Öl der Hoffnung auf das ewige Paradies.

Willkommenskultur für Gott

Mit einer Hautberührung, einem Schlag auf den Hintern, beginnen Neugeborene zu atmen. Mit dem letzten Streicheln der Wangen, der Stirn, mit dem Halten der Hand werden Sterbende aus dem Diesseits verabschiedet. Die Haut ist und bleibt auch in christlichen Kontexten das, was die Biologie der Evolution naturhaft vorgegeben hat und was der Mensch kulturell daraus machen konnte. Über die Haut erfährt der Mensch, geliebt zu sein. Über die Haut wird ihm das Willkommen in dieser Welt vermittelt - und religiös die einzigartige, individuelle Berufung durch Gott zum diesseitigen und zum jenseitigen Heil. Über die Haut wird Vertrauen gestiftet und Frieden - und dadurch auch Gottvertrauen, Glauben und Hoffen geweckt.

Der Prototyp für solche Sehnsucht ist Thomas, der auf sinnliche Weise die Verwundungen Jesu, aber auch die Auferweckung des Christus erfährt: „Da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch! Dann sagte er zu Thomas: Streck deine Finger aus - hier sind meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“

Manchmal reicht eine derart kleine Erzählung für eine Hoffnung, die unter die Haut geht. Auch die große Hoffnung auf das ewige Leben wird im hiesigen Leben immer und immer wieder vermittelt durch Berührung als Zeichen der großen Liebe und Zuwendung Gottes zum Menschen - durch das Sakrament der Haut.

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