Die Bürgersfrau und der Clochard

In Gorzów trifft CIG-Autor Christian Heidrich zwischen schicken Einkaufspassagen und emsigen Geschäftsleuten auch auf das Denkmal des Szymon Giety, eines stadtbekannten Clochards.

Die Bürgersfrau und der Clochard
© Christian Heidrich

Einen halben Tag und eine Hotelnacht nur verbrachte ich in Gorzów, doch die kleine Flucht war erfrischend. Manchmal brauche ich diese raschen Wechsel vom Dörflichen in die Stadt, vom Waldweg in die Fußgängerzone. Eine kurze Busfahrt, und man betritt eine andere, vom Menschen entworfene Welt. Große Buchhandlungen, unzählige Kaffeesorten - und die Expressreinigung, der ich eine Hose und zwei T-Shirts anvertraue.

Mir ist klar, dass ich ein Rucksackwanderer bin, auf den so mancher Autofahrer mit gemischten Gefühlen blickt, und doch bin ich privilegiert. „Dziwny jest ten swiat“, seltsam ist diese Welt, wie es in dem berühmten Song der polnischen Rocklegende Czeslaw Niemen (1939-2004) heißt.

Gorzów, an der Warthe gelegen, hat gut 120 000 Einwohner, eine preußisch-deutsche Vergangenheit als Landsberg an der Warthe und eine polnische Gegenwart als Zentrum der Wojewodschaft Lebus und als Bischofsstadt.

Hinter dem gotischen Dom sitze ich am Nachmittag an dem - nach einem Fabrikanten benannten - Pauckschbrunnen und schaue den Menschen zu. Den Rentnern, die sich unterhalten und ihre Enkelkinder, gar nicht so selten auch ihr Mobiltelefon, im Blick behalten. Den Geschäftsleuten, die vielleicht nach einem späten „Lunch“ in ihre Büros eilen, das Telefon selbstverständlich am Ohr. Den Menschen, die nur schwer vom Fleck kommen.

Der Brunnen symbolisiert den Fleiß der Bürger, die an der Warthe leben. Eine stämmige Frau balanciert an einem Tragjoch zwei Wassereimer, unter ihr drei Kinder, die einen Hammer, eine Angel oder ein Schiff in ihren Händen halten. Nur durch Fleiß und Ausdauer, so die andauernde Botschaft, kommt man weiter. Freilich entdecke ich auf dem Weg zu meinem Hotel eine andere Seite von Gorzów. In der Sikorskistraße steht das Denkmal des Szymon Giety, eines stadtbekannten Clochards. Ein Passant, der sich als Journalist der benachbarten „Gazeta Lubuska“ entpuppt, erzählt mir, dass das Denkmal ein wenig derangiert sei. So hatte Szymon in seiner rechten Hand ursprünglich einen Stock, mit dem er einen Kreisel anschlug. Doch vielleicht passt ein solcher Makel ganz gut zu einem Menschen, der die bürgerliche Ordnung verließ, dessen Leben ich mir nicht wirklich romantisch vorstelle.

Auch in Gorzów verschiebt sich, wie wohl in den meisten Großstädten, ein Teil des öffentlichen Lebens in Gebiete, in die ein „Szymon“ kaum Eingang finden wird: in die „Galeria“, in die riesige Einkaufspassage. Zwei solche luxuriöse Anlagen finde ich, ohne danach zu suchen. Alles wohlbedacht, alles mit hohen Preisschildern ausgezeichnet. Auch dort trinke ich gerne meinen Kaffee, stöbere ich in den Buchhandlungen. Doch es sind künstliche, abgeschirmte Orte, Nicht-Orte eigentlich, wenn man sie mit dem klassischen Marktgewusel vergleicht. Die wenigsten Verkäufer werden dort selbst einkaufen können.

Am nächsten Morgen fahre ich mit dem Bus zurück. Von Miedzyrzecz (Meseritz), der Stadt mit der mächtigen, alten slawischen Burg, den zwei Kirchen und der eher chaotischen Ansammlung von Läden, laufe ich weiter in Richtung Miedzychód (Birnbaum).

Am Rande:
Die Bemerkung, dass auch in Polen alte Menschen immer mehr vereinsamen (Eintrag vom 10. September), aber auch die Erfahrung der kommerziellen Nicht-Orte, variiert auf seine Weise der Reiseschriftsteller Andrzej Stasiuk in seiner Kolumne im Krakauer „Tygodnik Powszechny“. Er berichtet von einem Mann, der mit seiner alten Mutter in einem bejahrten Wartburg zu Ikea fuhr und dabei einen kleinen Unfall baute. Der Entschuldigung folgte die Erklärung: „Sie fuhren zu Ikea, weil sie dort in einem hellen und warmen Raum sitzen können. Die Mutter war krank. Sie würden das häufiger tun: im Warmen sitzen und auf einen hellen, farbigen Raum blicken.“

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