Stolz und Vorurteile

Wie bekomme ich einen Faden des Lebens-Labyrinths in die Hand?, fragt sich unser Autor nach der Lektüre journalistischer polnischer Gegenwartsanalysen.

Stolz und Vorurteile
© Christian Heidrich

Es sind nur Splitter der polnischen Wirklichkeit, die ich unterwegs, und nicht gerade in den Palästen des Landes zu Gast, mitbekomme. Umso mehr fasziniert mich dann die Titelgeschichte der Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“ (Ausgabe 38/2014), die das bündelt, was mich interessiert. „Komplex polskiej dumy“ lautet die Schlagzeile, was sinngemäß wiederzugeben wäre: Der polnische Stolz und seine komplexbeladene Rückseite. Der Autor, Michal Olszewski, bescheinigt seinen Landsleuten eine unreife Selbstwahrnehmung. Er geht von der Wahl des polnischen Premiers Donald Tusk zum EU-Ratspräsidenten aus, die in Polen riesige Emotionen und Siegesgefühle ausgelöst habe: „Endlich hat man uns gewürdigt.“ Eine solche Euphorie spiegelt für Olszewski das polnische Dilemma gut wider. Hier gehe es nicht um ein wichtiges Amt in Brüssel, um politische Pragmatik. Hier gehe es gleich um Alles, um Hoffnungen und Prätentionen, nicht zuletzt auch um den offenen oder heimlichen Wunsch, es Tusk gleichzutun: zu verschwinden. Dorthin, wo es vorgeblich klare Regeln gibt und nicht zuletzt auch viel Geld. „Ich lese und verstehe, warum wir Stolz und gleichzeitig auch Hass angesichts eines Menschen empfinden, der als erster Pole die europäische Organisation steuern wird.“

Die öffentliche Meinung in Polen werde, so der Autor des Krakauer „Tygodnik“, allzu häufig von Symbolen und nicht von harten Fakten geprägt. Sportliche Erfolge, und seien es solche in Nischendisziplinen wie dem leichtathletischen Gehen, oder die Karriere eines Fotomodells, sie rühren die polnische Seele an, machen die Menschen selbstbewusst und zufrieden. Die harten Fakten, so zum Beispiel, dass es im Land seit 25 Jahren ein freiheitliches System gibt, dass Tausende Kilometer an Schnellstraßen gebaut wurden, die Regale in den Geschäften voll sind und das Bruttosozialprodukt beständig steigt, werden kaum aufgegriffen und diskutiert. Und wenn, dann im Modus des Verdachts: „Nun, auch daran wird jemand kräftig verdient haben.“

Olszewskis Artikel lese ich abends in einer kleinen, wohldurchdachten Pension, die sicherlich erst in den letzten Jahren gebaut oder renoviert worden ist. Wie selbstverständlich gibt es hier eine schnelle Internetverbindung und alle sonstigen Annehmlichkeiten. Unten im Restaurant bejubelten polnischen Fans ihre Volleyballmannschaft. Zwei Wirklichkeiten - oder nur eine Frage der Perspektive? Die Soziologen sagen, dass wir unsere komplexe Wirklichkeit permanent reduzieren müssen, um von ihr nicht überwältigt zu werden. Vielleicht lässt sich die Verzerrung, die Olszewski beschreibt und die auch ich splitterhaft wahrnehme, als der Versuch verstehen, einen Faden für das Labyrinth unseres Lebens in die Hand zu bekommen?

Am Rande:
In meinem Hotelzimmer in Naklo an der Notec (Netze) finde ich zwei ästhetische Döschen mit Mineralwasser vor, „leicht mit Kohlensäure versetzt“. Soll ich dankbar sein oder an den Wahnsinn denken, der ein solch hochgestochenes Produkt zustandebringt?

Zwanzig Minuten vor der Abendmesse sitzen zwei Priester im Beichtstuhl und langweilen sich ganz und gar nicht. Ein Pönitent nach dem anderen tritt heran und bekennt seine Schuld, wird losgesprochen. Auffällig viele junge Menschen sind dabei, manche bleiben zum Gottesdienst, andere gehen wieder. Das Bußsakrament, „im Westen“ untergegangen, ist hier noch ein selbstverständlicher Teil der religiösen Praxis. Jenseits aller Dogmatik: Auch das Schuldbekenntnis hilft uns dabei, die komplexe Wirklichkeit zu bewältigen.

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