Kleiderwechsel

In Koronowo trifft CIG-Autor Christian Heidrich auf europäische Geschichte en miniature: Die 1856 erbaute Synagoge wurde 1938 von einem Turnverein gekauft und diente im Krieg als Warenlager, später als Kino.

Kleiderwechsel
© Christian Heidrich

Über Nacht wurde es tatsächlich herbstlich - pünktlich zum kalendarischen Anfang der Jahreszeit. Als ich am Morgen das Hotel verlasse, ist es düster, windig und kalt, so dass ich nach wenigen Minuten mein Wanderhemd gegen einen warmen Pullover tausche. Es ist der einzige Pullover, dem ich je einen Namen gegeben habe, Cluny-Pullover. Vor zwei Jahren gingen wir zu Pfingsten auf dem im Elsass beginnenden Teil des Jakobsweges und kamen im burgundischen Cluny an. Unterwegs in den berühmten Weinorten, aber auch in dem Städtchen mit der Abtei-Ruine, war es nass und kalt. Wetterverhältnisse, auf die wir nicht eingestellt waren. Wir besserten unsere Laune mit dem Schmieden von "Nieselversen" und der systematischen Inspektion der umliegenden Cafés. Im Souvenirladen der Abtei fand ich dann den wärmenden Pullover mit dem stilisierten Namen der Abtei unter dem Kragen. Jetzt kann ich "Cluny" bestens gebrauchen. Wann werde ich meinen Sonnenhut, den ich jetzt schon seit 55 Tagen trage, gegen eine Mütze tauschen?

Mit dem Bus fahre ich aus der Stadt und setze bei dem Stausee von Samociazek meine Wanderung fort. Auch der See, touristisch durchaus erschlossen, wirkt an diesem Morgen herbstlich-abweisend. Am Ufer treffe ich zwei Spaziergänger mit Hunden, entdecke ein einziges aufgeschlagenes Zelt, dessen Bewohner gerade frühstücken. Das Ende der Saison rückt näher.

In Koronowo am Fluss Brda (Krone an der Brahe), einem Städtchen mit gut 10000 Einwohnern, laufe ich durch die Gassen der Altstadt und stehe unvermutet vor einem baufälligen Gebäude, darauf eine Tafel mit hebräischen Lettern. Hier ist, hier war die Synagoge. Ihre Geschichte lassen die Stichworte auf der Informationstafel erahnen. 1856 wurde sie erbaut, 1938 kaufte die Turnvereinigung "Sokól" (Falke) sie der jüdischen Gemeinde von Bydgoszcz ab. Im Krieg diente sie als ein Warenlager, später als ein Kino. Gegenwärtig wird sie, auf welche Weise auch immer, wieder von "Sokól" benutzt.

Europäische Geschichte en miniature. Ihr tragischer Teil zumindest.

Auf dem Marktplatz, ich suche gerade Schutz vor einen Regenschauer, werde ich von einem alten Mann angesprochen, der sichtlich von einem Leben als Alkoholiker gezeichnet ist. Ich gebe ihm ein paar Münzen, und er möchte mir "dafür" genau erzählen, welche feinen Lebensmittel er für das Geld kaufen wird.

Gutes sollte man tun, damit es in der Welt ist. Ein Satz, der mir immer wieder in den Sinn kommt. Wir sind die Privilegierten.

Als ich wieder loslaufe, auf einer schlecht asphaltierten Straße nach Serock und Swiekatowo, spielen Wolken und Sonnenstrahlen, Regentropfen und Windstöße ein nicht endendes Spiel nach mir unbekannten Regeln. Den "Cluny" behalte ich den ganzen Tag an.

Am Rande:
"Kabarety" scheinen im polnischen Rundfunk wie im Fernsehen äußerst beliebt zu sein. Freilich haben sie mit einem bissigen, intelligenten politischen Kabarett wenig zu tun. Es sind zumeist Sketche, die mit groben Stereotypen arbeiten, die sich an Berühmtheiten aus der Klatschpresse, bestenfalls aus der Politik, abarbeiten und hin und wieder ein "typisch" deutsches oder russisches Wort dem Publikum zuwerfen. Ein liberales System scheint kein gutes Pflaster für das Kabarett zu sein, das sich dann rasch zur wohlfeilen Comedy wandelt.
Zwei Lektionen zieht der Kommentator der "Gazeta Wyborcza" aus dem Sieg der polnischen Volleyballmanschaft bei der Weltmeisterschaft. Nach einer Niederlage müsse man den Kopf rasch von negativen Gedanken säubern. Und: Man müsse sich, und sei es bei der Auswahl des Trainers, der Welt öffnen. "Denn es geht um gute und schlechte Trainer, nicht um polnische und ausländische."

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