Shakespeare in Danzig

In Danzig angekommen ergattert Christian Heidrich eine Karte für die Hamlet-Vorstellung im neu eröffneten Theater. Die Kritiken reichen von fulminant bis Unverschämtheit.

Shakespeare in Danzig
© Christian Heidrich

Auch wenn ich nicht wandere, wird meine Kondition getestet. In Marienburg eine Führung, die dreieinhalb Stunden dauert, in Danzig ein "Hamlet"-Abend, bei dem das Schlusswort erst weit nach 23 Uhr gesprochen ist.

Doch der Abend ist ein Ereignis, und das aus mehreren Gründen. Zunächst ist es für mich ein kleines Wunder, dass ich, kurzzeitiger Gast in der Stadt, für eine der am meisten erwarteten Vorstellungen des Danziger Shakespeare-Festivals noch eine Karte ergattern kann. Dann das Theatergebäude selbst, das erst kürzlich eröffnet wurde und hohes Lob wie wütende Kritik hervorgerufen hat.

Der italienische Architekt Renato Rizzi spielt mit seinem Ziegelbau auf die Traditionen der Backsteingotik an - und unterläuft sogleich alle frommen Erwartungen. Anthrazitfarben ist der Bau, asymmetrisch und verwinkelt, manche erinnert er an das Grab des Tutanchamun oder gar Schlimmeres. Gleichzeitig ist das Herz des Gebäudes eine Antithese zur äußeren Bedrückung, sind Bühne und Zuschauerraum an der Tradition des Shakespearschen "Globe"-Theaters orientiert. Leicht und luftig erscheint der helle Raum mit seinen Reihen vor der Bühne und den in drei Stockwerken angeordneten Galerien. Die Raumaufteilung lässt sich variieren, und ja, das Dach lässt sich ganz öffnen. Das sollte im Verlauf des Abends noch eine Rolle spielen.

Die Theatertruppe aber kam weder aus Polen noch England, aus Deutschland vielmehr, aus Bochum: das renommierte "Schauspielhaus". Jan Klata, ein heller Stern und Provokateur am polnischen Theaterhimmel, führte die Regie, und seine "Hamlet"-Fassung - mit polnischen und englischen Untertiteln - zog alle Register des zeitgenössischen Theaters.

Man könnte von "zu viel und zu laut" sprechen, vom Comicstrip oder von der üblichen Verhunzung eines glorreichen Stoffes. Doch für mich waren es drei kurzweilige, auch lustige Stunden. Denn Klata lässt die Schauspieler agieren und zugleich ihre Handlungen reflektieren, lässt sie die vorhersehbaren "kritischen" Kommentare ("Das ist doch keine Kunst mehr, eine Unverschämtheit!") deklamieren. Vor allem aber kann der Zuschauer erkennen, dass die Frage nach Sein oder Nichtsein nicht für dänische Prinzen reserviert ist. "Denken macht traurig", heißt es bei George Steiner (Eintrag vom 3. September). Wir alle "denken" und spielen mit, zweifelnd und verzweifelnd, gierig, lachend und niemals vollständig. "Weiter bin ich nicht gekommen", sagt Dimitrij Schaad, der Bochumer Hamlet, seinen berühmten Monolog unterbrechend.

Die Schauspieler aus Bochum sind fulminant. Stehende Ovationen.

Und während die Schauspieler sich verbeugen, wird leise das Dach aufgemacht. Die Dunkelheit der Nacht, der kalte Wind kriechen in den Theaterraum hinein. Nach drei Stunden Shakespeare ergibt das ein ungeheures Bild. Es dauert lange, bis die ersten Zuschauer tatsächlich gehen.

Draußen auf der Ulica Dluga, der Langen Straße, ist noch Leben. Bei einem Straßenhändler kaufe ich einen Hot Dog, und er erzählt mir, dass die Menschen, die aus den Restaurants und Theatern hinausgehen, immer frieren. "Dabei kommt es doch nur auf die richtige Kleidung an."

Das Leben kann auch einfach sein.

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