Gelassenheit

Christian Heidrich nähert sich langsam der polnisch-russischen Grenze. Im polnischen Braniewo/Braunsberg befindet sich ein russischer Soldatenfriedhof mit einer bedrückenden Galerie von zumeist jungen gefallenen Männern, Opfern des menschlichen Wahns.

Gelassenheit
© Christian Heidrich

Von Frombork (Frauenburg) nach Braniewo (Braunsberg), dem letzten Städtchen vor der russischen Grenze, sind es nur zehn Kilometer. Doch zu der Straße 504 gibt es zunächst keine Alternative. Und so marschiere ich nicht mit dem besten Gefühl los. Tatsächlich sind auf der Strecke viele Autos schnell unterwegs. Das bisschen Grün an der Seite ist nur ein Notbehelf. So gehe ich teils am Rande der Fahrbahn, teils auf dem Grünstreifen und versuche mich abzulenken: Ich zähle die Schritte in den mir zur Verfügung stehenden Sprachen, singe ein bunt gemischtes Repertoire - Pink Floyds „Another Brick in the Wall“ ist zwischendurch der Favorit - und denke an die abgrundtiefe Gelassenheit von Johann Gottfried Seume (1763-1810) bei seinem „Tornistern“ zwischen Leipzig und Syrakus. Seumes Herausforderungen waren natürlich ganz anderer Art als die, die sich heute einzustellen pflegen. Nicht um Asphalt und vorbeirasende Autos ging es damals, vielmehr um Willkür an den kleinteiligen Grenzen, um geldgierige Wirte und windige Cicerones. Die klassischen Übel des klassischen Wanderns sozusagen. Und Seume, der zum weltlichen Patron aller Fernwanderer proklamiert werden müsste, blieb gelassen, entschieden und heiter. Wer sich seine gewundene (Soldaten-)Vita anschaut, wird vielleicht den unausgesprochenen Vers aufgreifen: Gelassen bleiben - oder untergehen. Nun, meine Gelassenheitsanteile sind noch zu mehren.

In der Mitte des Weges entdecke ich dann doch eine Alternative. Es ist ein kleiner Umweg. Doch die Staubstraße durch die Weiler Garbina und Stepien - und als zwei Autos vorbeifahren, merke ich, dass „Staubstraße“ den Sachverhalt gut wiedergibt - führt letztlich auch in die Richtung. Das Konzert der Hunde ist freilich überwältigend. Wann haben sie schon einen Fremden, einen Rucksackreisenden gesehen, erspürt?

Auf dem weiteren Weg dann eine neue Variation der menschlichen Provinzen. Zwei Männer, militärisch gekleidet und mit je einem Detektor ausgerüstet, suchen nach Münzen, nach alten Patronen und allem, was sonst noch, „ob preußisch oder nicht“, zu entdecken sei. Im Internet, so erklärt mir einer von ihnen, lässt sich schnell feststellen, ob die Funde etwas wert seien. Beide wünschen wir uns „Erfolg!“.

Am Eingang von Braniewo dann ein russischer Soldatenfriedhof. Im Vordergrund ein riesiges Denkmal, an den Seiten Hunderte von kleinen Gedenksteinen für die Soldaten, die hier Anfang 1945 bei den heftigen Kämpfen um Braunsberg gefallen sind. Auf manchen Gedenktafeln sind Fotos oder Bilder angebracht. Eine bedrückende Galerie von zumeist jungen Menschen, Opfer des menschlichen Wahns.

Am Rande:
Der Schriftsteller Wojciech Kuczok in seiner Sportkolumne in der „Gazeta Wyborcza“ über das Fußball-Länderspiel Polen-Deutschland, das 2:0 ausging: „Wer sagt, dass die Deutschen so oder so besser Fußball spielen und dass dieses Ergebnis glücklich zustande kam, weil wir nur durch ein paar wunderbare Koinzidenzen siegten, der wird recht haben. Das alles stimmt. Doch sollte man mit einer wilden Satisfaktion hinzufügen, dass es eine wunderbar nutzlose Wahrheit sei.“

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