Grenzen

"Es war wohl Hegel, der festgestellt hat, dass man von einer Grenze nur insofern etwas wissen könne, als man schon darüber hinaus sei", sinniert CIG-Autor Christian Heidrich nahe der polnisch-russischen Grenze.

Grenzen
© Christian Heidrich

Die erste Grenze, die ich bewusst wahrgenommen habe, war die polnisch-tschechische, die auch über den Gipfel der Schneekoppe im Riesengebirge verläuft. Ich war gut zehn Jahre alt und gewaltig fasziniert von der Vorstellung, dass einige Meter weiter die Menschen eine andere Sprache sprechen und womöglich auch anders leben. Wer denkt sich Grenzen aus, wer hat das Recht, sie festzulegen?

In dieser Zeit konnten unsere Oppelner Nachbarn einen tschechischen Fernsehsender empfangen, der aus Ostrava kam. Das schwarzweiße Bild wackelte und grieselte, die tschechische Sprache war nur in Ansätzen zu verstehen - alle slawische Sprachen ähneln sich irgendwie -, doch waren wir, Kinder, selbstverständlich überzeugt, dass dieser Sender der interessanteste sei.

Die Faszination für Grenzen blieb. Für die deprimierenden, die bis 1989 das sozialistische System vom kapitalistischen trennten, für die heiteren auch, so den Urlauberübergang an den Niagara Falls, wo man ein 50-Cent-Stück einwerfen musste, um das Drehkreuz zwischen den USA und Kanada zu passieren. Grenzen trennen und gliedern und sind immer auch ein bisschen unheimlich: Wird beim Übertritt alles glatt laufen, oder haben sich die Staatsfunktionäre gerade eine neue Schikane ausgedacht?

Dass "Grenzen" auch die Philosophen interessieren, das habe ich selbstverständlich erst später erfahren. Es war wohl Hegel, der festgestellt hat, dass man von einer Grenze nur insofern etwas wissen könne, als man schon darüber hinaus sei. Ein so schlichter wie frappierender Satz.

Es regnete, als ich heute zur Grenze lief. Doch es war nicht schlimm, denn zwischen Braniewo und Gronowo, dem wirklich letzten Weiler vor dem polnisch-russischen Grenzübergang, sind es nur wenige Kilometer. Zudem blieb das Gepäck in Braniewo im Hotel, so dass es fast schon ein Vergnügen war. Aber es ist eine "richtige" Grenze, mit Visapflicht und mit Grenzanlagen, die an die Ost-West-Konfrontation von früher erinnern. Nun, die Konfrontation hat sich nur verschoben.

Heiterer wurde es dann in der Bar "U Jolki", die wohl keine 200 Meter von der Grenze entfernt angesiedelt ist. Pani Jolka hat schon mehrere Minuten Fernsehruhm hinter sich. Wird eine Reportage über die ehemalige Reichsautobahn 1, die von Aachen bis Königsberg und darüberhinaus verlief, gedreht, ist die Barbesitzerin stets als Gesprächspartnerin gefragt. Als ich heute Vormittag eintrete, sitzen zwei russische Männer am Tisch, die eine riesige Portion Rührei mit Schinken essen - ich bestelle das Gleiche, auf ein Viertel reduziert -, und zwei Bierkunden sind auch anwesend. Pani Jolka klagt wie immer über den katastrophalen Umsatz, "denn die Menschen gehen nur noch in die Supermärkte einkaufen". Doch gehört auch hier das Klagen zum Geschäft, und mit ihrem "polnischen Russisch" scheint Pani Jolka durch die Jahre zu kommen.

Menschen an der Grenze.

Am Rande:
Als die Rezeptionistin hört, dass ich schon seit Wochen Polen zu Fuß durchquere, möchte sie wissen, wie ich das Land erfahren habe. Auch da müsste man wohl "darüberhinaus" sein, um eine sinnvolle Antwort zu geben. Aber ja: Polen hat in den letzten Jahren eine riesigen Sprung nach vorne gemacht, die sozialistischen Jahre überwunden. So wohlhabend, so hell erleuchtet wie manches "im Westen" ist es in vielen Bereichen noch nicht - aber auch der Westen ist nicht überall golden.
Die Dame war wohl zufrieden.
Von den sinnlos-aggressiven - manche sagen auch: hasserfüllten - Konfrontationen in der polnischen Innenpolitik, von den regressiven Tendenzen in manchen Teilen der katholischen Kirche, wollte ich an der Hoteltheke nicht sprechen.

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